Was hast du dann getan?
Ich habe mich in einem Straßengraben ins Gras gelegt und habe geschlafen.
Hattest du keine Angst?
Wovor?
Ein Mysterium. Wie jemand Angst haben kann, in den Supermarkt zu gehen, aber sich nicht fürchtet, in einem Straßengraben zu schlafen oder im stürmischen Herbst in einer Bretterbude im Wald. Erklär mir das einer. In der Stadt ging sie außerhalb der Arbeit nirgendwohin. Die meiste Zeit verbrachte sie in der Wohnung. So fing es schon an mit uns: von der Straße in die Wohnung und dann dort bleiben. Essen, Sex, Gespräche, Fernsehen. Wenn man zu zweit ist, kann das genügen. Darius Kopps Abende als Single vergingen vor dem Computer oder vor irgendwelchen Getränken in Gesellschaft von Freunden, aufgelockert durch das eine oder andere populäre kulturelle Event. Nach der ersten Phase amouröser Klausur versuchte Darius Kopp seine Freundin in seine gewohnten Aktivitäten mit einzubinden. Sie kam zwei- oder dreimal mit, dann nicht mehr. Kopp gewöhnte sich auch daran. Wenigstens muss ich mich in Gegenwart meiner Freunde nicht als Ehemann zeigen. Zielscheibe ihrer Häme. Ehemann, Pantoffelheld, da machen sie keinen Unterschied. Offenbar muss das so sein. Jedenfalls bei denen, die ich kenne. Rituale, die anzeigen sollen: die Lage ist nicht ernst. (Es ließ sich nicht vermeiden, dass er sie irgendwann mit ihren Augen zu sehen begann — soweit so etwas möglich ist. Er begann, sie mit ihren Augen zu sehen, und das entfernte ihn etwas von denen, zu denen er vorher so fraglos gehört hatte. Das war, natürlich, etwas schmerzlich. Ich habe es lieber, wenn ich fraglos dazugehören kann. Sein ganzes Leben lang war Darius Kopp zugehörig. Teil einer Gruppe, einer Klasse, eines Wohnheimzimmers, einer Seminargruppe, einer Abteilung, einer Firma. Etwas allein zu machen irritiert mich, macht mich nervös, versetzt mich in Panik, bringt mich in Rage. Der Mensch, der den Kontakt zu seinen Artgenossen verliert, ist verloren. Das habe ich irgendwo gelesen. Oder Flora hat es gelesen. Egal.) Darius Kopps Leben mit dem Beruf und mit seinen Freunden überschnitt sich irgendwann kaum mehr mit dem Leben, das er mit seiner Frau führte. Das war anfangs irritierend, zeitweise wurde er auch etwas nervös, aber in Panik oder gar Rage geriet er deswegen niemals. Dann ist es eben so. Viele leben so. Mein geheimes Reich. Zudem sie ihn an nichts hinderte, das er tun wollte, und da war, wenn er zurückkehrte. Mit etwas Vorbereitung konnte man auch hinaus mit ihr: ins Kino oder essen. Theater/Oper/klassische Konzerte interessieren Kopp nicht. Rockkonzerte und Clubs wären das Letzte gewesen, wo Flora hingegangen wäre. Keine Sportveranstaltungen, kein öffentliches Silvesterfeiern. In Museen bat sie, allein gehen zu dürfen. Schwimmen und ins Museum muss man allein.
Getanzt haben wir relativ oft. Im Wohnzimmer. Ich bin ein dicker Mann, bewege mich nicht gerne in der Öffentlichkeit. Wir tanzten auf dem kleinen leeren Platz zwischen Sofa und Fernseher, ausschließlich langsam. Schiebeblues. Der Duft ihres Halses. Der Duft deines Halses, das Muttermal auf deinem Hals, die Linie deines Kinns, der Haarwuchs auf deinem Nacken, deine Schulter, deine Achselhöhle, deine Brust, dein Bauch, dein Hintern, deine Schenkel, deine Knie, die Spitze deiner Nase, die an meine Wange rührt, deine Lippen. Der Sex war ein köstliches Gericht, drei Stellungen, keine Posen, deine Möse ist eine Frucht von der genau richtigen Reife, nicht zu hart, nicht zu weich, ich bin glücklich jetzt — Plötzlich, aus großer Nähe, ein fremdes Gesicht. Jemand war hinter einer Wegbiegung hervorgetreten. Eine gegerbte Alte mit granatrot gefärbtem, zerzaustem Haar. Kopp blieb erschrocken stehen. Die alte Frau trug ein Top und tarnfarbene Shorts. Diese Knie, diese Haut an den Knien, diese einschneidende Schrittnaht. Kopp drückte sich ins Gestrüpp am Rand des Wegs, den Blick schamhaft gesenkt. Pardon. Hinter der Gegerbten kam eine hübsche Junge in Jeans, sie trug ihre Jacke um die Hüfte. Weiter oben muss es kälter sein. Dennoch haben sie geschwitzt, man riecht es, der Schweiß der Alten, der Schweiß der Jungen und dann noch der Schweiß von zwei Kerlen, die sie dabeihaben — jetzt bin ich endgültig raus. Kopp stand halb im Gestrüpp und sah zu seinen Schuhen. Staub überall, Steine, Staub. Dann waren die Verschwitzten endlich gegangen und auch Kopp ging weiter, den Berg hinauf.
Erst erwartete er hinter jeder uneinsehbaren Stelle neue, die entgegenkamen, aber nachdem über längere Zeit niemand mehr kam, beruhigte er sich. Endlich ist es still. Obwohl, irgendwo gibt es immer eine elektrische Säge, die nicht aufhört zu kreischen, so auch diesmal, dennoch, insgesamt: still. Die eigenen Schritte, die man hört, der eigene Atem. Jetzt ist es eine halbe Stunde lang schön. Sogar ein Bächlein plätschert für uns, und von Bänken aus eröffnen sich Ausblicke. Wer nicht anhalten kann, für den gibt es auch kein Panorama. Also hielt Kopp an, stützte sich auf die Lehne einer Bank und schwitzte. Er war außer Puste. Eine halbe Stunde. Das ist also mein Radius ohne Fahrzeug. Bergan, wohl bemerkt. Sein Kopf war heiß, sein Körper in der zu dünnen Kleidung dagegen fing an auszukühlen. Trinkwasser hatte er auch nicht dabei. Schlecht vorbereitet, mal wieder. Was soll's. Du wirst nicht gleich verdursten. So weit gehen, wie ich kann. (Und wieder zurück?)
Jahrelang lief alles gut. Bequem. Also ideal.
Nicht einmal ihre Nervenkrisen störten?
Nein. Wenn sie dumm gewesen wäre oder gemein, hätte es gestört. Und: man kann auch eine Routine entwickeln, was Zusammenbrüche anbelangt. Eine unbehandelte Depression dauert sechs Monate oder vier Jahre. Die akute Phase nach einem Zusammenbruch, wenn sie daliegt, als wären ihre Beine gebrochen, zwischen drei und vier Wochen. Drei Wochen, sagt man, braucht auch ein nicht-kranker, von Arbeit und Alltag gestresster Mensch, um sich einigermaßen zu erholen. Nicht mit Freuden, aber mit dem Gefühl, es handele sich dabei um etwas Normales, hielt Darius Kopp die ersten drei Wochen im Wald aus. Ein September, wie auch jetzt.
Drei Wochen, bis sie Besuch von der Besitzerin der Datscha bekamen. Gaby. Die Lesbe, die meine Frau liebte.
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[Datei: eckhart]
Meister Eckhart. Der Seelengrund. Gerechtigkeit, Wahrheit, Gutheit.
Und was ist in dir?
Ich traue mich nicht, die Dinge im Grund meiner Seele zu benennen. Wenn ich ihren Namen ausspreche, töten sie mich.
(Nabelschnur, Fäkalien,
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[Datei: bérgyilkos]
Ich WEISS, dass sie mir nicht den Meuchelmörder an den Hals geschickt hat. (Was denkst du, dass du bist? Der türkische Sultan?) Leute kommen ganz von allein zu irrem Verhalten. Aber mein GEFÜHL sagt mir, ihr grund- und bodenloser Hass mir gegenüber ist in der Lage, die Welt so zu arrangieren, dass sich darin immer einer findet, der mich angreift.
Ich respektiere sie und bin ihr dankbar, weil sie den Mann, den ich liebe, zur Welt gebracht und aufgezogen hat Einen Dreck tue ich. Verrecke doch!
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[Datei: Scherbe] (Deutsch im Original.)
wie eine Scherbe
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[Datei: klinika]
3 Tage in der dummen Klinik. Weil ich mir nicht helfen konnte und in Pantoffeln und Top schluchzend draußen in der Kälte herumlief. (Unter irgendwelchen dünnen Bäumen, ich weiß nicht.)
Und wieso? Was ist passiert?
Oh, nichts.
Der alltägliche Supermarkt. Ein gefährliches Gelände, immer. Zum Beispiel gibt es da diese Verkäuferin, eine ehemalige Alkoholikerin, um die musst du einen großen Bogen machen, wenn du sie siehst, sie räumt ein Regal ein. Geh anderswohin, denn wenn du sie bittest, dir Platz zu lassen, weil du etwas aus dem Regal nehmen willst, knurrt sie dich an wie der dreiköpfige Zerberus: Grrrrrrr!
Oh, Fleischverkäuferinnen meiner Kindheit! Die fleischigen Fladen eurer Arme unter die fleischigen Fladen eurer Brüste geschlungen! Gibt es heute Herzleber? Warum sollte es?
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