Lange irren Darius und Oda durch ein dunkles, stilles Dorf, immer höher den Hang hinauf. Als sie an die Landstraße stoßen, auf der sie gekommen sind, kehren sie um. Dahinter ist nur noch der Pinienwald, darin ein Wanderweg zur Spitze des Hügelkamms, aber dafür ist es schon zu dunkel. (Bei Neumond durch einen dunklen Wald, auf einem dunklen Hügelkamm stehen, auf ein dunkles Meer schauen—) Sie kehren um und laufen wieder die Serpentinen, immer zwischen Mauern. Manchmal liegt ein Grundstück tiefer als die Straße, dann kann man ein wenig von den Höfen sehen, aber es bleibt alles Stein. Nachdem sie zum xten Mal auf einen kleinen Platz mit Kastanienbaum und einem kleinen Lebensmittelladen gestoßen sind, erkennt Kopp endlich das ehemalige Kurheim. In einem Ort, in dem jedes Haus eine Ferienwohnung hat, ist es das einzige, das leer steht. Ein Zaun aus Eisenstäben, von innen zusätzlich mit Maschendrahtzaun verengt. Eine Straßenlaterne beleuchtet zu hell eine Pflanze mit großen Blättern im Vordergrund, dahinter zwei Tischtennisplatten aus Beton — Eine Kelle erbeuten! War ich gut darin? Natürlich nicht —, auf dem einen liegen der Ständer und der Ring eines Basketballkorbs, das Netz fehlt. Das ist es, oder?
Ja.
An einer Stelle ist ein Loch im Maschendrahtzaun. Eine Katze kommt heraus.
Man kann hinein, sagt Oda.
Ist es das, wofür ich sie brauche? Um mit mir in mein ehemaliges Kinderheim einzubrechen? Seitdem wir auf der Insel sind, läuft alles fast wortlos. Nur manchmal sagt sie etwas, macht einen kleinen Vorschlag, lass uns da langgehen oder da lang. Man kann hinein. Aber wir werden nicht hineingehen. Wir gehen viel spazieren, lernen Gymnastik, im Sommer baden wir. Wir verhalten uns stets diszipliniert. Die roten Oleander neben dem Eingang sind mir unbekannt.
Sie stehen lange am Zaun, gehen ein wenig hierhin und dorthin, schauen aus allen Richtungen hinein. Hinter ihnen schließt der Lebensmittelladen mit Geschepper: zwei Verkäuferinnen ziehen die Gitter herunter. Die Ausgangszeit ist vorbei, die Türen werden geschlossen, 20 Jungen der 1., 2. und 3. Klasse, im Erdgeschoss und im ersten Stock, gehen zu Bett. Darius Kopp und seine Begleitung bleiben in der Stille am Zaun zurück. Schaust es dir an. Schaust es dir an.
Solange, bis ihr Magen hörbar knurrte.
Wollen wir was essen gehen?
Sie finden einen Laden oben im Ort. Trotzdem seid ihr Touristen. Das Essen ist nicht gut, das Bier schon. Die Stimmung am Hafen ist mittlerweile sakraler geworden. Polyphoner Männergesang tönt herauf. Sie singen vom Meer und von der Liebe, sagt Oda.
Natürlich. Vom Meer und der Liebe.
(Mein Herz ist leer. Wäre ich mit meiner Frau hier, hätten wir Sex dagegen. Aber ich bin nicht mit meiner Frau hier. Ihr junges Gesicht. Du weißt soviel und doch weißt du nichts. Und ich werde es dir nicht verraten. Du würdest mir sowieso nicht glauben.)
Ich gehe dann jetzt zum Kurweg, sagt Kopp.
Sie kommt selbstverständlich mit.
Sie schaffen es, zum Kurweg zu gelangen, ohne am Hafen vorbeizumüssen. Im Rücken des Männerchors — ihre weißen Hemden scheinen herüber — lassen sie sich einen staubigen Abhang hinunter auf die Promenade gleiten. Der Weg ist nicht leer, es gehen sogar ziemlich viele hier, alle flüsternd. Unter Wellenrauschen und Chorgesang flüsternde Gestalten an einem punktuell beleuchteten Uferweg. Die Vorliebe adriatischer Badeorte für Beton. Was nicht Stein ist, ist Beton. An diese Steinigkeit erinnere ich mich. Ein steinerner Torbogen, steinerne Nischen, betonierte Stufen. Weiße Umrisse im Schwarz. Das ist die Badeanstalt.
Mit gesenktem Kopf und klopfendem Herzen hinein. Ab hier weiß Kopp jeden Schritt, findet sich in völliger Dunkelheit zurecht. Um das leere Becken für die Kleinsten herum. Er hat nicht vor, ins Meer zu steigen, dennoch kann er nicht aufhören, sich zur Leiter jenseits des Beckens zu tasten. Das Gluckern und Rauschen eines unsichtbaren Meers . Der Seeigel hat einen kugeligen oder scheibenförmigen Körper mit beweglichen Stacheln. Er frisst Pflanzen und kleine Tiere. Die Seegurke ist mit einer ledrigen Haut überzogen und kann bis zu 2 Meter lang werden. Der Schlangenstern lebt unter Steinen und in Spalten. Ich habe einen Horror vor dem Meer. Vor dem Getier. Das wird Darius Kopp jetzt und hier klar. Der saugenden-drückenden Kraft, die umso viel stärker ist als ein Mensch. Kopf auf Fels, Salz in der Lunge. Dennoch kann Kopp nicht anders, als auf das schwarze Rauschen zuzugehen. Zeitweise ist seine Angst so groß, dass er das Gefühl hat, seine Beine nicht genügend kontrollieren zu können für so einen unsicheren Untergrund. Felshart, trotzdem instabil. Bei den Betonstufen angekommen, die zur Leiter führen, stößt er wiederum gegen etwas Weiches, und das ist noch viel gruseliger. Aber es ist nur ein Pärchen, das auf den Stufen sitzt. War es der Körper des Mannes oder der der Frau, den ich berührt habe?
Pardon, sagt Kopp, dreht um und stößt mit Flora zusammen. Entschuldige. Im Zurückgehen halten sie sich an den Händen, obwohl es so viel schwerer ist, das Gleichgewicht zu halten. Jetzt erst merkt Kopp, dass die gesamte Badeanstalt voll ist mit Leuten. Überall in den Nischen, auf Treppen und den steinernen Liegeflächen sitzen welche, schwarze Schemen, unterhalten sich flüsternd oder küssen sich. Am Rand des Planschbeckens drei kiffende Jugendliche. Die Glut, der Geruch. Erst, als er wieder draußen auf der Promenade ist, wird Kopp klar, dass es Oda ist, die er an der Hand hält, und lässt los.
Hier wäre eine gute Gelegenheit für eine Pause, für etwas touristische Entspanntheit, aber Kopp muss weiter und weiter gehen, den Uferweg bis zum Schluss und von dort wieder den Hang hinauf, bis zu einem grünen Eisenpavillon, der auf einem Kinderspielplatz am Rande des Waldes steht. Er stützt sich in ein leeres Fensterloch des Pavillons, schaut auf die erleuchtete Ortschaft und das schwarze Meer, sein Atem pfeift.
Are you OK?
Ja (ich bin bloß alt), es ist nur die Hitze.
Die Wände des Pavillons sind über und über mit den Namen derer bekritzelt, die hier gewesen sind. Kurkinder, auch heute noch, aber, wie es scheint, hauptsächlich Inländer. Kristina liebt Mihael und jemand liebt Martinna. In einer Gruppe lieben sich scheinbar alle 22. Drei Marijas darunter. Du sollst deinen Namen nicht in die Bank ritzen, kleiner Kommunist. Oda kichert nah bei ihm, er kann ihren Atem riechen. Nach Cola.
Das da ist unser Hotel.
#
[Datei: nem_beszéltek]
Das Kind, mit dem man nicht sprach. Meine Mama hat mit mir geredet. Pausenlos, wenn ich mit ihr sein durfte, sie sprach über alles mit mir. Alles fasste sie in Worte, Äußeres wie Inneres, Essigbaum, Rotkehlchen, x, y, z, Hand in Hand gingen wir auf der Straße und skandierten: zúzmara-hódara-dér . (Raufrost-Schneegries-Reif, Anm. d. Ü.) Wir schwenkten unsere Hände vor der Kaufhalle, im Tanzschritt.
Kommt eine alte Dorfhexe, wir grüßen sie freundlich und gut gelaunt, weil wir gerade guter Laune sind, woraufhin die, aber mit was für einer Fresse, mit was für Zähnen, mit was für einer Stimme etwas sagt, mich kritisiert, vielleicht halte ich den Fuß beim Laufen nach innen, vielleicht nach außen, Hauptsache ist, etwas stimmt nicht mit mir, woraufhin SIE sagt:
Siehst du, meine Kleine, das ist eine alte Dorfhexe. Wir grüßen sie freundlich, und sie spricht schlecht über uns. Sie denkt, sie darf das, aber sie darf es nicht. Wir sind nett, sie ist es nicht. Komm, wir gehen. Und wir gehen, stolz, sie hält mich fest an der Hand, wir biegen ab, erst da fängt sie zu weinen an. Sie weint eine kurze Straße lang, zurückgenommen, leise winselnd, solange, bis wir in unsere eigene Straße einbiegen. Dort blieb sie stehen und sagte: Gut, hier höre ich auf. Merke dir gut, meine Kleine, in deiner eigenen Straße weine nie. Aber natürlich weinte sie auch in ihrer eigenen Straße, oft. Dann kamen wir zu Hause an, sie ließ meine Hand los und verschwand, schloss die Tür unseres gemeinsamen Zimmers hinter sich.
Читать дальше