Oda, deren Nachnamen ich immer noch nicht kenne, fotografiert Darius Kopp an die Reling gelehnt, die nahende Insel im Hintergrund.
Danke, sagt Darius Kopp und dann fotografiert er sie, und was so aussieht, als wäre ich genauso freundlich wie sie oder gar charmant, ist in Wahrheit nur ein Test und eine Absicherung: Lässt sie sich fotografieren? So hat sie ausgesehen. Auch ich kann dazu lächeln, wie die reine Unschuld.
Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?
Sie nennt ihren Namen, und er vergisst ihn in demselben Augenblick.
Sobald sie wieder im Auto sitzen, ist der Spuk vorbei. Sofort sind wir wieder ein Team, das heißt, ab jetzt sind wir eins, Darius Kopp auf dem Fahrersitz, Oda auf dem Sitz des Copiloten, obwohl es eigentlich keinen braucht, es gibt nur eine Straße: 70 km vom Fährhafen zur unteren Inselspitze. 70 km Macchia, Kurven, Hänge, Aussichten aufs Meer. Die Ortschaften nur als Tafeln, die irgendwo ins Dickicht weisen. Warum siedeln Menschen auf Inseln? Vom Festland verdrängt oder freiwillig gegangen. Seine Ruhe haben, vom Fischfang leben. Der Piraterie. Es gibt keine reichen Piraten/Fischer auf der Welt. Wenigstens ist das Klima meistens gut. Ein Ikarus-Bus voller Kurkinder, wer hält wie viele Kurven durch, bevor er erbrechen muss? Ich weiß das noch, aber ich erinnere mich nicht. Ich habe mein in der Beschäftigungszeit angelegtes Kurheft verloren. Der Jugo-Wind kommt aus dem Süden und bringt Regenwolken. Der Bora-Wind kommt aus dem Osten und bringt sonniges Wetter. Wie vollkommen ruhiges Wetter heißt, habe ich vergessen.
Als der lange Hafen von Mali aufscheint — In den Buchten liegen schöne, bunte Boote. Viele schöne Pflanzen wurden von Seefahrern auf die Insel gebracht: Oleander, Pinien, Stechpalmen — sagt Kopp, um es empfinden zu können: Vor genau 31 Jahren war ich zuletzt hier.
Wau, sagt Oda.
(Schau, Flora.)
Später stehen sie an der Drehbrücke an der Hafeneinfahrt und schauen zu, wie ein letztes Mal an diesem Tag Schiffe ein- und ausfahren. Ein Familienvater nackt am Lenker des Familienboots. Ein fetter Mann am Ufer schreit ihm aufgeregt hinterher. Oda lacht.
Er sagt: du Schwuchtel!
Ein Partyschiff kehrt heim. Die Partygäste winken. Oda winkt zurück.
Sie nehmen das erste Hotel am Ortseingang. Die Sonne geht gerade unter. Oda, auf dem Nachbarbalkon, lacht. Warum bist du so glücklich, junges Mädchen? (Warum bist du es nicht? Alter Mann.) Do you remember? ruft Oda herüber.
Was soll ich darauf antworten? Meinst du den Sonnenuntergang?
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[Datei: Mam]
ob sie eine hure war oder nicht, weiß man nicht genau die oma hat so geurteilt, aber für sie war doch eine jede ich natürlich auch
im zug, als mich ein mann fragte, ob der platz im abteil frei sei, habe ich, der wahrheit entsprechend, bejaht 12 jahre alt hur, dreckige, wie schön sie war
ihr kastanienbraunes haar reichte ihr bis zur taille
in ihrem gesicht immer die zeichen von aufgewühltheit
positiv oder negativ, aber immer
eine nacht umarmte sie mich weinend und sagte:
wenn du nicht wärst
mir schwant, als hätte sie, bevor sie endgültig wahnsinnig wurde,
jemand verlassen
ging los, weinend, maschierte
das ganze wochenende durch wald und wiesen
ich lief ihr hinterher, bis zum ende der straße ließ sie es zu, dann
jagte sie mich zurück wie man hunde verjagt:
geh nach hause! geh!
Als sie über die schienen ging, blieb ich zurück.
Sie hat mich oft bei den großeltern gelassen, dennoch wusste ich:
sie liebt mich, während die hier weder sie noch mich
hältst du es für möglich, dass jemand zu keinerlei liebe fähig ist?
Wir müssen das für möglich halten.
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[Datei: képzeld_el]
Stell dir vor, dass sie in der woche mal gut sind, mal schlecht,
aber am wochenende, wenn du» nach hause «kommst,
nur noch schlecht, auch wenn sie nicht schlecht sind
weil sie sich für 2 Tage zusammenreißen können,
sie tun nichts benennbares
im grunde reden sie nicht mit dir
sie geben dir was zu essen, immerhin
aber als ob mit absicht nichts gutes
als ob sie am donnerstag den schnitzeltag abhalten, weil es sich am
freitag nicht gehört und am wochenende ist das kind da
ich traute mich nicht mehr darum zu bitten, die mama zu besuchen
ich hätte gerne die mama besucht
sie will dich nicht sehen und ich will sie nicht sehen
sie wollte ihr eigenes kind nicht sehen
das wahnsinnig geworden ist
dass ich eine irre erzogen hätte?
ich werde bestimmt nicht noch eine irre erziehen
alkoholiker kannst du sein, gewalttätig kannst du sein
sensibel darfst du nicht sein
wer sensibel ist, soll krepieren
wozu lebt so eine
jeden sonntagabend so müde
als erste wieder zurück
im leeren schlafsaal das war gut
allein im dunkeln eine halbe stunde
bis jemand mürrisches kam und das licht anmachte
dass nie einer mal nett sein konnte
in die stadt hinaus durfte man nicht
ich stand am fenster
ständig wurde es früh dunkel
warum wurde es immer früh dunkel
das leben der erwachsenen ist genau so, wie es von außen ausgesehen hat
schlepperei im nieselregen
die frauen schleppen mehr und öfter als die Männer
verachtungswürdige kreaturen
Ja, ich weiß von zahlreichen Sonnenuntergängen in meinem Leben, einige davon am Meer. So, wie ich auch von diesem Ort hier weiß, dass er existiert. Aber ich habe noch nicht eine einzige Sache wirklich wiedererkannt. Keine einzige. Wie ist das möglich?
Im Süden kommt die Nacht schnell, bis sie es auf die Straße geschafft haben, sehen sie alles nur mehr im Lampenschein. Dafür ist mit einem Mal alles voller Menschen. In deiner Erwartung ist der Ort deiner Kindheit nie mit Touristen voll. Gewusel bei der Ankunft kann anregend sein, wenn du das erste Mal hier bist. Oder wenn du schon einmal hier warst und nun das eine oder andere wiedererkennst. Aber wenn du schon dreimal hier warst und nichts, absolut nichts wiedererkennst, dann ist das — Gut, dass du bei mir bist. Danke, dass du mitgekommen bist. Wenn ich dich nicht direkt ansehe, nur so aus dem Augenwinkel, nur mit dem Körper registriere, da geht jemand neben mir, kleiner als ich, eine Frau, ist das etwas Vertrautes.
Dicke Steinmauern strahlen die während des Tages gesammelte Hitze ab. Dass es hier so warm sein kann, war mir ebenfalls nicht bekannt. Luftkuren macht man nicht im Sommer. In den kalten Jahreszeiten schützen die dicken Steinmauern vor der Bora.
Wie in der Hölle, ich sag's dir! Eine deutsche Stimme dicht neben Darius Kopps Ohr, während er gerade dabei gewesen wäre, eine Hand an eine Mauer zu legen, um die Wärme darin zu spüren. Er zieht die Hand weg. Ich habe etwas gehört, das ich verstanden habe, also bin ich sichtbar und kann nicht mehr unbefangen handeln. Oda dagegen versteht kein Deutsch, sie legt die Hand an den Stein.
Erinnerst du dich, wie im Sommer immer der Straßenteer schmilzt? Ich hatte als Kind immer Teerflecke an den Füßen und dann bin ich in Staub getreten, damit es nicht so klebt, aber man hat mich trotzdem nicht in den Eisladen gelassen, do you remember?
(Ob ich mich erinnere, dass du?) Aber er lächelt und nickt.
Jugendliche, die von einer Klippe ins Hafenbecken springen. Man sieht sie kaum mehr, man hört sie nur schreien —»Ma-rija! Ma-ri-ja!«— und dann das Platschen, wenn sie im Wasser aufkommen. Am Anfang der Mole steht eine Kirche, am Ende ein roter Leuchtturm. Das endlich erkennt Kopp wieder. Weil es Fotos davon gibt. Es gibt ein Foto davon. Unsere Gruppe um den Sockel drapiert, ich in der Mitte, die Arme an den Körper gepresst. Vom Leuchtturm aus führt der Kurweg zum alten Hafen. Der hier ist der neue. Sechssprachige Kellner richten die Tische fürs Abendessen und die Souvenirläden verkaufen noch bis Mitternacht Töpferwaren, Seife und Plastik. Geben Sie Ihrem Kind 6 Mark Taschengeld für Souvenirkäufe mit. Ein Minileuchtturm für die Daheimgebliebenen, wenn's gut läuft. Eine Schneekugel, wenn nicht. Vom Platz am neuen Hafen führen drei Straßen in den Ort hinauf, Kopp weiß nicht, welche die richtige ist, er nimmt die nächstbeste. Der Weg ist steil, die Steinplatten sehen glatt und glänzend aus wie Eis. Sobald sie den Platz verlassen haben, bewegt er sich wieder durchs Unbekannte. Mauern überall, winzige Fenster, alle über Kopfhöhe. Wehrhaft verschlossene Häuser, die winzigen Höfe liegen nach innen, nur die Pflanzen wachsen über die Mauer heraus. Oleander, Bougainvillea, Olive. Viele schöne Pflanzen wurden durch Seefahrer auf die Insel gebracht. Einmal ist ein Fenster niedrig genug und steht sogar offen: ein Badezimmer: ein hängendes Trockengestell und ein Boiler. Hinter der Tür daneben knurrt ein Hund.
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