Mama, ich habe geträumt, du warst eine schöne, blonde Schauspielerin. Du spieltest in einem Theater in der Provinz, aber da warst du die Erste. Es war wegen deiner Karriere, dass wir nicht zusammen sein konnten. Aber du freutest dich jedes Mal sehr, wenn ich dich besuchen kam, und ich freute mich auch. Ich war stolz auf dich und war erleichtert, dass es dir gut geht.
Ich habe geträumt, mein Vater ist Architekt. Er hat schöne blaue und grüne Majolika-Statuen in einem großen Park aufgestellt.
Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Ich würde nicht empfehlen, sie auf den Kamin zu stellen. Das ist nicht gut für den Menschen.
Der Bestatter war ein feiner älterer Herr mit gutem Deutsch. Auf der Schulter seines Anzugs lagen Schuppen. Durch das halb geöffnete Fenster das überlaute Rumpeln der Straßenbahn, als führe sie direkt hier, zwischen Schreibtisch und Sitzecke. Es ist laut, hier bei euch. Hinter den halb heruntergelassenen Jalousien die Sonne, es ist auch hell bei euch, wo viel Sonne, dort viel Schatten, vom Büro war kaum etwas zu sehen, vom Bestatter war kaum etwas zu sehen, der Lichteinfall war so, dass ausgerechnet seine Schulter am hellsten war. Abgebügelter Anzug, Schuppen. Ich mag ihn. Ja, sagte Darius Kopp. Das weiß ich. 10 000 Euro. In bar. Im Voraus. Können Sie das? Natürlich, sagte Darius Kopp, und es wurde ihm etwas schlecht.
(An der Summe siehst du, wie krumm eine Sache ist. Beerdigungen sind immer teuer. Aber nicht so.)
Stand eine Weile betäubt auf der Straße vor der Kanzlei, die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Ein Suchscheinwerfer, der mich sucht. Der Verkehr, der rollt und rollt. In den Seitenstraßen ist es dagegen fast ganz still. Ich glaube, es ist schön hier. ioojährige Budaer Villen. Manche neureich poliert, andere halb verfallen. Manche denken dabei (etwas wehmütig) an den vergangenen Glanz eines alten Bürgertums, ich denke (mit dem leichten Schatten einer alten Angst) an den vergangenen Glanz sozialistischen Bonzentums. So geht das. Wie gut, dass man regelmäßig Hunger bekommt. So weiß man wenigstens, was man als Nächstes tun kann. In typisch aussehende Eckgaststätten traute sich Kopp nicht. Er lief so lange weiter, bis er in einem kleinen Park eine neuzeitliche Pizzeria fand.
Pizza Calabrese ist kein geschützter Name, meistens fehlen die Sardellen, so auch hier, aber sie bestellt und bekommen zu haben macht es möglich, den nächsten unausweichlichen Anruf tätigen zu können.
Mahlzeit, sagte Darius Kopp zu seinem Freund Juri, als wäre es noch wie früher. Mahlzeit, sagte Kopp, und dann, was noch gesagt werden musste, tut mir leid etc. Kannst du mir 10 000 Euro nach Budapest schicken?
Ob ich dir 10 000 Euro nach Budapest schicken kann?
Ja. Ich habe eine Lösung. Ich brauche das Geld für die Beerdigung der Urne. Aber ich brauche es in bar.
Verstehe.
Pause.
Du bekommst es wieder. Davon gehe ich aus. Wann? So schnell wie möglich.
Die Wohnung ist übrigens fertig. Die Rechnung beläuft sich auf 12 000.
Ich komme, sobald ich fertig bin, sagte Darius Kopp und legte nicht zu schnell und nicht zu langsam auf.
Du bist die Liebe meines Lebens, sagte Darius Kopp zu seiner Frau.
Sie standen am Rande einer Geburtstagsfeier. Du bist die Liebe meines Lebens. Und, ach ja, ich bin gefeuert worden.
Der einzige Mann auf dem Kontinent. Sales engineer Darius Kopp. Seit 2 Jahren mutterseelenallein in einem 12 qm großen Arbeitskabuff in der ersten Etage eines sogenannten Businesscenters. Von dort aus versuchte er, technisch gute, aber für den Markt, den er bedienen sollte — deutschsprachige Länder und Osteuropa — zu teure Geräte für die drahtlose Netzwerkkommunikation an Wiederverkäufer und Kunden zu bringen, die er größtenteils nur als Telefonstimmen kannte. Sein direkter Vorgesetzter, ein Mensch namens Anthony Mills, saß in London. Sie hatten sich genau einmal persönlich getroffen. Seitdem redeten sie nur noch das Nötigste. Einmal im Monat, im Zusammenhang mit dem von Kopp abzuliefernden forecast, einer klassischen Sammlung Kinder- und Hausmärchen darüber, was er in den bevorstehenden 4 Wochen an wen zu verkaufen gedachte. In Wahrheit seit geraumer Zeit nichts an niemanden, und wenn, dann lieferte die Firma mit großer Verspätung oder gar nicht. Im letzten halben Jahr war Kopp froh, wenn man ihn nicht anrief, aber umgekehrt wäre er noch froher gewesen, wenn seine Anrufe bei der Firma bestätigt hätten, dass da jemand war, mit dem es sich lohnte, etwas über Gegenwart und Zukunft zu bereden. Aber sie bestätigten es nicht. Im Grunde wusste ich seit einem halben Jahr, dass es gelaufen war. Wenn man bei einer Firma Tage lang niemanden erreichen kann, dann gibt es uns im Grunde überhaupt nicht mehr. Du weißt das, dennoch trifft es dich unerwartet und hart:
Was machst du gerade? Fährst du Auto? Kannst du anhalten? Please? … Um es kurz zu machen… I am sorry.
Verstehe, sagte Darius Kopp. Seine Stimme zitterte, das ärgerte ihn. Dass dich dein Körper immer verrät. Wenige Minuten später allerdings verspürte er nur mehr eine große Ruhe. Haben wir das also auch hinter uns. Er wartete, bis eine Lücke im dichten Verkehr entstand, fädelte ein, wechselte die Spur, wendete und fuhr zu Flora.
Sie hatte ihren Job in der gerade aktuellen Strandbar 2 Tage zuvor verloren. (Was schleppst du dich so? Was gehen mich deine Schmerzen an? Nimm was ein. Was sollen die Gäste denken. Wieso rennst du schon wieder auf die Toilette? Frauen. Was treibst du da, eine halbe Stunde lang? Zwischen Durchfall, Blut, Erbrochenem, Speichel, eigroßen Flatschen fingerdicker Gebärmutterschleimhaut? Schenkel, Schamhaar, Schlüpfer, Klopapier, Klobrille, Mülleimer, Fußboden, Binden, Tampons, Papierhandtücher, Obszönitäten? Wenn du jetzt nach Hause gehst, brauchst gar nicht mehr wiederzukommen, und wer Mitgefühl für dich zeigt, kann gleich mitgehen, was denkt ihr, dass ihr seid, denkt ihr, hier kann jeder machen, was er will, und dass du für heute Geld bekommst, kannst du…)
Wieder beide gleichzeitig. Der running Gag, sagte Darius Kopp. Ich lach mich tot.
…
Und du? fragte Kopp. Wie geht es dir?
OK, sagte Flora endlich, etwas zu langsam. Es sah so aus, als wollte sie eine Hand heben, um ihn zu berühren, aber es gelang nicht. Die Arme baumelten. Dafür versuchte sie, etwas mehr zu lächeln.
Keine Schmerzen?
Sie schüttelte den Kopf.
Komm, sagte er.
Wohin?
Seit ihrem Rauswurf erholte sich Flora im Wochenendhaus einer sogenannten Freundin. Eine Verehrerin meiner Frau. So ist es korrekt. Ihr Name ist Gaby. Darius Kopp hat Gründe, sie nicht zu mögen. Eifersucht ist nur einer davon. Aber das ist jetzt egal. Sie sagte, sie könne noch nicht wieder in die Stadt fahren, und da es für Darius Kopp im Moment auch keinen Ort gab, der sinnvoll gewesen wäre, blieb auch er im Haus am Waldrand. Obwohl ich dieses Ruhen-Wollen am sogenannten Busen der sogenannten Natur niemals verstehen werde. Es macht mich nervös. Die Tiere, die Pflanzen, die Abwesenheit von Verkehr und gewohntem technischem Standard. Egal, jetzt. Deine Frau will bleiben, also bleibe bei ihr. Die nächsten zwei Wochen lagen sie in zwei Liegestühlen nebeneinander und sahen zu, wie der Garten in die Binsen ging. Das Ende eines übertrockenen Sommers. Jeden ihrer arbeitsfreien Tage hatte Flora damit verbracht, Wasser mit Gießkannen in die mit dem Gartenschlauch schwer erreichbaren Ecken zu schleppen, nur um noch ein bisschen letztes Grün zu konservieren. Fürs Blatt reichte es noch, für die Frucht nicht mehr. Vorbei, auch das. Im Herbst geht alles ein, so ist es eben. Ab und zu stand Darius Kopp auf, um nachzusehen, ob es etwas zu essen im Haus gab. Wenn ja, bereitete er es für sie beide zu, wenn nicht, fuhr er in den Ort. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt gab es Handyempfang. Die ersten paar Male saß er mit klopfendem Herzen im Fahrersitz, bevor er nachsah, was es Neues gab. Gegen Ende der ersten Woche begriff er, dass es zwar Nachrichten aller Art gab, dass weiterhin auch Newsletter verschickt wurden, aber nichts davon ihn betraf. So, wie er früher das Gefühl hatte, jede Nachricht dieser Welt hätte etwas mit seiner persönlichen Gegenwart und Zukunft zu tun, schien seit der Kündigung alles abgekoppelt zu sein von seiner eigenen Situation. E-Mails, die direkt an ihn gerichtet waren, bekam er keine.
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