Oft war es so, dass er am Beginn eines Projektes nicht wusste, was ihn vorantrieb, so als hätten seine Gedanken ein von ihm unabhängiges Leben und ihren eigenen Willen und warteten nur darauf, von ihm endlich gedacht zu werden, als existiere eine Untersuchung, die er erst anstellen würde, bereits, bevor er sie machte, und als sei auch der Weg quer durch das, was er wusste, sah, was ihm begegnete oder zustieß, in Wahrheit immer schon da, um von ihm, war er nur endlich soweit, begangen zu werden. Und wahrscheinlich war es auch so, weil man doch immer nur finden konnte, was schon da war. Weil alles immer schon da ist. Am Nachmittag harkt er zum ersten Mal Laub. Am Abend heißt es in den Nachrichten, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis für die unhaltbare Lage der Flüchtlinge am Oranienplatz eine Lösung gefunden sei. Richard hat ähnliche Sätze schon oft gehört, in Bezug auf alle möglichen unhaltbaren Lagen. Auch, dass das Laub wieder zu Erde wird, oder dass der Ertrunkene entweder irgendwo angeschwemmt wird oder sich im See auflöst, ist im Prinzip nur eine Frage der Zeit. Aber was heißt das? Er weiß noch nicht einmal, ob die Zeit dazu da ist, verschiedene Schichten und Wege übereinanderzulegen oder um sie, genau im Gegenteil, voneinander zu trennen, aber vielleicht weiß es der Nachrichtensprecher. Richard ärgert sich, ohne dass er sagen könnte, warum. Später, als er schon im Bett liegt, erinnert er sich an den Satz der knochigen Frau: Wenn das Nichtstun zu schlimm wird, organisieren wir eine Demo. Und plötzlich weiß er, warum er heute zwei Stunden auf dem Oranienplatz gesessen hat. Er hat es schon gewusst, als er im August von den Hungerstreikenden hörte, die ihre Namen nicht nennen wollten, und hat es auch gewusst, als er gestern den schwarzen Schulhof betrat, aber erst jetzt, in diesem Moment, weiß er es wirklich. Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will. Neben ihm, auf der zugedeckten Hälfte des Bettes, dort, wo früher seine Frau immer schlief, liegen ein paar von seinen Pullovern, Hosen und Hemden, die er in den letzten Tagen getragen und noch nicht weggeräumt hat.
Die nächsten zwei Wochen verwendet Richard darauf, einige Bücher zum Thema zu lesen und einen Fragenkatalog für die Gespräche, die er mit den Flüchtlingen führen will, zu entwerfen. Nach dem Frühstück geht er an die Arbeit, um 1 Uhr isst er zu Mittag, schläft eine Stunde, danach setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch oder liest bis abends um acht oder neun. Es ist wichtig, dass er die richtigen Fragen stellt. Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht.
Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zugigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte — und was jetzt ist. Dort, wo das eine Leben eines Menschen an das andere Leben desselben Menschen grenzt, muss doch der Übergang sichtbar werden, der, wenn man genau hinschaut, selbst eigentlich nichts ist.
Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören Sie an? Wie viele Menschen gehörten zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Gab es einen Fernseher? Wo schliefen Sie? Was gab es zu essen? Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Haben Sie eine Schule besucht? Was für Kleidung trugen Sie? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Haben Sie selbst Familie? Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Mit welchem Ziel sind Sie aufgebrochen? Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich? Wenn Sie Kinder hätten, die hier aufwachsen, was würden Sie ihnen von der Heimat erzählen? Können Sie sich vorstellen, dass Sie hier alt werden? Wo soll man Sie begraben?
An einem der Tage, die Richard am Schreibtisch und in seinem Lesesessel verbringt, werden die Zelte und Behausungen auf dem Oranienplatz niedergerissen und die Flüchtlinge auf verschiedene karitative Einrichtungen in der Stadt und am Stadtrand verteilt, die sich nun, da die Temperatur nachts manchmal schon unter zehn Grad fällt, bereit erklärt haben, die Flüchtlinge aufzunehmen. Richard erfährt davon nichts, denn er beschäftigt sich an diesem Tag gerade mit der Landnahme an der Südwestküste Afrikas durch den Händler Lüderitz. Herr von Lüderitz hatte sich nach seinem ersten Bankrott in Mexiko günstig verheiratet, sich sodann mit dem Sohn eines Mannes, der an der Westküste Afrikas missionierte, ins Benehmen gesetzt und auf dessen Hinweise hin zwei Stücke Land gekauft. Eines zu 100 Pfund in Gold und 200 Gewehren, das zweite zu 500 Pfund und 60 Gewehren. Im Quadrat gerechnet die deutschen Meilen, die länger sind als die englischen, nach denen der eingeborene Häuptling maß. Schön wäre es doch, einen Gürtel zu schaffen bis hinüber zum Indischen Ozean. Das Deutsche Reich will den Gartenzaun dessen von Lüderitz zunächst nicht schützen, erst als die Briten, weil sie sehen, dass es so einfach geht, auch ein paar Häfen besetzen, schickt Bismarck zwei schlachttaugliche Schiffe. Von da an heißen die Ländereien des Kaufmanns Lüderitz Kolonie und werden von Staats wegen verteidigt. Noch beim Abendbrot schüttelt Richard den Kopf über diese Vorgehensweise der Deutschen. Ist das Kopfschütteln auch ein Zeichen? Aber für wen, wenn niemand außer ihm da ist? Sitzt auf einem Stein und wackelt mit dem Kopfe. Morgen wird er zum ersten Mal mit seinem Fragenkatalog zu den Flüchtlingen gehen.
Am nächsten Tag kommt er eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie auf dem abgesperrten und von Polizei umstellten Platz die letzten Bretter, Planen, Matratzen und Pappen von einem Bagger zusammengeschoben, auf LKWs verladen und fortgeschafft werden. Nur auf einem Baum hockt noch eine afrikanische Frau, die sich offenbar weigert, den Platz zu verlassen, aber weder das Räumkommando noch die Polizei kümmern sich um den Baum oder die Frau. Sonst ist keiner von den Flüchtlingen mehr zu sehen. Dort, wo die Erde durch den Abriss der Zelte und Hütten nun wieder sichtbar geworden ist, liegt das Tunnelsystem der Ratten offen zutage, die, wie es scheint, von den nur mangelhaft geschützten Vorräten der Flüchtlinge profitiert haben. Richard denkt an Rzeszów. Einer der Polizisten erklärt ihm, die Flüchtlinge hätten selbst beim Abriss der Hütten geholfen, das sei Teil der Vereinbarung mit dem Berliner Senat. Was für eine Vereinbarung denn? Das kann der Polizist ihm leider nicht sagen. Und wo sind die Flüchtlinge jetzt? Auf drei Einrichtungen verteilt. Ach, eine in der Vorstadt, bei Richard gleich in der Nähe, er weiß schon, er kennt das rote Ziegelgebäude mit den staubigen Scheiben, das zum Altersheim gehört und seit bald zwei Jahren leersteht.
Auf dem Heimweg warnt in der S-Bahn die automatische Stimme Station für Station vor dem Spalt zwischen Wagen und Bahnsteig, wie immer, und wie immer denkt Richard, das machen sie nicht aus Sorge, sondern nur, damit die Versicherung zahlt, wenn tatsächlich einer verunglückt.
Im Altersheim also sind die Afrikaner jetzt untergebracht.
Warum auch nicht, wenn da ein Gebäude leersteht.
Er steigt aus der S-Bahn aus und geht nach Hause.
Am nächsten Tag, im Anglerverein feiert man lautstark die deutsche Einheit, macht Richard die Pappkartons aus dem Institut, die noch immer verschlossen bei ihm im Keller stehen, endlich auf und beginnt mit dem Einsortieren der Bücher. Er braucht dafür auch noch den nächsten Tag und den übernächsten. Am Wochenende schneidet er die Kartons in Stücke und legt schließlich am Abend des Geburtstages unserer Republik, dem ehemaligen Feiertag im Oktober, die Pappen, schön flach übereinandergestapelt, in die blaue Tonne für den Papiermüll. Am Montag fährt er einkaufen und kommt wieder zurück in sein Haus. Seit Jahren hat er sich bei jedem Vorbeifahren an diesem Altersheim gefragt, ob das wohl der Ort ist, an dem er seinen Lebensabend , wie man so sagt, verbringen wird. Das Wort Lebensnacht gibt es nicht. Weil für den Salat im Gemüsefach kein Platz mehr ist, legt er ihn auf den kühlen Fliesenboden im Vorraum.
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