Richard steigt die Treppe hinab, die er vor lauter Rauch kaum sehen kann, geht an der hell erleuchteten, aber leeren Herrentoilette vorbei weiter nach unten. Würde er nicht so langsam gehen, um die Stufen nicht zu verfehlen, könnte man sagen: er flieht.
Es ist schön, wenn es im Herbst nach Laub riecht. Feuchtem Laub, das sich in die Erde hineindrückt und an den Schuhsohlen kleben bleibt. Das Gartentor aufschließen, die dunkle Luft tief einatmen, so macht Richard es seit zwanzig Jahren, wenn er spät am Abend nach Hause kommt. Zwanzig Jahre lang war schon Herbst in diesem Garten, hat es so gerochen, hat er so das Gartentor aufgeschlossen und hinter sich wieder zugeschlossen. Die Zeit ist hier wie ein großes Land, in das man Jahreszeit für Jahreszeit wieder heimkehren kann. Hier kennt er sich aus. Er hat nicht, wie etliche Nachbarn, zwischen den Bäumen einen Bewegungsmelder montiert, um Licht zu haben, wenn er zwischen den Baumstämmen zu seinem Haus hingeht. Manchmal scheint der Mond, aber es stört ihn auch nicht, wenn es, wie heute, stockfinster ist, dann gehören seine Schritte dem Wald mehr als ihm selbst, und an die Stelle des Sehens tritt Wachheit. Die Dunkelheit, selbst die gezähmte Dunkelheit eines Gartens, macht für einen Moment lang aus einem Menschen wie ihm ein verwundbares Tier. Dann fällt ihm wieder der Mann ein, der auch jetzt, leise schaukelnd, irgendwo da unten im See schwebt.
Ist er feige gewesen, eben, in Kreuzberg? Wahrscheinlich. Hier im Garten schien ihm immer, es sei gerade der Anflug von Angst, der ihn mit dem Ort enger verbindet. Hier im Garten hat er nie Angst gehabt vor der Angst. In der Stadt ist es anders. Seine Freunde machen sich über ihn lustig, weil er sich immer noch weigert, mit dem Auto ins Zentrum zu fahren. Aber seit die Mauer weg ist, kennt er sich dort nicht mehr aus. Seit die Mauer weg ist, ist die Stadt doppelt so groß und hat sich so sehr verändert, dass er jetzt oft nicht einmal weiß, an welcher Kreuzung er steht. Er hat die Bombenlücken gekannt, mit Schutt und später dann ohne. Noch später stand dann vielleicht eine Wurstbude da oder ein Tannenbaumhandel, oft auch einfach nur nichts. Aber in den letzten Jahren wurden die Lücken wieder mit Häusern gefüllt, die stumpfen Ecken wieder bebaut, die Brandmauern sind nun nicht mehr zu sehen. Vor dem Mauerbau noch hat er als Kind am Westberliner Bahnhof Gesundbrunnen selbstgesammelte Blaubeeren verkauft, für seinen ersten eigenen Lackball. Lackbälle gab es nur im Westen. Als er den Bahnhof nach dem Mauerfall dann zum ersten Mal wieder sah, waren die nach Osten führenden Gleise von hohem Gras überwuchert, auf den Bahnsteigen standen Birken und wehten im Wind. Wäre er Stadtplaner gewesen, er hätte das so gelassen. Als Erinnerung an die geteilte Stadt, auch als Zeichen der Vergänglichkeit all dessen, was Menschen bauen, vielleicht aber einfach nur, weil ein Birkenwäldchen auf einem Bahnsteig schön ist.
Richard nimmt sich ein Glas Whiskey und schaltet den Fernseher ein. Es gibt mehrere Talkshows, einen alten Western, Nachrichtensendungen, einen Film, der auf einer Alm spielt, Tierfilme, Quizshows, Actionfilme, Science Fiction, Krimis. Er lässt den Fernseher laufen, aber ohne Ton, und geht zu seinem Schreibtisch hinüber. Während in seinem Rücken eine Kriminalkommissarin an einer Kellertür rüttelt, schaut er ein paar Papiere durch, die auf seinem Schreibtisch liegen, Versicherungen, Telefonverträge, die Rechnung der Autowerkstatt. Er hat seinen Namen nicht sagen wollen auf der Versammlung eben, aber warum eigentlich nicht? Eine Versammlung, auf der 70 Menschen sich einander Mensch für Mensch vorstellen — das erscheint ihm wirklich absurd. Noch jetzt an seinem Schreibtisch schüttelt er den Kopf darüber, während die Kriminalkommissarin in seinem Rücken mit einer Halbwüchsigen spricht, die in einer Ecke auf dem Fußboden hockt und weint. Die Namensnennung wäre, so ist es ihm vorgekommen, ein Bekenntnis gewesen, mindestens ein Bekenntnis dazu, dort anwesend zu sein. Aber was geht es die Leute an, dass er da ist. Er will niemandem helfen, er wohnt nicht in der Nähe der Schule, und er ist auch nicht vom Senat. Er will einfach nur sehen, und beim Sehen in Ruhe gelassen werden. Er gehört zu keiner Gruppe, sein Interesse gehört ihm ganz allein, es ist sein Privateigentum und, sozusagen, ganz kalt. Und wenn es nicht, sein ganzes Berufsleben über, so kalt gewesen wäre, hätte er nicht so viel verstanden. Wahrscheinlich hatte der Versuch zu erfahren, wer in der Aula anwesend war, mit dem Kriegszustand zu tun, in dem sich die Schule befand. Aber was sagt schon ein Name? Wer lügen will, kann immer lügen. Viel mehr muss man wissen als nur den Namen, sonst hat das alles ja gar keinen Sinn. Richard steht auf, geht hinüber zum Sofa und setzt sich mit dem letzten Schluck Whiskey noch einen Moment vor den stummen Fernseher. Ein junger Mann hält einen Älteren gerade beim Kragen und drückt ihn gegen eine Wand, die beiden schreien sich an, dann lässt der junge Mann wieder los, der andere geht, der junge Mann brüllt ihm noch etwas hinterher. Schnitt. Das Büro der Kommissarin. Glaswände, Rollos, Kaffeetassen, Papiere, und so weiter.
Zum Frühstück Earl Grey. Mit Milch und Zucker. Dazu ein Brot mit Honig und eins mit Käse. Bachs Goldberg-Variationen im Radio. Eine Vorlesung hat Richard gehalten vor Jahren: Über Sprache als Zeichensystem. Wörter als Zeichen für Dinge. Sprache als Haut. Und dabei blieben Wörter doch immer nur Wörter. Waren nie das Ding selbst. Viel mehr musste man wissen als nur den Namen, sonst hatte das alles ja gar keinen Sinn. Wodurch wird eine Oberfläche zur Oberfläche? Was trennt sie von dem, was unter ihr liegt, und was von der Luft? Als Kind hatte er die Haut auf der heißen Milch herumgeschoben, diese Haut, vor der es ihn ekelte, und die doch kurz zuvor selbst noch Milch gewesen war. Woraus ist ein Name gemacht? Aus Klang? Oder nicht einmal, wenn er nur geschrieben steht. Vielleicht hört er deswegen so gern Bach, weil es bei Bach keine Oberfläche gibt, sondern viele Erzählungen, die sich überkreuzen. Sich überkreuzen, sich überkreuzen — in jedem Moment, und aus all diesen Kreuzungen ist das Ding gemacht, das bei Bach Musik heißt. Jeder Moment wie ein Schnitt durch ein Stück Fleisch, ein Schnitt durch das Ding selbst. Dieses Jahr wird er sich wieder eine Karte für das Weihnachtsoratorium im Dom reservieren. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau. Er räumt seinen Teller ab, schüttet die Krümel in den Mülleimer. Dann nimmt er den Mantel, fährt in die braunen Schuhe, die am bequemsten sind, never brown in town , heißt es, aber das ist ihm egal. Wenn man im Galopp vom Pferd fällt, sofort aufsteigen und weiter, heißt es, sonst fährt einem die Angst für immer in die Knochen. Angst hat er gestern gehabt in der besetzten Schule. Also Herd aus, Licht aus, Schlüssel und Monatskarte.
Immerhin, bei Tage auf den Oranienplatz zu gehen, ist leichter als so ein nächtlicher Besuch in einer von allen guten Geistern verlassenen Schule. Kurz nach dem Mauerfall war Richard mit seiner Frau zusammen zum ersten Mal nach Kreuzberg gekommen. Sie hatten damals an jedem Sonntag einen Spaziergang durch einen der westlichen Stadtbezirke gemacht. Am Vorabend lasen sie im Stadtführer und am Sonntagvormittag spazierten sie. Hugenottische Flüchtlinge waren die ursprünglichen Siedler in den Straßen rings um den Oranienplatz gewesen, als hier noch Vorstadt war, viele Gärtner angeblich. Und Lenné hatte dann im vorletzten Jahrhundert den Platz geplant, da gab es hier noch einen Kanal, der Platz war ein Ufer gewesen, und das, was jetzt Straße ist, eine Brücke. Später zeigte Richard auch seiner Geliebten den Platz und erklärte ihr, wer Lenné war, einen guten Buchladen gab es gleich um die Ecke, ein Programmkino und ein schönes Café.
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