Querulanten, die sich zusammengerottet haben, nur um Ärger zu machen, sagt die Politik in Berlin. Die Politik sagt auch: Ausnahmen gibt’s nicht. Sagt: Bloß keinen Präzedenzfall — sonst sitzen drei Tage später schon die nächsten 200 Figuren da auf dem Platz.
Alle vier Jahre wird der Bürgermeister gewählt in Berlin.
Aber wir wollen doch hier keine Lösung für uns allein, sagt Raschid, sondern für sämtliche Flüchtlinge in Europa. Deswegen hieß unser Camp auf dem Platz ja Protestcamp . Das Gesetz kann so, wie es ist, nicht bleiben.
Aber da reißt nun das Gesetz sein Maul weit, weit auf und lacht, ohne beim Lachen einen Laut von sich zu geben.
Nachdem es lange genug sein unheimliches Lachen gelacht hat, also nach reiflicher Prüfung aller Möglichkeiten, spricht das eherne, deutsche Gesetz:
Der einzige stichhaltige Grund für die Verlegung eines Falles in ein anderes Bundesland, also zum Beispiel Berlin, sei die Zusammenführung einer Familie.
Eine Familie aber hat ja hier leider kein einziger von diesen Männern, du liebes, schönes Gesetz. Nur ein paar Freunde.
Freunde sind aber nun einmal keine Familie, antwortet das Gesetz und beginnt, mit den Zähnen zu mahlen.
Liebes Gesetz, was hast du vor? Was soll werden?
Was schon.
Das Gesetz frisst heute zum Abendbrot Hand, Knie, Nase, Mund, Füße, Augen, Gehirn, Rippen, Herz oder Zähne. Egal.
Detlef und Sylvia werden das Weihnachtsfest mit dem Sohn von Detlef bei Marion, dessen Mutter, und deren jetzigem Mann in Potsdam verbringen. Alle zusammen wollt ihr unter dem Weihnachtsbaum sitzen? fragt Richard. Die erste Frau und die zweite Frau, der Sohn aus Detlefs erster Beziehung und beide Männer? Ach weißt du, sagt Sylvia, ist doch alles schon lange her, und wenn der Markus aus China schon mal nach Berlin kommt.
Peter, der Archäologe, hat seiner zwanzigjährigen Freundin versprochen, zum ersten Mal mit ihr zu ihren Eltern nach Bamberg zu fahren. Die Eltern, sagt er, sind fünf Jahre jünger als ich. Na dann, sagt Richard. Aber Bamberg soll ja sehr schön sein. Sicher, sagt Peter.
Die Germanistin Monika und ihr schnurrbärtiger Mann Jörg haben, weil die Schwiegertochter sie zu Weihnachten nicht zu sich einladen wollte, einen Flug nach Florenz gebucht. Stell dir vor, sie hat nicht einmal meine selbstgebackenen Kekse genommen, aber ich hab der Kleinen die Büchse später heimlich gegeben. Früher sind die beiden mit Richard und Christel oft zusammen in den Urlaub gefahren, aber seit Richard allein lebt, haben sie ihn nicht mehr gefragt, vielleicht weil es Monika mit zwei Männern zuviel ist.
Die Fotografin Anne hat Richards fortgeschrittenen Schüler Ali schon seit mehreren Tagen bei sich im Haus einquartiert, denn die polnische Pflegerin ist noch vor dem vierten Advent zu ihrer eigenen Familie nach Polen gereist.
Und, wie ist es? fragt Richard.
Stell dir vor, er hat noch nie in seinem ganzen Leben in einem Zimmer allein gewohnt.
Das kann ich mir gar nicht vorstellen, sagt Richard. Und sonst — ist er dir eine Hilfe?
Wir machen das mit dem Heben ganz gut beide zusammen. Er lernt viel von mir.
Verstehe, sagt Richard.
Er ist nett, sagt sie, wirklich. Nur meine Mutter hat immer noch vor ihm Angst.
Das ist die verdammte Nazierziehung, sagt Richard.
Wahrscheinlich.
Solche Sachen kommen im Alter wieder stärker hervor.
Kann sein. Dabei bemüht er sich. Stell dir vor, er hat sie auf die Stirn geküsst, weil er gesehen hat, dass ich das bei ihr mache.
Und, hat deine Mutter geschrien?
Naja. Ich hab ihm erklärt, dass hier in Deutschland nur die Tochter das darf.
Richard weiß noch, wie es sich angefühlt hat, als er zum ersten Mal auf Dienstreise in Amerika war. How’re you doin’? Mir geht es gut, danke, und wie geht es Ihnen? Aber ehe er seine höfliche Antwort überhaupt zu Ende gesprochen hatte, waren der Verkäufer oder der Doorman oder der Kellner längst schon woanders. An der Kasse im Supermarkt wurde der Einkauf in unzählige Tüten gepackt und der Verkäufer sah ihn ganz merkwürdig an, wenn er beim Einpacken mithalf. Das Wasser aus der Leitung war ungenießbar. Und die Fenster ließen sich nur 20 Zentimeter nach oben schieben, aber nicht wirklich öffnen. Anfang April wurde vor den größeren Villen einfach der neue Rollrasen ausgelegt, dann war von einer Stunde zur andern alles grün. Nach zwei, drei Tagen war Richard ganz durcheinander vom Fremdsein. Wüsste er, wie man sich um eine afrikanische Großmutter kümmert? Nana ?
Richard hat das letzte Weihnachtsfest zusammen mit Andreas, dem Hölderlinleser, ganz gut absolviert. Ohne Weihnachtsbaum und ohne Gans haben sie zusammengesessen, Whiskey getrunken und sich» Some like it hot «angesehen. Den Film kann man sich gar nicht oft genug ansehen, darin sind sie sich schon immer einig gewesen. Dieses Jahr ist Andreas Anfang Dezember zu seiner Kur abgereist, die bis Ende Januar dauern soll. Das hat Richard gewusst, aber erst jetzt, als er am 23. 12. im Supermarkt die leeren Tiefkühlregale sieht, wird ihm plötzlich klar, dass er, als einziger von all seinen Freunden, vollkommen allein sein wird an Heiligabend.
Kaum hat er angerufen, kaum hat Raschid no problem gesagt, und Richard fine , da steht er auch schon im Flur, um sich die Schnürsenkel zuzubinden, und schaut zwischendrin auf die Uhr, hoffentlich hat der Weihnachtsbaumhandel noch auf, hoffentlich gibt es irgendwo noch eine Bio-Gans, die so teuer ist, dass keiner sie weggekauft hat. Der Weihnachtsbaum muss nicht groß sein, aber es muss einen geben, einen echten Tannenbaum in einem Wohnzimmer, das hat so ein Nigerianer sicher noch nie im Leben gesehen. Der Tannenbaum ist dann doch gar nicht so klein, dafür gibt es nirgends mehr eine Gans, aber immerhin ein paar Keulen, schon fertig abgepackt samt der Sauce, dazu Instant-Serviettenknödel und ein Glas mit Spreewälder Rotkohl, ein Schuss Essig dran und zwei Nelken, dann schmeckt es wie selber gemacht , das war Jahr für Jahr, so lang sie noch lebte, der Weihnachtstext seiner Frau. Noch am Abend des 23. soll der Weihnachtsbaum aufgestellt sein, aushängen muss er , das war Richards eigener Weihnachtstext bis vor fünf Jahren. Das Fluchen, wenn der Baum, obwohl er ihn schon mit der Axt angespitzt hat, nicht auf Anhieb in den schweren, gusseisernen Ständer hineinpasst, das Kriechen unter den Baum, um den Stamm so zu drehen, dass die am weitesten ausladenden Äste zur Seite zeigen, damit man an ihnen vorbei noch gut zur Terrassentür kommt, das Heraufholen der Kartons aus dem Keller, in der Handschrift von Christel steht da auf der Pappe, fünf Jahre nach ihrem Tod, noch immer: Vorweihnachtszeit . Die Engel im Haus verteilen, die Nussknacker, die Sterne. All diese Handgriffe kennt er noch gut, diese Handgriffe, die er sonst nie wieder getan hätte, sind ihm erschreckend vertraut. Was alles mag da wohl noch im Dunkel seines Gedächtnisses warten, aber nie wieder aus der Abstellkammer hervorgeholt werden, bevor der Laden irgendwann endgültig zugemacht wird?
Und obgleich der vierte Advent schon vorbei ist, steckt er, damit er morgen dem Fremdling erklären kann, was Advent überhaupt heißt, in den gläsernen Kranz, der seit fünf Jahren auf dem Wohnzimmertisch steht, vier rote Kerzen. Am Vormittag des 24. dann schmückt er den Baum und baut schließlich, während die Gänsekeulen schon im Ofen schmoren, auch noch die große erzgebirgische Pyramide auf, deren Propeller ihn, wenn sie auf dem Tisch steht, um zehn Zentimeter überragt. Die kleinen hölzernen Engel kommen in die oberste Etage, auf die mittlere Scheibe dann Maria, Josef, die Rindviecher, Esel, Lämmer, Hirten, Könige aus dem Morgenland und natürlich die Krippe mit dem winzigen Jesus darin. Dorthin, wo in der Pyramide unter Tage sein soll, gehört die Bergarbeiterkapelle: auf die größte, unterste Scheibe. Wenn man nicht alles sorgfältig austariert, bringt ein wankender Engel alles, selbst die Bergleute, ins Schleudern, oder bringt im Gegenzug dazu ein Bergmann, dessen Trommel vielleicht ein paar Gramm schwerer ist als die Querflöte seines Kollegen auf der gegenüberliegenden Seite, bringt dieser Bergmann nicht nur die Kollegen, sondern auch Maria und Josef und schließlich sogar die himmlischen Heerscharen zu Fall, ja, wenn man ungeschickt ist, setzt sich das Umstürzen der Figuren auf den nur leicht aufliegenden Platten durch die Heilige Familie hindurch von oben nach unten, oder genauso von unten nach oben fort, purzeln Lämmer aufs Christkind, fällt Maria ins Bergwerk hinein, mit ihrem hellblauen Jungfrauenkleid an den Rand, dort auf den wirren Haufen, wo ein erzgebirgischer Trompeter, ein Trommler, ein Tambourmajor schon hingerutscht sind, die Instrumente verheddert in die Heiligenscheine ein paar kleiner, pausbäckiger, aus dem Himmel herabgestürzter Englein, und das alles nur, weil Richard vielleicht einen Moment lang unachtsam war, oder weil seine Hände viel größer sind, als die seiner gestorbenen Frau, die die Aufstellung früher immer gemacht hat, und er beim Herumfuhrwerken deshalb irgendwo anstößt, oder einfach auch nur, weil er das Gewicht der Figuren falsch eingeschätzt hat.
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