Motive, die in der Anstalt gemalt werden: ausgestaltete Geldscheine, Erscheinungen in der Einlegesohle, sexuelle Phantasien mit zerstückelten Körpern; Kritzeleien wie am Telefon, wenn die Vernunft abgelenkt ist. Und daneben immer das Verlangen, brav gewesen zu sein. Zwanghaftes Musterlegen, Kästchenfüllen, Ergotherapie.
Wenn ich aufblicke, sehe ich mich eingefaßt in schwarzes Fensterglas. Wie alt wir bereits geworden sind. Jahre, Jahrzehnte, die wir in uns einkapseln, Zeit, die sich um uns verdichtet, mit jeder Nacht mehr; ein Gedächtnis aus Kohle, Graphit, in dem wir feststecken, wir, lebende Fossilien, deren Dichte mit dem Druck der Jahre zunimmt: Nachtgedanken, Diamanten, eine Bewegung des Gedenkens, die alles durchstrahlt.
Der Schlafanzug ist notdürftig repariert. Ich habe einen Mückenstich am Handgelenk, Vorahnung von Sommern, die die Einheit der Zeit und des Ortes wiederherstellen, ich reibe den Mückenstich am Hosenstoff, bis er schmerzt.
Ich esse zwei angewärmte, rohe Reibekuchen direkt von der Heizung. Wasche mir Hände und Gesicht, lege Pullover, Cordhose ab, lege mich hin. Stopfe die Bettdecke fest, bis sie mich wie ein Schlafsack lückenlos einhüllt. Kugelform einnehmen. Kugelförmiger Schlaf. Ich presse mein Gesicht ins Kissen und sauge aus dem Rest Bettwärme, der sich noch gehalten hat, alle Zärtlichkeit.
Neuerdings zeichne ich Gartenparterres. Ich entwerfe sie in den Nächten, in denen ich nicht schlafen kann, um Frau Dr. Z., so die Gelegenheit naht, einen ausgereiften Vorschlag zur Parkgestaltung unterbreiten zu können. Das Karopapier meines Notizheftes dient mir als Raster. Ich markiere großzügig einige Quadrate, lege schwungvoll Kreise hinein, die sich überschneiden, überlagere sie mit einer Ellipse und spare die meisten der Schnittmengen aus. Ich zeichne eine Terrassenanlage, ich versuche, etwas einzukreisen, Schlingen zu legen, ich werfe Arabesken aus und operiere mit Blattwerkornamenten, um diesem Etwas eine Struktur zu verleihen.
Auch in der Verfassung ohnmächtiger Müdigkeit bringe ich herrliche Anlagen zustande, da diese Art der Zeichnung keiner kreativen, sondern der zwanghaft-unkritischen Methode folgt. Ich plage mich nicht mit automatischen Kritzeleien, die das Unbewußte sprechen lassen, sondern stelle geometrisch exakte Pläne her, ganz dem Bewußtsein verschrieben.
Ich verstärke mechanisch einige ausgewählte Linien, achte auf die Symmetrie, erhalte ganz und gar befriedigende Ergebnisse. Die künftigen Rabatten, von Buchsbaum eingefaßt, lassen sich nur von den höheren Stockwerken unseres Schlosses ganz überblicken. Ich füge Spiralen ein, fächere Parzellen kleinteilig auf, lasse kleine Kreise offen, in die ich Buchsbaumkugeln setze. Ich stelle mir die Schritte von Frau Dr. Z. auf den Kieswegen vor, stelle mir vor, wie sie sich in den Behandlungspausen im geheimen Garten ergeht, wie ihre Hand die harte Hecke streift.
Meine Kreise zeichne ich in Ermangelung eines Zirkels mit Hilfe eines Wasserglases. Ich ziehe Kreise gleicher Größe über das unbestimmte Papier, Broderieparterre, denke ich, Bandelwerk, denke ich, La Folie, die Verrücktheit, das Lustschlößchen, und, denke ich, majestätische Gärten lassen sich aus reiner Logik herstellen, wie Zirkelschlüsse. Mein Kugelschreiber fährt über die Karos, umfährt einen Punkt, mit dem ich mich durchaus identifizieren könnte, ich ziehe die Achse nach, an der sich die Felder spiegeln, Weltachse, denke ich, die die Allee wäre, welche genau auf den Eingang führt. Mein Stift zieht immer noch Kringel, er kreist hypothetisch, kreist um mich, kreist mich ein, es wird deutlich, daß ich aus diesem Schloß nicht mehr wegkommen kann.
Ich gehe in der Mittagspause zu Fuß ins Dorf, um Gummiband zu kaufen. Gummilitze, wie unsere Mutter sagt. Unter normalen Umständen wäre ich zu meiner Schwester gefahren und hätte mir von ihr ein neues Gummiband in meine Schlafanzughose einziehen lassen. Dies erscheint mir in der gegenwärtigen Situation nicht möglich.
Der Weg ins Dorf ist ein öder. Man geht die Landstraße entlang. Kein Bürgersteig. Frau Dr. Z. läßt sich morgens vom Zivi mit dem Dienstwagen abholen und abends wieder nach Hause fahren. Ich nehme den Umweg durch den Wald, am See entlang. Dabei laufe ich auch nicht Gefahr, den Patienten oder dem Klinikpersonal zu begegnen. Den Wald betritt niemand außer mir.
Nie war ich der Typ für Wohngemeinschaften. Damit jetzt anzufangen, wenn auch gezwungenermaßen, ist ein Fehler. Zumindest eine Wohnung im Dorf, wie Frau Dr. Z. sie hat, würde mir Erleichterung verschaffen, wenn natürlich auch das Dorf von Patienten wimmelt, denn diejenigen, die Ausgang haben, gehen zuverlässig ins Dorf. Das Dorf wird zweimal am Tag vom Überlandbus angefahren, und zwar morgens und abends jeweils um sechs. Sonst ist hier nichts.
Wohnen im Dorf — man könnte sich im Haus verschanzen, hinter hohen Hecken im Garten sitzen, seine Einkäufe abends erledigen, wenn die Patienten zurück sein müssen. In dieser Art hält es Frau Dr. Z. Sie läßt einkaufen, und sie geht nur selten aus dem Haus.
Ich hingegen gehe sehr weit und sehr viel, es befriedigt mich, einen maximalen Abstand zu den Patienten zu erzeugen, durch reine Muskeltätigkeit, durch Eigenleistung. Und in einer Institution, die einen Teil ihrer Fenster vergittert hat, in der die Macht darin besteht, über ein Schlüsselbund zu verfügen, erleichtert es mich, mir zu beweisen, daß ich theoretisch immer noch gehen kann, wann und wohin ich will. Freier Wille: Die Patienten lustwandeln im Kurhotel — ich habe Ausgang aus dem Narrenschloß, und ich muß zu festgesetzter Zeit, zu Arbeitsbeginn, zurück sein.
Um in dieser Institution eine Wohngemeinschaft durchzustehen, bedarf es einer Persönlichkeit, die weniger empfindsam ist; ich bin für diese Stellung ungeeignet, aber mangels Alternativen meinerseits versuche ich den Eindruck zu erwecken, der richtige Mann am richtigen Ort und mit allem zufrieden zu sein. Und mangels Alternativen ihrerseits, das sind Personalengpässe, mindere Bezahlung, Probleme mit der Unterbringung der Angestellten, gibt meine Chefin vor, daß mir das vollkommen gelänge.
Weil ich beleibt bin, findet sie mich gemütlich, und sie assoziiert damit vor allem eine Gemütsruhe, die mir leider nicht zu eigen ist.
Man fragt sich ja seitens der Ärzteschaft immer, wie wirkt sich das soziale Umfeld auf die Bildung der Persönlichkeit aus. Ich kann dazu nur sagen, daß die lebenslange Zuschreibung von Gemütsruhe seitens des sozialen Umfelds keinerlei Auswirkung auf meine Persönlichkeit hatte. Ich müßte längst vor lauter Gemütsruhe petrifiziert sein, ein Fels in der Brandung. Und aufgrund des Augenscheins, also meines Körperumfangs, glaubt das Umfeld, solches sei der Fall, leugnet das Umfeld meine Empfindlichkeit.
Wir saßen im Kreis in der Gruppentherapie. Herr V. berichtete weitschweifig von seiner Problematik. Die übrigen Teilnehmer, die inzwischen gelernt haben, daß und wie man aufeinander eingeht, fanden verständnisvollste Worte. Herr V. fühlte sich ermutigt, sein Lamento hielt an. Ich saß mit allen anderen im Kreis, nicht herausgehoben, wie es die Regel ist. Gleichberechtigung, Selbsterfahrung, Feedback der Gruppe. An einem gewissen Punkt der Unterhaltung erhob ich mich und verließ den Raum. Ich verließ das Klinikgelände und ging an den See.
Als ich mehrere Stunden später zurückkehrte, war niemand irritiert. Frau Dr. Z. hatte von meinem Verhalten bereits erfahren. Sie sprach mich beim Abendessen darauf an und sah ihren Reformprozeß mit modernsten Methoden fortgeführt. Fels in der Brandung, gelungene Intervention. Den Patienten Vertrauen schenken und sie sich selbst überlassen. Der richtige Zeitpunkt, Fingerspitzengefühl. Meine Chefin gesteht mir alle Freiheiten zu. Sie hält große Stücke auf mich.
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