Aus dem Lautsprecher rauschte und pfiff es. Jemand lief so dicht an der Kamera vorbei, dass Hartmut nicht erkennen konnte, ob es sich um Philippa oder eine andere Person handelte. Wartend saß er vor dem Bildschirm, betrachtete seine eigene missmutige Miene und horchte auf Gesprächsfetzen im Hintergrund. Im ersten Semester hatte er seiner Tochter den einen oder anderen Tipp zur Studienplanung geben können, ohne dass sie es aufdringlich fand. Mittlerweile schien seiner väterlichen Anteilnahme ihrerseits das nachlassende Bemühen zu entsprechen, den alten Mann in Bonn auf dem Laufenden zu halten. Maria mochte beschwichtigend von Abnabelung reden, er spürte die stärker werdende Drift. Sein Verdacht war, dass Maria ihrer Tochter von dem großen Streit erzählt hatte und Philippa auf Abstand ging zu dem brüllenden Tyrannen, der in ihm schlummerte. Aus Angst, Groll oder weiblicher Solidarität, vielleicht unbewusst.
«Da bin ich wieder«, sagte sie und nahm vor dem Bildschirm Platz.»Hast du was zu schreiben? Das Hotel und ein Café, wo wir uns treffen können. «Die Vorfreude, die aus ihrer letzten Mail gesprochen hatte, war der kühlen Umsicht gewichen, mit der sie sein Kommen vorbereitete.
«Danke. Kommt mein Besuch dir sehr ungelegen?«
«Nein. Hab ich doch geschrieben. Ich muss halt zum Unterricht, vier Stunden am Tag. Ansonsten hab ich meistens Zeit. Sogar ein Parkhaus hab ich für dich aufgetrieben. Du kannst nicht direkt vors Hotel fahren, da ist gesperrt.«
«Wer ist bei dir?«, fragte er, weil wieder ein Schatten über die Wand huschte.
Philippa drehte den Kopf, als müsste sie erst nachschauen.
«Es mi amiga. Wir wohnen zu dritt.«
«Okay. Ich hab einen Stift.«
Philippa diktierte ihm zwei Namen und Adressen, dann war alles gesagt. Aus Kopenhagen habe sie in den letzten Tagen nichts gehört, antwortete seine Tochter auf Nachfrage, wahrscheinlich drehten da oben alle durch.
«Bis morgen. «Wie ein weiser Indianerhäuptling hob sie die Hand.
«Gute Nacht.«
Nach dem Gespräch kam ihm das Zimmer noch enger vor. Eine Kirchturmuhr schlug ein Mal. Hartmut reservierte ein Zimmer im Hotel San Miguel, las dies und das zur Geschichte von Santiago und klappte seinen Laptop zu. Aus Marijkes Zimmer war kein Geräusch mehr zu hören. Jedes Mal, wenn andere auf Distanz zu ihm gingen, befiel ihn dasselbe merkwürdige Gefühl, als hätte er es weder anders erwartet noch besser verdient. Noch einmal tauchte Terezas Gesicht vor ihm auf. Offenbar wisse er gar nicht, wonach er suche, hatte sie beim Abschied gesagt. Im Aufwachraum, als er schon in der Tür stand. Wenn ich’s finde, werde ich’s wissen, glaubte er geantwortet zu haben. Das war die letzte Unterredung, und genau so ist es gekommen. Wie sonst könnte er jetzt solche Angst haben, alles wieder zu verlieren?
Dass der galicische Regen bereits in mittelalterlichen Reiseberichten erwähnt wird, gehört zu den Dingen, die er letzte Nacht im Internet gelesen hat. Ein feiner Sprühregen, der die Kutten der Pilger durchnässte und sich heute mit einem leisen Knistern auf Hartmuts Windschutzscheibe absetzt. Gesichtslose Ortschaften reihen sich entlang der N 547, an deren Rändern ein endloser Strom von Menschen unterwegs ist. Eine wahre Völkerwanderung, denkt er. Bunte Regencapes wölben sich über prallgefüllte Rucksäcke und lassen die Pilger aussehen wie zweibeinige buckelige Zugvögel mit Wanderstöcken. Vor Cafés und Geschäften lagern sie auf dem Bürgersteig, zwei oder drei Tagesmärsche entfernt von der Stadt, die Hartmut eine Stunde später erreicht. Er folgt den Hinweisen auf das Zentrum und dem blauen P von La Salle, einem Parkhaus am östlichen Rand der Altstadt. Beim Aussteigen erfüllt ihn die Benommenheit des Weitgereisten. Über eine in Wolken gehüllte Passhöhe ist er am Morgen nach Kastilien gefahren, dann sind die Berge in seinem Rückspiegel geschmolzen, um in Galicien wieder vor ihm aufzutauchen. In León waren es am Mittag über dreißig Grad, jetzt ist es vier Uhr nachmittags, ein kühler Wind weht, und die Gassen von Santiago werden enger und voller, je weiter er ihnen folgt.
Überall Granitstein in großen Quadern. Ein dumpfes Summen schwebt über den Köpfen, geschäftig, ausgelassen und erwartungsfroh. Überrascht stellt Hartmut fest, dass es ihn ins Zentrum zieht, als würde die Rastlosigkeit der Fahrt sich ungebrochen fortsetzen. Hätte er nicht seine schwere Reisetasche dabeigehabt, wäre er ohne anzuhalten an seinem Hotel vorbeigelaufen.
Zwanzig Minuten später steht er mit einem an der Rezeption erhaltenen Stadtplan auf der Praza de San Miguel dos Agros. Seinen Durst beschließt er vorerst zu ignorieren. Vom Zimmerfenster im vierten Stock aus hat er die braunen Doppeltürme der Kathedrale gesehen, zwei von vielen Turmspitzen über den roten Dächern der Stadt. Erneut setzt leichter Regen ein. Touristen und Pilger ziehen an ihm vorbei. Cafés locken mit dem Hinweis ›zona WiFi‹, und in den Schaufenstern türmen sich Nippes. ›Camino de Santiago‹ steht auf T-Shirts, Mützen und Krügen, o-beinige Comicfiguren stapfen frohgemut über den Jakobsweg. Wenn Hartmut seinen Blick die Fassaden hinauf- und die Gassen hinablenkt, fühlt er sich von der Allgegenwart der Fotomotive überfordert. Es ist wie bei eitlen Menschen, denen jede Geste zur Pose gerät. Überall Laternen und Treppen, schmucke Gauben und die unvermutete Stille eines Hinterhofs. Sein Weg führt ihn zur Längsseite der Kathedrale, deren Ausmaße aus der Nähe nur zu erahnen sind. Obwohl er Kirchen gegenüber gemischte Gefühle hegt, passiert er zügig die Verkaufsstände für Gehstöcke, Regenschirme und anderen Pilgerbedarf und lässt sich hineinziehen in das steinerne Herz der Stadt.
Dämmerlicht empfängt ihn. Die gedämpfte Lautstärke hundertfachen Flüsterns. Links schimmert der mattgoldene Bombast des Altarraums, nach rechts öffnet sich ein hoch aufragendes Mittelschiff. Kamerablitze zucken wie fernes Wetterleuchten über die Menge. In jeder Kirche riecht es anders, aber nach nichts anderem als Kirche; früher in Arnau hat er geglaubt, es seien die durchgesessenen Sitzkissen. Bei Nooteboom heißt es kirchenförmige Luft, aber genau genommen riecht Hartmut nichts, weder Weihrauch noch Kerzenwachs noch das alte Holz der Bänke. Ein anderer Sinn, der ihm anerzogen wurde und den er bis heute nicht abgelegt hat, nimmt die sakrale Aura auf. Sie ruft das kindliche Gefühl zurück, beobachtet zu werden von jemandem, der zu mächtig ist, als dass auf seine Güte Verlass wäre. Wie bei früheren Mutproben spürt er einen Druck auf der Brust, der ihn zu denken herausfordert, was zu denken ihm die Chuzpe fehlt. Allmählich gewöhnen sich seine Augen an die Lichtverhältnisse. Die Säulen sehen aus, als hätte die Ewigkeit Beine bekommen. Gegen seinen Willen stört es ihn, wenn in der Nähe jemand in normaler Lautstärke spricht.
In den hinteren Rängen findet er eine freie Bank und setzt sich. Durch die Fenster über dem Hauptportal fällt diffuses Licht, das Hartmut an die Alte Kathedrale von Coimbra erinnert. Sein Blick wandert eine Reihe von Beichtstühlen entlang, kleine Holzbuden mit spitzen Dächern. Ein rotes Lämpchen über der Tür zeigt an, ob sie besetzt sind oder nicht. In katholischen Kirchen fühlt er sich eher als in evangelischen berechtigt, seine mangelnde Demut durch Neugierde zu ersetzen. Weihrauch, goldene Putten, Rosenkränze — fremde Dinge, von denen Maria früher umgeben war wie er von der Nüchternheit des Arnauer Gotteshauses. Beim Besuch in Coimbra, fällt ihm ein, war Philippa noch klein genug, um an seiner Hand zu gehen und sich Geschichten erzählen zu lassen, die auf den hohen Wandgemälden abgebildet waren; sofern ihr Vater sie kannte und für kindgerecht hielt. Über Jahre hinweg hatte ihre religiöse Erziehung sich als ökumenischer Eiertanz vollzogen, aufgeführt von Eltern, deren Unglaube auf wackeligen Füßen stand. Da Philippa außerdem fromme protestantische Großeltern und in Portugal eine erzkatholische Oma besaß (was Artur glaubt, weiß er allein), konnte das Problem weder umgangen noch rational behandelt werden. Sie wurde katholisch getauft und durfte später selbst entscheiden, welchen Religionsunterricht sie besuchen wollte. Dass sie sich der besten Freundin wegen für den evangelischen entschied, wurde in Rapa nie bekannt. Lurdes bemühte sich bei jedem Besuch, das Kind auf Rechtgläubigkeit zu trimmen, und aus Arnau kamen zu Weihnachten Abreißkalender mit 365 Tageslosungen, für die Philippa eine Box einrichtete, worin sie säuberlich geordnet verstaubten. Auf kindliche Fragen, wo Gott wohnt, erhielt sie Antworten, die eine Abiturientin überfordert hätten. Nachdem Ruth ihr eine illustrierte Kinderbibel geschenkt hatte, stellte sie sich den Himmel vor wie Sommerferien auf der Arche Noah, aber woran sie wirklich glaubte oder heute glaubt — keine Ahnung. Auf interessante Weise ist das Thema Religion für Maria und ihn so peinlich wie für die Generation zuvor die Sexualität. Nicht aus der Welt zu schaffen, man kann nur die Augen schließen.
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