«In Bonn?«, fragt sie.
Hartmut presst die Lippen zusammen, um den Seufzer nicht herauszulassen, der ihm in der Kehle sitzt. Heute Vormittag auf dem Balkon hat sie sich selbst undankbar genannt, und er wollte nicht denken, dass er sie insgeheim genau dessen bezichtigt. Nach dem Ende seiner Dortmunder Vertretung sind sie ins Umland gezogen, in ein kleines Häuschen mit Garten, wie junge Familien es in Werbespots für Schwäbisch-Hall tun. Weiße Wände und grüner Rasen, aber um die gestiegenen Kosten zu stemmen, musste er jeden Lehrauftrag annehmen, der im Umkreis von zweihundert Kilometern angeboten wurde. Maria kannte keinen Menschen da draußen. Verstand das komische Deutsch nicht, in dem Mütter am Spielplatz nach ihren Kindern riefen. Als ein arbeitsloser Lehrer aus der Nachbarschaft ihr nachzustellen begann, wurde es unerträglich. Ein triefäugiger Jammerlappen mit einem Kind in Philippas Alter. Auch seinetwegen war der Ruf nach Bonn eine Erlösung. Endlich entkamen sie den finanziellen Zwängen und der beruflichen Ungewissheit. Philippa ging in den Kindergarten, Maria erholte sich — und begann prompt, jeden verfügbaren Artikel über die neue Hauptstadt zu lesen. Während er sich noch zwicken musste morgens vor dem Spiegel, weil er nicht glauben konnte, dass er es wirklich geschafft hatte, wartete seine Frau schon auf den Tag, an dem er nach Hause kommen und sagen würde: Schatz, wir packen, ich hab eine Professur in Berlin.
Wenn es nicht Undank ist, dann ein naher Verwandter.
«Ist es wirklich so schlimm in Bonn?«, fragt er jetzt.»Ich meine, es liegt an uns, die Mittel zu genießen, die wir haben. Im Moment leben wir unter unseren Verhältnissen. Warum eigentlich?«
«Ja.«
«Ja — als Antwort worauf?«
«Es ist, als würde ich mehr und immer noch mehr von dir verlangen. Dabei will ich das gar nicht. Es hat mir nichts ausgemacht, wenig Geld zu haben. Ich hatte mein ganzes Studium über nichts. Das ist nicht der Punkt.«
«Sicher? Jede Mark umdrehen müssen, bevor man sie ausgibt. Jeden Morgen das Bett in den Schrank klappen. Mein Traum sieht anders aus.«
«Wie sieht er aus?«Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut ihn an. Offenbar hat sie geweint, ohne dass es ihm aufgefallen ist.
«Wie du«, sagt er.»Wie du und ich und Philippa. Und vielleicht noch ein zweites Kind, das uns nachts den Platz im Bett streitig macht. So sieht er aus.«
Kurz stellt sie sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn.
«Hab ich heute Mittag gesagt, dass ich dich liebe?«
«Ich will nicht kleinlich sein, aber, nein, hast du nicht.«
«Tu ich aber.«
«Stattdessen hast du gefragt, ob du weißt, wer ich bin, und ob ich weiß, wer du bist. Und hast dabei dreingeschaut, als wäre was Schlimmes passiert.«
«Du hast ein schwieriges Weib geheiratet.«
«Es wird weitere Stellen geben, Maria. Der ganze Osten braucht neue Professoren, auch der Osten von Berlin. Und ich werde mich bewerben, wie versprochen. Ich kann bloß weder hellsehen noch zaubern. Okay?«
«Okay.«
Dabei belassen sie es. Gehen den Weg hinauf ins alte Dorf, in dem seit Stunden niemand mehr unterwegs ist. Selbst die Glocken der Kirche werden erst morgen um sieben wieder läuten. Sie schlendern Hand in Hand, jeder den Blick auf die eigenen Füße gerichtet. Warum fühlt er sich, als würde er ihr etwas schulden? Es war ein merkwürdiges Gefühl, als er zu seinem Bewerbungsvortrag nach Berlin reiste. Sein erster Besuch seit damals, und er hat sich ganz aufs Berufliche konzentriert. Ist vom Bahnhof Zoo direkt nach Dahlem gefahren. Am Institut hat er seinen Vortrag gehalten, das Gespräch mit der Berufungskommission absolviert und vielleicht deshalb eine so gute Figur gemacht, weil etwas ihn davon abhielt, die Stelle mit letzter Konsequenz zu wollen. Als er eine Zeitung für die Rückfahrt kaufte, blickte ihn vom Titelblatt der Zitty das neue Enfant terrible des deutschen Theaters an. Mit seinem rötlichen Fusselbart und einer an Brecht erinnernden Lederjacke. Sprech/Akte/Ost lief sei Monaten vor ausverkauftem Haus. Jahrelang hatten sie in einer Kreuzberger Schublade gelegen, nun schlug ihre Stunde. Sprechende, singende, tanzende Stasi-Akten, die ihr Gift verspritzten gegen jene, die sie geschrieben hatten, und jene, derentwegen sie angelegt worden waren, sowie gegen alle, die vom Westen aus zugeschaut hatten. Ein wütendes, intelligentes und böses Spektakel. Da es alle beleidigte, wurde es von allen geliebt, außer von denjenigen, auf deren Abneigung es ankam. Ein CDU-Politiker nannte das Stück eine Verhöhnung der friedlichen Revolution, das stand zwei Tage später auf den Plakaten. In Talkshows saß Falk Merlinger mit verschränkten Armen auf seinem Platz und sagte sinngemäß — ein Mal auch wörtlich —, dass alle ihn am Arsch lecken könnten. In Bonn meinte Maria, sie freue sich für ihn. Und dass man ihm leider ansehe, wie der jahrelange Misserfolg ihm zugesetzt hatte. Wie bemüht seine coole Pose wirkte und wie schlecht ihm die Jacke stand. Ansonsten sprachen sie darüber nicht, wenn ihre abendlichen Berlin-Phantasien zum Wettstreit gerieten: Wer will es mehr? Wessen Wunsch ist dringlicher? Dann kam der Anruf von Dietmar Jacobs, und man hätte meinen können, dass die Fragen sich fortan erübrigten. Das Gegenteil war der Fall, sie ließen sich bloß nicht mehr stellen. Vielleicht hat er das nicht gewusst, aber geahnt an jenem Abend, als er seiner Frau nicht ins Gesicht sehen konnte. Als er sich zu seiner Tochter legte und hörte, wie Maria in der Küche den Abwasch erledigte, bevor sie die Wohnung verließ. Als sie zwei Stunden später zurückkam, lag er im Ehebett auf dem Rücken und fragte sich, was er fühlte. War er wütend, enttäuscht oder erleichtert? Er horchte auf ihr Tun im Bad und die Schritte im Flur. Roch den Tabakgeruch, noch bevor seine Frau unter die Decke schlüpfte und ihm den Rücken zukehrte. Er wollte sich entschuldigen und tat es nicht, weil er keinen Grund dazu hatte — nur den Wunsch. Außerdem das Bedürfnis zu wissen, dass weiterhin alles in Ordnung war. Dass nicht der Fluch seiner bösen Taten an Tereza ihn plötzlich einholte.
«Weißt du noch, was du heute Morgen gesagt hast?«Sie sind angekommen vor dem Haus seiner Schwiegereltern, und Maria sucht in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
«Was hab ich gesagt?«, fragt er.
«Wer hätte damals gedacht, dass ich diese Stelle in Bonn bekomme. Damals! Dabei ist es erst anderthalb Jahre her. Das macht mir auch Angst, weißt du. Was ist plötzlich mit der Zeit los? Ich verstehe das nicht.«
«Wir leben«, sagt er.»Das ist los. Nicht mehr nur in Träumen, Büchern und Ideen, sondern wirklich und mit Kind. So fühlt sich das an. Es ist normal.«
«Und dass es mir Angst macht?«
«Das auch, jedenfalls zeitweise. Du könntest es erkennen und dich langsam davon befreien.«
Sie hat den Schlüssel gefunden und öffnet die Tür.»Es ist komisch. Immer wenn wir darüber sprechen, hab ich den Eindruck, dass du besser verstehst, wo die Probleme liegen. Sogar wo meine liegen. «Statt einzutreten, hält sie inne und dreht sich zu ihm um.»Trotzdem. Nichts von dem, was du sagst, kann mich wirklich überzeugen. Du hast bloß recht, das ist alles.«
10 Hartmut schlägt die Augen auf und ist sofort hellwach. Durch zugezogene Gardinen dringt Sonnenlicht ins Zimmer und gibt ihm das Gefühl, verschlafen zu haben. Die nackten, nur von einem bronzenen Kruzifix gezierten Wände schimmern in der Farbe zu dünnen Kakaos. Ungeduldig tastet er auf dem Nachttisch nach seiner Brille, findet sie und richtet sich im Bett auf. Viertel vor neun, nicht so spät wie befürchtet. Er lässt sich aufs Kopfkissen zurücksinken und erhascht die Reste eines wirren Traums, vage erotisch und so reich an Wendungen wie der gestrige Tag. Marijke schläft sicherlich noch. Sechs bis sieben Stunden Fahrt liegen vor ihnen, hat er überschlagen, vielleicht mehr. Die ungeplante Pause gestern war angenehm, aber heute will er so schnell wie möglich aufbrechen. Hinter den grünen Vorhängen wartet ein freundlicher Tag. Irgendwo schnattern Gänse.
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