«Ich wollte unbedingt kommen, als du hier vorgesungen hast«, sagte Dietmar,»aber ich musste mein Seminar geben. Sorry.«
«Kein Problem. Ich hätte mich gemeldet, aber ich war nur einen Nachmittag in der Stadt. Hier wächst mir die Arbeit über den Kopf.«
«Du hast ein Kind, hört man.«
«Hab ich. Meine Tochter ist vier geworden. «Die übliche Bemerkung über die immer schneller vergehende Zeit lag ihm auf der Zunge, aber er ließ sie dort liegen. Nebenan wurden Küsse getauscht. Als Hartmut das Klicken des Lichtschalters hörte, wusste er, dass Dietmar mit Neuigkeiten zu seiner Bewerbung anrief. Wahrscheinlich keinen guten.
«Wir kriegen im Herbst ein Kind. Manchmal frage ich mich, ob Berlin der richtige Ort dafür ist.«
«Wilmersdorf«, sagte Hartmut.»Du meinst, dem Kind könnte langweilig werden?«
Dietmar ließ sich Zeit, bevor er mit einem kühlen Lachen antwortete. Maria steckte den Kopf herein und bedeutete ihm, dass er noch mal rübergehen und gute Nacht sagen solle. Mit der freien Hand signalisierte Hartmut ein ›Ich komme sofort‹, aber sie blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Hatte das Stichwort ›Wilmersdorf‹ aufgeschnappt und wollte mehr wissen. Ihre Freude über seinen Ruf nach Bonn war beinahe schneller verflogen, als seine hatte ins Bewusstsein sinken können.
«Was verschafft mir eigentlich die Ehre deines Anrufs?«, fragte er.
«Ich dachte, ich setze dich mal ins Bild. Du weißt schon. Es hat mich niemand beauftragt, ich tu’s aus alter Freundschaft.«
«Okay. Danke.«
«Der Widerstand kommt aus dem Dekanat«, sagte Dietmar ohne lange Einleitung.»Kein offenes Nein, natürlich. Eher überflüssige Nachfragen, formale Haarspaltereien und so weiter. Du weißt, auf Platz zwei der Liste steht eine Frau. Der Frauenanteil am Fachbereich ist nicht hoch, man könnte auch sagen skandalös niedrig. Das ist zunächst mal ein Faktum.«
«Wenn auch keins, das ich…«
«Warte, warte. Ute Cramer ist nicht dein Problem. Du hast Fürsprecher am Institut. Dein Vortrag kam hier gut an. Dazu schon mal meinen Glückwunsch. Well done. Aber es sind, wie soll ich sagen — es sind keine bedingungslosen Fürsprecher. Wenn ein Kompromiss ihnen nützt, denken sie pragmatisch. Alle rechnen damit, dass sich hier bald einiges ändern wird. Zusammenlegungen, Einsparungen. In so einer Situation können kleine Guthaben an Wohlwollen nicht schaden. Die Kollegen verhalten sich wie Eichhörnchen im Herbst.«
«Und an einem Kompromiss mit dem Institut arbeitet… was heißt eigentlich ›das Dekanat‹? Der Dekan?«
«Die Dekanin.«
«Verstehe. Die will eine Frau. «Er hätte gerne auf sein Bücherregal geschaut, aber Marias Blick hing an ihm mit einer stummen Frage, die sich wie von selbst in ungute Gewissheit verwandelte. Hatte er nicht längst selbst etwas geahnt? War es ihm nicht merkwürdig vorgekommen, auf einmal auf Platz eins der Bewerbungsliste zu stehen für eine C 4-Professur dort, wo alle hinstrebten? Hartmut Hainbach aus Arnau. Er wollte ihn nicht zulassen, aber der Gedanke war da, ungerufen.
«Vor allem will sie dich nicht«, sagte Dietmar.
«Oh, ist das so? Was hab ich ihr denn getan?«
«Keine Ahnung. Hast du dich nicht informiert über die Verhältnisse hier?«
«Informiert? Die Bewerbung fiel mitten in meinen Start hier in Bonn. Ich hab die Ausschreibung gesehen, hab einen Anruf von Simon bekommen und meine Sachen losgeschickt. Ohne große Hoffnung, ehrlich gesagt. Was für Verhältnisse?«
Dietmar seufzte, aber betrübt wirkte er nicht, im Gegenteil. Ein Anflug von Schadenfreude hatte sich in seine Stimme geschlichen.
«Die Dekanin ist Frau Professor Anne Saalbach. «Kurze Pause.»Du hast das nicht gewusst, oder?«
«Nein. «Hartmut versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Maria konnte ihm bestimmt ansehen, dass er bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen. Anne Saalbach. Er hätte schwören können, dass ihm der Name zum ersten Mal seit Jahren durch den Kopf ging. Es dauerte eine Weile, bis das Gesicht Konturen annahm und einen Ausdruck bekam. Nach dem Ende der Affäre waren sie einander mehrmals pro Woche im Flur aus dem Weg gegangen. Bis Anne die Stelle gewechselt und das Telefunken-Hochhaus verlassen hatte.
«Bist du noch dran?«, fragte Dietmar.
«Dachtest du, ich springe aus dem Fenster? Was heißt das jetzt? Ich meine, es gibt eine Kommission, es gibt die Liste, es gibt ein geordnetes Verfahren, oder nicht? Ist in Berlin plötzlich die Clan-Herrschaft ausgebrochen?«Seine Stimme klang ärgerlich, und beinahe wunderte ihn das. In der Kehle saß ihm ein Lachen, das er nicht rauslassen wollte. Anne Saalbach. Für dich gibt es wichtigere Dinge als mein Unglück. Gab es für sie nichts Wichtigeres, als ihm die Karriere zu vermasseln?
«Du bist Professor, Hartmut. Muss ich dir erklären, wie Universitäten funktionieren? Anne weiß, dass ihre Macht nicht ausreicht, um einfach die Nummer zwei durchzusetzen, aber vermutlich kann sie die Stelle neu ausschreiben lassen. Irgendein Verfahrensfehler findet sich immer. Dann hat sie Zeit gewonnen, und du hast… tja. Du musst dir überlegen, was für dich das Beste ist. Natürlich wird hier gemauschelt, was ist da los, was steckt dahinter? Anne ist nicht gerade berühmt dafür, sich für die Frauenquote zu engagieren, und jetzt setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung für Mrs. Nobody aus Münster? Wenn du dich bei einer Neuausschreibung wieder bewirbst…«
«Moment — es ist schon sicher, dass die Stelle neu ausgeschrieben wird?«Er konnte sehen, wie Marias Gesicht zur Maske erstarrte. Aus dem Nebenzimmer rief Philippa.
«Neulich hab ich sie in der Mensa getroffen und gefragt: Anne, ist das politisch, fachlich oder persönlich? Es ist, was es ist, hat sie gesagt. Typische Anne-Antwort. Tut mir leid, Mann. Ich hab das Gefühl, dass sie selbst nicht glücklich ist über das, was sie tut. Aber sie kann nicht anders. Sie will dich hier nicht haben.«
Maria hatte genug gehört und ging zurück zu ihrer Tochter.
«Hab ich noch eine Chance?«, fragte Hartmut.
«Wie gesagt, kommt drauf an, wie weit du bereit bist zu gehen. Vielleicht sollte ich besser sagen, was du dir antun willst.«
«Hat Anne dich darum gebeten, hier anzurufen?«
«Nein. Hier will keiner den Kopf aus dem Fenster stecken. Ich glaube, es ist allen ein bisschen peinlich. Aber ich dachte mir, du möchtest es vielleicht vor den Ferien wissen. Dir in Ruhe überlegen, was du machst.«
«Okay.«
«Hey, du bist auf der Erfolgsspur, das merkt man. Ein kleiner Umweg wirft dich nicht aus der Bahn.«
«Ich muss Schluss machen, Dietmar, meine Tochter ruft. Danke für deinen Anruf.«
«Wenn du mehr Informationen brauchst, melde dich.«
«Ich hoffe, du kriegst auch bald deine Professur.«
«Man tut, was man kann.«
«Mach’s gut. «So sanft und langsam, als wollte er sich selbst provozieren, legte Hartmut den Hörer auf die Gabel. Horchte auf die Geräusche im Nebenzimmer und unten auf der Straße. In der Südstadt begann das Wochenende. Mit gereizter Stimme befahl Maria ihrer Tochter, endlich Ruhe zu geben. Irgendwo hatte Philippa von einem Baby gehört, das nachts gestorben war, seitdem wehrte sie sich mit allen Mitteln gegen das Einschlafen. Das arme Kind, hatte er anfangs gedacht. Inzwischen war er unsicher. Verfügt man mit vier Jahren wirklich über einen Begriff vom Sterben, oder hatte ein Instinkt ihr signalisiert, dass die Sache sich in ihrem Sinn verwenden ließ? Trotzdem würde er sich heute Abend zu ihr legen, ihre Hand halten und Beruhigungen vor sich hin flüstern, bis sie eingeschlafen war.
Bis er wusste, was er Maria sagen sollte.
Die Sommerabende in Rapa sind lang und gesellig. Auf Bänken sitzen alle um eine große Tafel herum, die zusammengestückelt wurde aus verschiedenen Garten-, Küchen- und Beistelltischen. Nur für die Alten gibt es Stühle. Jedes Mal, wenn jemand mit einer neuen Schüssel aus der Küche kommt, werden Teller beiseitegerückt, um Platz zu schaffen für den nächsten Gang. Kleine Schalen mit Chips und weißen Bohnen, große Schüsseln mit Salat und Kartoffeln, riesige Platten mit gegrilltem Fleisch. In Valentins garagengroßem Grill knistern die Kohlereste. Es geht auf elf Uhr zu, Hartmut spürt die Sonne des Tages auf der Haut und in den Beinen die angenehme Müdigkeit nach körperlicher Anstrengung. Mit einem Ohr folgt er der Unterhaltung am Tisch und schaut den Faltern zu, die wie besoffen gegen das Licht unter der weißen Stoffplane flattern. Soweit er es versteht, wird das Für und Wider der großen Windräder debattiert, die bald auf den Hügelketten der Serra stehen und die Gegend mit grünem Strom versorgen sollen. Meinungen fliegen über den Tisch, alle lieben einander und lieben es, zu streiten, ohne südländische Theatralik, nur mit einem verschwenderischen Überfluss an Wörtern.
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