«Das hab ich nicht gewusst«, sagt er betreten.
«Seinetwegen bin ich so lange unterwegs gewesen. Im ersten Jahr konnte ich die Band nur in den Semesterferien begleiten, das war wie Urlaub. Dann hab ich beschlossen, für ein ganzes Jahr zu reisen, und danach bin ich nicht mehr an die Uni zurück. Ich kann gut verstehen, wie man als Paar jahrelang dahinlebt, ohne zu besprechen, wohin es führen soll — bis man eines Tages feststellt, dass es nirgendwohin führt. Es gab Ärger in der Band, und er wollte aussteigen. Okay, hab ich gesagt, steigen wir aus und machen was anderes. Aber das war nicht sein Plan. Inzwischen hat er in Amsterdam einen Plattenladen mit dazugehörigem Café. Außerdem Frau und zwei Kinder. Letztes Jahr hab ich ihn getroffen. Er sah glücklicher aus als je zuvor. «Sie legt den Kopf in den Nacken und leert ihr Glas. Zieht noch einmal die Nase hoch und schüttelt den Kopf.»Ich bin müde. Vielleicht sollten wir zurück zum Hotel gehen.«
Entschieden wehrt er ihr Ansinnen ab, für sich selbst zu bezahlen, und geht nach drinnen. Der Wirt, nicht viel älter und genauso langhaarig wie seine Kollegin, nimmt dankend das Geld entgegen und wünscht eine gute Nacht.
Mondlicht fällt auf die gepflasterten Gassen. Als Hartmut nach oben schaut, sieht er am Himmel ein leuchtendes weißes Kreuz stehen. Einen Moment lang glaubt er, betrunkener zu sein, als er gedacht hat, dann kommt er darauf, dass es sich um das Gipfelkreuz handeln muss, das er am Nachmittag vom Fluss aus gesehen hat. Er würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ihm fällt nichts ein. Sie ist jünger als er, aber alt genug, um zu wissen, dass manche Dinge im Leben nur ein Mal passieren.
Die schmalen Gassen setzen sich fort im engen Treppenhaus ihrer Pension. Der Nachtportier hat seine Begrüßung auf ein kurzes Nicken beschränkt und schickt ihnen einen abschätzigen Blick hinterher. Im ersten Stock gibt es vier Türen an jeder Seite des Ganges. Wie Zellentüren. Die letzten beiden gehören ihnen. Einen Moment lang stehen sie unschlüssig davor, halten die Schlüssel in der Hand und betrachten die ockergelbe Tapete.
«Soll ich dich morgen früh wecken?«, fragt er.
«Ich wache von alleine auf. «Marijke steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht sich noch einmal zu ihm um. Er lächelt. Mit einem schnellen Schritt ist sie da, legt die Arme um seinen Hals und küsst ihn auf die Wange. Dann löst sie sich und huscht ohne ein Wort ins Zimmer.
«Bis morgen«, flüstert er durch die sich schließende Tür.
Am ersten Morgen wacht er auf, sobald es draußen dämmert. Durch die hölzernen Läden vor der Balkontür sickert ein blassblau beginnender Tag herein. Maria liegt wie immer auf der Seite, zugedeckt bis zu den Ohren gegen die nächtliche Kühle, und Philippa hat sich schnarchend auf den Rücken gedreht. Irgendwann wird man ihr die Polypen rausnehmen müssen, sagt der Hausarzt in Bonn. Die Arme hat sie seitlich abgewinkelt, als wollte sie sich im nächsten Moment strecken und mit hellwachen Augen fragen: Was machen wir heute? So vorsichtig wie möglich steigt Hartmut aus dem Bett, zieht die Decke zurecht und schleicht nach unten. Halb sechs zeigt die Küchenuhr. Hinter großen Fenstern wölbt sich der Himmel wolkenlos über die Landschaft, bedeckt vom letzten Nachtschatten, aus dem durchsichtig und fahl der Mond herabschaut. Als würde die Stille im Haus sich draußen fortsetzen.
Gestern Nachmittag sind sie angekommen. Müde nach der fünfstündigen Fahrt von Lissabon herauf, weil Lurdes sie gedrängt hatte, den Umweg über Mealhada zu machen und ein gegrilltes Spanferkel für den Abend zu kaufen. Das tut sie bei jedem Besuch und vergisst nie zu versprechen, es sei das letzte Mal. In einem gemieteten Renault sind sie über hitzeflimmernde Straßen gefahren, mit einem toten Schwein auf der Hutablage, dessen Fett allmählich durchs Pergament tropfte. Je näher sie Rapa kamen, desto größer wurde seine Vorfreude. Für ihn wird die kommende Woche aus reichlichen Mahlzeiten und den trägen Stunden dazwischen bestehen. Seine Schwiegereltern lieben ihn dafür, dass er nie Nein sagt und alles köstlich findet, den grünen Wein, den Queijo da Serra und selbst das weiche Brot, das der fahrende Bäcker aus dem Kofferraum seines staubigen Ford verkauft. Maria dagegen muss den größten Teil des Tages in der Küche verbringen und sich die Klagen ihrer Mutter anhören: wer im Umkreis von zwanzig Kilometern gestorben ist, wann João endlich sein Motorrad verkaufen und heiraten wird, wie der neue Priester heißt, der zwei Mal in der Woche die Messe liest, und dass es besser war, als Rapa noch einen eigenen Priester hatte und sie täglich zur Beichte gehen konnte. Wenn Maria eine Auszeit braucht, leistet sie ihm auf dem Balkon Gesellschaft. Setzt sich mit einem Seufzer auf seinen Schoß und nickt ergeben, wenn er sagt: Nur eine Woche, dann fahren wir ans Meer. Dass ihm die erste Woche beinahe besser gefällt, weiß seine Frau und gönnt ihm die Ruhe. Sie findet sowieso, dass er zu viel arbeitet in Bonn.
Mit der dampfenden Tasse in der Hand schleicht er zurück nach oben. Aus Philippas leerem Bett glotzt ihm Ruca, die kulleräugige Schildkröte entgegen. Im aufgeklappten Kinderkoffer liegen Kleidungsstücke, Bilderbücher und eine grüne Metalldose für die schönsten Muscheln. Sobald Hartmut auf den Balkon tritt und an seinem Kaffee nippt, fühlt er sich so wach, als hätte er zwölf Stunden geschlafen. Auf der anderen Dorfseite startet der erste Wagen. Weit reicht der Blick über flache Kuppen und karge Täler, die Farben werden blasser, bis Himmel und Erde in einem neutralen Blauton ineinanderfallen. Das Auto ist längst außer Sicht, als der Motorenlärm schließlich verklingt und Hartmut nichts mehr hört außer den Glocken weidender Schafe. Magie, sagt er in Marias Kopfschütteln hinein, wenn sie wissen will, warum er sich an diesem reizlosen Ort so wohl fühlt.
Gestern nach der Ankunft hat er seinen üblichen Gang ins Café gemacht und den Beginn der Ferien mit einem kühlen Sagres gefeiert. Zwei Ventilatoren drehten sich träge unter der Decke. Wie immer roch es nach Sommer, Tabak und starkem Kaffee. Nach viel Zeit. Nebenan im Laden tippte Philippa auf der alten Registrierkasse herum, und draußen erlosch der Himmel über den schwarz gewordenen Bergen. Binnen Minuten fiel die Anstrengung der Fahrt von ihm ab. Er trug bereits sein Outfit für die nächsten Tage, Sandalen und knielange Hosen, das Hemd halb offen und auf dem Kopf den ausgefransten Strohhut aus Óbidos, den Maria seinen Huckleberry-Finn-Hut nennt. Das Semester war hart, aber nun hat es ihn in die Freiheit entlassen. Zum ersten Mal seit Philippas Geburt wird er in diesem Sommer einen Roman lesen. Das ist sein Projekt.
«Hartmut, wie kann man sich seinen eigenen Eltern gegenüber so fremd fühlen?«
Es ist später Vormittag. Wieder sitzt er auf dem Balkon, hat ein Glas Wasser mit Zitrone neben sich stehen und könnte nicht sagen, was er in der letzten Stunde am meisten genossen hat, die entspannte Lektüre, die Stille über dem Ort oder das Wissen, dass Maria bald seinen Trost brauchen wird. Jetzt steht sie in der Tür und sieht ihn an, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort. Trägt ein kurzärmeliges Kleid aus hellem Stoff, das über der Brust spannt.
«So schlimm?«, fragt er. Ob sie den Genuss ermessen kann, den es ihm bereitet, sie anzuschauen?
«Ich meine nicht erst jetzt, sondern immer schon, so weit ich zurückdenken kann. Diese liebenswerten Leute, zu denen ich Vater und Mutter sage.«
«Dein Vater auch?«
«Halb Don Quijote, halb Albert Schweitzer«, seufzt sie,»was ergibt das? Don Camillo? Onkel Wanja? Ich liebe ihn, aber manchmal spreche ich zu ihm wie zu Philippa.«
Er legt das Buch zur Seite und winkt sie zu sich heran. Das Bewusstsein, dass keine Verpflichtung ihn ruft, kommt in Wellen, und jedes Mal würde er am liebsten laut lachen. Die Sonne steht hoch, und Philippa absolviert an der Hand ihres Großvaters die üblichen Besuche bei der Verwandtschaft. Nickend setzt sich Maria auf seinen Schoß, und er fährt mit den Fingerspitzen über ihren Oberschenkel.
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