«Und?«, fragt er schließlich, um sich von der Enge in seiner Brust zu befreien.
«Der eine nennt es Freiraum, und dem anderen tut es weh«, sagt sie und schiebt nachdenklich die Unterlippe vor.»Der eine nennt es Liebe, und der andere fühlt sich seines Freiraums beraubt. Richtig?«
«Offenbar hast du schon eine sehr erfahrene geistige Stufe. «Ohne sich an ihrem Stirnrunzeln zu stören, steigt er ein.
Marijke wirft die Reste ihrer Frucht in die Wiese und tut es ihm nach.
«Wie lange noch bis Santiago?«
«Schwer zu sagen. «Hartmut lässt den Motor an und hört im Losrollen einen kurzen trockenen Knall. Zuerst glaubt er, über eine Glasflasche gefahren zu sein, aber das Aufblinken einer roten Warnleuchte lokalisiert das Problem im Motorraum.
«Stimmt was nicht?«Marijke leckt sich die Finger und wendet den Kopf.
«Hast du das auch gehört?«
«Plopp«, macht sie.»Was Ernstes?«
«Jedenfalls blinkt eine Lampe. Wenn wir Pech haben, ist der Keilriemen gerissen.«
«Ich weiß nicht, was das ist. Aber das Auto fährt.«
«Es fährt, aber die Batterie lädt sich nicht auf. Irgendwann springt es nicht mehr an. Ich hab befürchtet, dass so was passiert.«
Sie erreichen die Stelle, an der sie zuvor von der Hauptstraße abgebogen sind. Potes heißt der nächste ausgeschilderte Ort. Bis auf ein leichtes Schleifgeräusch vorne rechts verhält sich das Auto normal. Nach wenigen Kilometern wird das Tal breiter, und die grünen Hänge fallen in sanftem Schwung zum Fluss hin ab. Ein sonniges Bergpanorama tut sich auf. Mehrere Hotels säumen die Straße, sie scheinen in einen Ferienort gekommen zu sein, aber zu dieser Tageszeit dauert es eine Weile, bis sie den ersten Fußgänger erblicken. Ein alter Mann mit Baskenmütze und Gehstock, der überrascht stehen bleibt, als Hartmut neben ihm an den Rand fährt. Marijke steckt den Kopf aus dem Fenster, grüßt höflich und erkundigt sich nach einer Werkstatt. Ihr Spanisch ist ziemlich flüssig. Der Mann grüßt zurück und wirft einen prüfenden Blick ins Wageninnere, bevor er schwungvoll die Straße hinabdeutet. Seine Antwort fällt lang aus und erfordert viele erklärende Gesten. Marijke nickt und bedankt sich mehrmals, nachdem er geendet hat.
«Wir haben Glück«, sagt sie und dirigiert Hartmut an einer Tankstelle vorbei, hinein in eine scharf von der Hauptstraße abzweigende Gasse. Die Werkstatt, die sie nach wenigen Minuten erreichen, ist auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Ein längliches Schild mit zwei zum Piktogramm komprimierten Autos ziert die Stirnseite des Hauses. Es ist das letzte in der Straße, direkt dahinter verläuft der Fluss, an dessen gegenüberliegendem Ufer es steil bergauf geht.
Ein Schäferhund kommt bellend aus dem offenen Garagentor geschossen, als Hartmut den Wagen abstellt. Zum Glück ist er angekettet. Ihm folgt ein muskulöser junger Mann im blauen Overall, der beruhigend die Flanken des Tieres tätschelt, bevor er seinen Blick auf die beiden Ankömmlinge richtet.
«Hola. Buenos días«, sagt Marijke im Aussteigen.
Froh über seine sprachkundige Begleiterin hält Hartmut sich abseits, lauscht ihrer Imitation des Knalls und nickt bestätigend, wenn die dunklen Augen des Mechanikers sich auf ihn richten. Ein vollbärtiger Typ mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht. In einiger Entfernung zeichnet sich das Relief der Stadt ab. Rote Dächer gleißen unter der hochstehenden Sonne. Dicke weiße Wolken schweben wie Zeppeline über dem Ort. Marijke befragt ihr Telefon und liest vom Display ein spanisches Wort ab, das vermutlich Keilriemen bedeutet. Der Mechaniker antwortet einsilbig.
«Ich glaube, du sollst mal die Haube öffnen«, sagt sie.
Hartmut tut, wie ihm geheißen, der Mann beugt sich kurz über den Motorblock und sagt» sí«.
«Der Keilriemen?«Im Innern der Werkstatt sind zwei Hebebühnen und das übliche Ensemble von Werkzeugen und technischen Geräten zu sehen. Ein kleines Transistorradio baumelt an einer Kordel und versorgt den Raum mit Musik.»Kann er’s reparieren?«
«Er will nachschauen. Ich glaube, er ist nicht der Chef hier.«
Der Mechaniker verschwindet nach drinnen, von wo in regelmäßigen Abständen ein hydraulisches Zischen zu hören ist. Marijke schließt Freundschaft mit dem Hund, und Hartmut schaut ihr eine Weile zu, bevor er die schmale Einfahrt hinunter zum Fluss geht. Das diesseitige Ufer ist befestigt, ein Fußweg führt in den Ort hinein. Auf der anderen Seite halten Bäume ihre Äste ins Wasser, als wollten sie die Temperatur prüfen. Hartmut setzt sich auf eine steinerne Bank und denkt, dass es gut war, sich Philippa gegenüber nicht auf einen Ankunftstag festgelegt zu haben. Die Sonne scheint angenehm warm auf sein Gesicht, und die unvorhergesehene Pause stört ihn kaum, beinahe kommt sie ihm gelegen. Es ist ein schöner Tag geworden. Oben in der Einfahrt hört er Marijke Spanisch sprechen, dem Tonfall nach mit dem Hund. Nach ein paar Minuten leistet sie ihm auf seiner Bank Gesellschaft.
«Ein Guter«, sagt sie und wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab.
«Tut mir leid, dass wir jetzt hier festsitzen. Ich hätte früher eine Werkstatt aufsuchen sollen.«
«Hier oder anderswo. Für mich spielt es keine Rolle. «Sie steht auf, beugt sich übers Wasser und taucht beide Hände hinein.»Der Name Potes kommt mir bekannt vor. Jemand hat mir von einem verrückten Heiligen erzählt, den es hier im Mittelalter gab.«
«Warst du viel in Spanien unterwegs?«Hartmut legt eine Hand über die Augen und folgt einem in der Ferne aufsteigenden Berghang bis hinauf zum weißen Gipfelkreuz. Wenn sie damals bei der Kirche Halt gemacht haben, müssen sie durch diesen Ort gekommen sein, aber seine Erinnerung bleibt bruchstückhaft. Den Namen Potes findet er darin nicht.
«Ich war viel unterwegs. Ein paar Mal auch in Spanien, allerdings nie in dieser Gegend.«
«Dein Freund war nicht sauer gerade?«
«Du hast eine witzige Art, Fragen zu stellen. Als würdest du das Thema eigentlich lieber umgehen. «Sie lacht und scheint einen Moment lang versucht, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann richtet sie sich auf und setzt sich wieder zu ihm.»Er sagt, irgendwann muss ich zu meiner Entscheidung stehen. Und dass er nicht ewig warten wird. Nicht ewig heißt natürlich vorerst schon.«
«Die meisten Männer würden weniger verständnisvoll reagieren.«
«Weißt du, was ich versuche? Ihn zu lieben für das, was er ist. Nur ihn. Mir nicht zu sagen, dass es Zeit wird, an die Zukunft zu denken. Mich nicht von Ängsten treiben zu lassen. Ich glaube, ihm das schuldig zu sein, er hat es verdient, aber im Ergebnis führt es dazu, dass ich vor ihm weglaufe. Wie verrückt ist das?«
«So verrückt, wie wenn Männer sagen, ich muss dich verlassen, du bist zu gut für mich. Außerdem ist mir nicht klar, worin der Versuch besteht, jemanden zu lieben. Nach meiner Erfahrung geschieht es entweder von alleine oder gar nicht.«
Sie stützt beide Hände auf die Sitzfläche, drückt den Rücken durch und sieht ihn an.
«Du bist in Ordnung, Hartmut. Man kann mit dir reden. Trotzdem glaube ich, dass man versuchen soll, alles zu entdecken, was einen Menschen liebenswert macht. Es ist nicht immer offensichtlich.«
Bevor er eine Antwort findet, kommt der Mechaniker ums Haus, gefolgt von seinem Hund. Was er Marijke in wenigen Sätzen mitteilt, übersetzt sie Hartmut so: Vorrätig habe er einen neuen Keilriemen nicht. Wenn sie es eilig hätten, sollten sie ihm die Route sagen, dann werde er herausfinden, wo sie das Ersatzteil unterwegs bekommen können. Bis Santiago durchzufahren, halte er für riskant. Er könne den Keilriemen auch selbst bestellen und am späten Abend oder frühen Morgen einbauen. Das sei dann eine Expresslieferung und koste ein paar Euro extra. Während er auf die Antwort wartet, wischt er sich mit einem Lappen über die Finger und fragt sich vermutlich, was die hübsche Blonde und den alten Mann miteinander verbindet.
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