«Es stimmt, ich hab keinen Sinn für landschaftliche Schönheit. Schon gar nicht in den Bergen. «Marijke lässt den Blick über die Felshänge wandern. Der Himmel ist von einer strahlenden Tiefe, vor der die Berge wie ausgeschnitten wirken. Scharfkantig und nah.»Ich denke immer: Wie kann man hier leben? Landschaftlich bin ich total patriotisch.«
Neben dem Parkplatz steht eine zum Kiosk umfunktionierte Holzhütte, dessen Betreiber gebannt auf einen Fernseher starrt. Ein handgeschriebenes Schild verspricht Bocadillos. Hartmut bestellt eins mit Schinken, Käse und roter Paprika und setzt sich auf eine zwischen Feigenbäumen stehende Bank. Der Ruf eines Bussards hallt durch die Luft. Oben in den Gassen des Dorfes spielen Kinder. Seine Kopfschmerzen sind verschwunden, das fällt ihm erst jetzt auf.
Mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand nimmt Marijke neben ihm Platz, rittlings auf derselben Bank. Durch die Blätter fällt geschecktes Sonnenlicht auf ihr Gesicht. Gerne würde er sagen, an wen sie ihn erinnert, aber er will nicht anzüglich klingen. Vermutlich hat sie den Namen Bibi Andersson sowieso nie gehört.
«Was willst du in Santiago machen?«, fragt er stattdessen.
«Nichts Bestimmtes. Ich hab meinem Freund schon häufiger gesagt, irgendwann lauf ich weg, und später komme ich wieder. Der Übergang war zu abrupt für mich. Ich kann nicht plötzlich nur noch sesshaft sein.«
«Das akzeptiert er?«
«Mark ist ein großzügiger und verständnisvoller Mensch. Reifer als ich.«
«Mark. Hast du vor, ihn irgendwann zu heiraten, oder willst du immer wieder weglaufen?«
«Hei-raten«, sagt sie, als könnte man das Wort wie eine Nussschale knacken und den faulen Kern bloßlegen.»Vor ein paar Jahren hab ich mir eine Frage gestellt: Wie viele Männer werden sich noch in mich verlieben? Das war kurz nach der Trennung von dem Bassisten, wann sonst fragt man sich so was. Da wusste ich, dass ich älter werde. Meine Eltern haben nie versucht, mich zurückzuhalten, sondern nur gesagt, denk dran, eines Tages ist die Party vorbei. «Sie nippt an ihrem Kaffee und schaut Hartmut in die Augen. Ungeschützt und nicht so, als würden sie einander erst seit zwei Stunden kennen.»Alle Freunde, denen ich die Geschichte erzähle, stellen mir dieselbe Frage: Liebst du ihn? Du nicht, warum?«
«Es geht mich nichts an. Außerdem wählt man sich erst ein Leben und dann den Partner. Das Umgekehrte funktioniert nur in Ausnahmefällen. Auch wenn die meisten Leute es nicht einsehen wollen — Liebe konstituiert keine Ausnahme.«
«Gesprochen wie ein Philosoph«, sagt sie ohne Spott.»Hast du dich daran gehalten? An die Reihenfolge.«
«Ich ja, meine Frau nicht.«
«Deshalb lebt sie jetzt in Kopenhagen.«
«In Berlin. In Kopenhagen gibt ihre Theatergruppe ein Gastspiel. Wenn du selbst in Berlin gewohnt hast, sagt dir der Name Falk Merlinger vielleicht was?«
«Natürlich.«
«Für den arbeitet sie. Früher war sie sogar mal mit ihm zusammen.«
Marijke legt einen Arm auf den Tisch und stützt das Gesicht in die rechte Hand. Möglicherweise ist es eine Eigenart von ihr, Interesse mit Gesten zu zeigen, die auf den Betrachter gelangweilt wirken. Seitlich auf der Stirn sitzt eine kleine sichelförmige Narbe. Als Kind war sie bestimmt ein Wildfang.
«Ich mag seine Stücke nicht«, sagt sie,»aber in Interviews klingt er interessant. Alternde Rebellen haben was. Es ist ein Traum von mir, mit sechzig Jahren drauf zu sein wie Patti Smith. Notfalls alleine, das wäre es wert.«
Zum ersten Mal fragt er sich, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Es würde passen in die Poesie des Augenblicks, sich am helllichten Tag in einem Hotelzimmer zu lieben und danach das Kennenlernen fortzusetzen. Sonnenstrahlen fielen durch fadenscheinige Gardinen, Marijke könnte die Geschichte zu ihrer Narbe erzählen und er, warum es nicht rebellisch ist, ein Publikum zu bedienen, dessen selbstgerechte Weltsicht der eigenen entspricht. Eigentlich stellt er sich gar nicht den Sex vor, sondern wie es wäre, mit ihr geschlafen zu haben.
«Ich finde«, sagt er, weil sie ihn anschaut, als würden seine Gedanken ihr nicht verborgen bleiben,»du solltest deinen Freund wenigstens anrufen und ihm sagen, wo du bist. Das ist das Mindeste.«
Reflexartig öffnet sie den Mund, um gegen seine Einmischung zu protestieren. Dann klappt sie ihn wieder zu, nimmt das Handy aus der Tasche und geht Richtung Parkplatz. Hartmut sieht ihr nach und beschließt, dass es ausreicht, sich dem Reiz auszusetzen. Besser, als einen Schritt zu tun und zurückgewiesen zu werden. Bevor sie zu sprechen beginnt, dreht sie sich noch einmal nach ihm um, und er winkt ihr unbeholfen zu. Vermutlich wird sie ihrem Freund sagen, sie sei zu einem alten Mann ins Auto gestiegen, der ihr bisher nicht die Hand aufs Knie gelegt habe, und dass sie ihm eigenhändig die Nase brechen werde, sollte er’s doch wagen. Neben einem Baum geht sie in die Hocke, lehnt mit dem Rücken gegen den Stamm und spricht ohne sichtbare Erregung.
Nachdem er sein Sandwich aufgegessen hat, geht er hinunter zur Kirche. Ein schlichtes Gotteshaus mit romanischen Bögen, umgeben von Steinmauern und wild wuchernden Brombeerhecken. Der rechteckige Turm steht etwas abseits, einige Stufen führen hinab zu einem winzigen Friedhof. Schlichte Gräber und frische Blumen. Die hier unter Kreuzen aus Stein oder Eisen liegen, haben lange Namen getragen und lange gelebt; der zuletzt Verstorbene wurde hundertdrei Jahre alt, und sein Name nimmt zwei Zeilen ein. Auf den Steinen stehen keine Grabsprüche, nur die Lebensdaten und wer der Toten gedenkt, meistens ›hijos y nietos‹, Kinder und Enkel.
Hartmut lehnt sich gegen die Steinmauer und schließt die Augen. Spürt um sich herum die flatternden, summenden und raschelnden Bewegungen in einem von der Sonne erwärmten Raum. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er Maria um die Ecke kommen. Im langen Rock schlendert sie an Kirche und Turm vorüber, hat die Arme mußevoll verschränkt und erkundet mit den Augen das leuchtende Gemäuer. Hinterher streitet sie gerne ab, etwas Schönes gesehen zu haben, aber wenn sie sich unbeobachtet glaubt, liegt ein besonderer Ausdruck auf ihren Zügen. Unbeteiligtes Wohlwollen, falls es das gibt. Es muss hier gewesen sein, denkt er, genau hier. Langsam durchquert sie den Vorbau und bleibt vor der hölzernen Tür stehen, auf der die Besichtigungszeiten angeschlagen sind. Sie liest, und er erkennt das unmerkliche Nicken, mit dem sie geschriebenes Spanisch versteht. Die Straße und die Kirche waren in schlechterem Zustand damals, es gab weder einen asphaltierten Parkplatz noch den Kiosk, nur Stille und nach allen Seiten aufragende Felsen. Beim Weitergehen schaut Maria auf ihre Füße, weil sie weiß, dass sein Blick ihr folgt. Jetzt kann sie nur noch so tun, als wäre sie alleine und für sich. Hinter dem verrosteten Eisentor zu seiner Linken führt ein Weg hinunter zum Fluss, wo sie damals im Gras gelegen und dem Gespräch der Pappeln zugehört haben. Er lächelt, und sie lächelt zurück.
Fahren wir weiter? fragt sie.
Kleine grüne Eidechsen flitzen über die Mauer und verschwinden in den Ritzen. Am Fluss wird sie ihn küssen und er sich fragen, was sie in ihm sieht. Nur zu gut erinnert er sich an die Überforderung durch die eigenen Gefühle. Zu stark, um die richtigen Gesten und Worte dafür zu finden. Im nächsten Moment ist die Vision vorbei, weil eine vierköpfige Familie sich der Kirche nähert. Die lauten Stimmen gemeinsamer Wohlgelauntheit. Fotos werden geschossen, der Vater bringt mit seinen Kommentaren Mutter und zwei Töchter zum Lachen, und Hartmut bleibt nichts anderes übrig, als Hola zu sagen und den Ort zu verlassen.
Marijke wartet neben dem Auto und bietet ihm eine frische Feige an.
«Gerade gepflückt. Probier.«
Hartmut piept die Türen auf, dann stehen sie neben dem Wagen, lassen die Hitze entweichen und essen die süßen Früchte. In Rapa wachsen sie entlang der Straße rauf zum Friedhof. Manchmal bringt Maria ihm welche mit, wenn sie ihre Mutter begleiten musste.
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