«Du kennst meine Gründlichkeit«, sagt er.»Ich wollte die Location in Augenschein nehmen. Mich einstimmen auf das Event unseres Wiedersehens. «Damit entlockt er ihr ein mildes Kopfschütteln, und mehr wollte er nicht. Noch einmal springt Philippa zurück an die Theke, holte ihre Jacke und wechselt ein paar Worte mit der Freundin. Im nächsten Moment sitzt sie ihm gegenüber, stützt beide Ellbogen auf den Tisch und bedient sich von seiner Schokoladentorte.
«Dich hab ich so früh nicht erwartet«, sagt er.»Sonst hätte ich zwei Stücke bestellt.«
«Hm, hm«, macht sie mit vollem Mund und schluckt.»Extra deinetwegen hab ich auf die zweite Stunde verzichtet.«
Hier sitzen wir, denkt er. In einem Café in Santiago, Philippa flunkert und isst ihm den Kuchen weg, und er ist einen Moment lang wunschlos glücklich. Sie trägt Turnschuhe, Jeans und außer ihrem Nasenring fast keinen Schmuck, nur ein von der portugiesischen Oma geschenktes Kettchen. Früher einmal hat ihr alles am besten geschmeckt, wenn sie es von seinem Teller stibitzen konnte.
«Hast du schon was gesehen?«, will sie wissen.
«Nur die Kathedrale und ungefähr zehntausend Pilger. Ich wusste nicht, dass so viele Menschen den Jakobsweg laufen.«
«Auswüchse des Massentourismus«, sagt sie verächtlich. Oder ironisch? Beinahe geht es ihm wie kurz nach der Ankunft, beim ersten Gang durch die Gassen. Mehr Eindrücke strömen auf ihn ein, als sein Gehirn verarbeiten kann. Emotionen in kleinen Teilen, die zu ordnen ihn überfordert. Lieber will er einfach sitzen und schauen, seiner Tochter zuhören und reden.
«Und du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Auto gefahren?«, fragt Philippa.»In Mamas letzter Mail hieß es, ihr überlegt, ob ihr zusammen fliegen wollt, hierher oder nach Lissabon. Normalerweise überlegt ihr länger.«
«Diesmal ist meine berühmte Spontaneität mit mir durchgegangen. Stell dir vor, Montagabend fiel der Entschluss, Dienstagmittag war ich unterwegs. Für mein Alter nicht schlecht, oder?«
Philippa schaut ihn an, als überlege sie, ob das, was er verschweigt, sie genug interessiert, um nachzuhaken.
«War’s schön?«, fragt sie lediglich.
«Ungewohnt. Ich bin seit Jahren nicht mehr alleine durch die Gegend gefahren. Genauer gesagt, seit ich mit deiner Mutter zum ersten Mal nach Portugal gereist bin. Das war kurz nach den Kreuzzügen. Habe ich dir schon Bernhards Grüße bestellt?«
Nickend schiebt sie ihm das halb gegessene Stück Kuchen zu und lehnt sich zurück. Ihr Körper ist immer noch so schlaksig wie während der Wachstumsjahre, aber sie bewegt sich selbstbewusst und entschieden. Vielleicht des Jiu-Jitsu-Trainings wegen, mit dem sie in Hamburg begonnen hat. Vielleicht aus keinem bestimmten Grund. Die tausend Fragen, die er stellen möchte, haben sich hinter die Grenzen des Augenblicks zurückgezogen und warten. Falls sein Besuch ihr ungelegen kommt, lässt Philippa sich das nicht anmerken, und da dies nicht ihrer Art entspräche, liegt die Vermutung nahe, dass seine Tochter sich freut, ihn zu sehen. Vielleicht hätte sie sich sogar über einen Besuch in Hamburg gefreut.
«Avô geht’s nicht gut«, sagt sie plötzlich. Für ihre Großeltern in Rapa benutzt sie die portugiesischen Bezeichnungen, auch wenn sie Deutsch spricht. Avô für Artur und Avó Lu für Lurdes.
«Was heißt ›nicht gut‹ — das Herz?«
«João hat gestern eine SMS geschickt. Sie überlegen, ihn nach Guarda zu bringen.«
«Verstehe. Aber wenn João sich einschaltet…«, muss es ernst sein, verbietet er sich hinzuzufügen.
Philippa zuckt betrübt die Schultern und blickt zu den beiden rauchenden Mädchen. Eindeutig das würzige Aroma von Haschisch, das von dort zu ihnen herüberweht. Draußen hat die Sonne das Kopfsteinpflaster vor der Kirche getrocknet. Weiter oben ziehen Touristen und Pilger scharenweise über die Rúa da Porta da Pena.
« Ist es das Herz?«, fragt Hartmut.
«Vor einigen Tagen hat er über Schmerzen in der Brust geklagt und sich am späten Nachmittag ins Bett gelegt. Seitdem verbringt er die meiste Zeit auf dem Balkon, hat eine Hand auf der Brust und verzieht das Gesicht. Wenn Avó Lu ihn fragt, antwortet er, es dauert nicht mehr lange.«
«Das sagt er, seit ich ihn kenne. Das sagt er, so wie andere sagen: Morgen regnet’s.«
«Manchmal regnet’s wirklich. «Eine für seine Tochter untypische Bemerkung. Sie mag keine pessimistischen Anspielungen auf Krankheit und Tod, alles Morbide erregt ihren Abscheu. Draußen besetzen Gäste die Tische vor dem Fenster. Muschelträger natürlich. Seit sie in solchen Massen auftreten, sind sie ihm suspekt. Eine Fraktion unter anderen in der globalen Spaßgesellschaft. Philippas Augen schimmern feucht.
«Machst du dir Sorgen?«, fragt er.
Lächelnd zieht sie die Nase hoch und sieht aus wie Maria als junge Frau. Genau wie ihrer Mutter wäre es ihr lieber, sie würde weniger leicht weinen.
«Wahrscheinlich ist es falscher Alarm.«
«Bestimmt. Mach dir keine Gedanken.«
Als ihr Milchkaffee kommt, nutzt Philippa die Gelegenheit, ihren Vater und die Bedienung einander vorzustellen. Marta heißt sie und ist eine von Philippas Mitbewohnerinnen. Sie fragt, ob der Kuchen schmeckt und noch etwas, das Hartmut nicht versteht. Dann lässt sie die Gäste wieder alleine.
Aus der Ecke der beiden Mädchen ertönt anhaltendes Kichern.
«Tust du das auch gelegentlich?«, fragt Hartmut.»Haschisch rauchen.«
«Ich mag keinen Tabak.«
«Nie probiert?«
«Doch. Aber mir wird schlecht davon.«
«Deine Mutter raucht ab und zu. Ich meine Joints.«
«Alle im Ensemble tun es. Mama noch am wenigsten.«
«Merlinger?«
«Keine Ahnung. Der ist ein Freak und nimmt wahrscheinlich härtere Sachen. «Verächtlich winkt Philippa ab und dreht an ihrem Nasenring. Bei aller Nähe zu ihrer Mutter macht sie keinen Hehl daraus, dass ihr diese Berliner Konstellation nicht gefällt. Maria erzählt, dass ihre Tochter sie regelrecht grille, wenn die beiden einander sehen. Ohnehin ähnelt Philippa in Marias Erzählungen mehr dem früheren Papakind als der distanzierten jungen Frau, die er erlebt. Jetzt schaut sie ihn an, als sei sie in Gedanken noch in Rapa. Ihre Liebe zu den Großeltern und dem Onkel in Lissabon hat etwas von der schicksalhaften Wucht des Wortes ›Blutsbande‹, auch darin ähnelt sie ihrer Mutter. Im Gegensatz zu Maria tut sie allerdings nicht so, als wäre es ihr anders lieber.
«Wenn es ernst sein sollte, fahren wir hin«, sagt er, um sie aufzumuntern.»Nach Rapa oder Guarda. Sind ja nur ein paar Stunden.«
«Und Mama?«
«Ich hab in den letzten Tagen nicht mit ihr sprechen können. Mein Telefon ist tot, und das Ladegerät liegt in Bonn. So oder so müsste sie nachkommen.«
«Weiß sie, dass du hier bist?«
«Bisher nicht.«
«Was ist eigentlich los mit euch?«Ihr verständnisloses Kopfschütteln kennt er nur zu gut.»Seit wann fährst du quer durch Europa, ohne ihr das zu sagen? Stattdessen fragst du mich bei jedem Gespräch, ob ich mit ihr gesprochen habe und was es Neues gibt.«
«Wie häufig das vorkommt!«
«Redet ihr überhaupt noch miteinander?«
«Fernmündlich meistens. Da entstehen immer mal wieder Pausen und tote Winkel. Wie du weißt, hält deine Mutter sich gerade in Kopenhagen auf.«
«Ja? Wenn ich sie fragen würde, wo du bist, würde sie sagen: Der sitzt in Bonn an seinem Schreibtisch, wie immer.«
Die Bedienung wirft ihnen Blicke zu, als Philippas Stimme energisch wird. Vielleicht weiß sie um die schwierigen Verhältnisse im Hause Hainbach und Pereira. Beziehungsweise in den drei Häusern.
«Ich hab mich spontan auf den Weg gemacht, ohne es deiner Mutter zu sagen, weil ich eine Entscheidung treffen muss. «Hartmut macht eine Kunstpause und leert seine Tasse. Um keine Rast einlegen zu müssen, hat er unterwegs wenig getrunken, jetzt glaubt er, eine feine Staubschicht in seiner Kehle zu spüren.»Nämlich diese: Soll ich unser Haus verkaufen und meine Professur aufgeben, um eine Stelle in Peter Karows Verlag anzunehmen? Ja oder nein? Keine leichte Entscheidung, wie du zugeben wirst. Also wollte ich in Ruhe nachdenken.«
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