Ohne anzuhalten, fährt er aus dem Ort hinaus. Die Dörfer beiderseits der Straße werden kleiner und scheinen die natürliche Deckung der Landschaft zu suchen. Schilder mit dem Hinweis ›playa‹ weisen in grünes Dickicht. Einmal glaubt er, sich verfahren zu haben in einem Labyrinth enger Gassen. Die lilafarbenen Blütendolden von Hortensien quellen über bröckelnde Steinmauern. Auf der Suche nach einer Wendemöglichkeit biegt er um die nächste Ecke und sieht das Hotel: dreistöckig, einladend und beinahe zu groß für den Ort. Wie ein auf Grund gelaufener Ozeandampfer sitzt es direkt am Strand und versperrt den Blick auf die Bucht.
Gefunden, denkt Hartmut und lenkt sein Auto auf den hauseigenen Parkplatz. Vor ihm erstreckt sich eine hufeisenförmige, von bewachsenen Felsen umschlossene Wasserfläche. Zwei Segelschiffe liegen vor Anker, wo die Bucht ins offene Meer übergeht. Vor dem Aussteigen wechselt Hartmut sein verschwitztes Hemd, danach bekommt er mit Hilfe von Einwortsätzen und einem freundlichen Lächeln ein Zimmer im zweiten Stock. Vom Balkon aus kann er das Panorama in seiner ganzen Schönheit überblicken: ein breiter Sandstreifen in derselben Vanillefarbe wie die Wolken am Horizont, dazwischen das verschwisterte Blau von Himmel und Meer. Rauschen und verzücktes Kindergeschrei wehen ihm entgegen. Wäre Maria bei ihm, würde sie beide Hände auf das Geländer legen und still die Aussicht genießen. Immer kann er in ihrem Gesicht erkennen, wenn ihr etwas so gut gefällt, dass Worte sich erübrigen.
Erst eine Dusche, beschließt er, dann einen starken Drink gegen die Melancholie ortloser Einsamkeit.
Zwanzig Minuten später nimmt er die Treppe nach unten. Die Bar soll den Eindruck erwecken, dass sich der Gast an Bord eines Schiffes befindet. Blinde Bullaugen und hölzerne Steuerräder säumen die Wände, durch die offene Terrassenfront weht Meeresluft herein, zusammen mit dem Lachen zweier Touristen. Drinnen teilt sich ein älteres Paar eine Zeitung, ein jüngeres schweigt über griffbereiten Handys. Hartmut wählt einen Platz in Thekennähe und lässt sich von einer Laune dazu verleiten, Mojito zu bestellen. Er weiß nicht mal genau, was das ist. Da nur spanische Zeitungen ausliegen, gibt er den alleinreisenden älteren Herrn ohne Deckung, lediglich darum bemüht, die anderen Gäste nicht zu auffällig zu mustern.
Von außen betrachtet wirke jede Ehe skurril, hat Maria einmal entgegnet, als er nach einem Essen mit Hans-Peter und Lori meinte, die beiden seien ein merkwürdiges Paar. Vor zwei Jahren in Bonn war das. Hans-Peter und er hatten eine anstrengende Konferenz hinter sich, Lori und Maria kamen von einem Ausflug nach Aachen zurück. Müde und ohne Lust auf Gespräche saßen sie auf der Terrasse des Hotels Königshof. Der Abend mündete in einen Streit, den Hartmut im Nachhinein als den ersten erkannt hat, der sich an Marias Umzug nach Berlin entzündete. Ein Plan, von dem er damals nichts wusste, weil seine Frau ihn im Stillen erwog und darüber so schweigsam wurde, als schmollte sie grundlos vor sich hin. Sie stritten, Hans-Peter und Lori schauten betreten auf den Rhein. Es endete damit, dass Maria im Taxi zurück auf den Venusberg fuhr und er alleine im Auto. Jetzt beobachtet er, wie die junge Frau nach ihrem Handy greift und zu tippen beginnt. Das hübsche, von kurzen blonden Haaren umrahmte Gesicht erinnert ihn an Bibi Andersson in Persona . Dieselben wachen, empfindsamen Augen. Ihr Mann oder Freund ist ein sportlicher, gut aussehender Typ, der sein Hemd über der Hose und weiße Turnschuhe trägt. Hartmut tippt auf viel Tennis und einen öden Beruf mit Aufstiegschancen. Wahrscheinlich spielt er gelegentlich eine Partie mit dem Chef und lässt ihn genug Ballwechsel gewinnen, um seine Karriere nicht zu gefährden.
Der Anlass ist ihm entfallen, aber irgendwann hat Maria ihm gesagt, warum seine Kommentare gelegentlich vom Ironischen ins Gehässige gleiten: Weil du selbst nicht mehr so jung bist, wie du gerne wärst. Solche Hinweise meint sie nicht vorwurfsvoll, sondern gibt ihm zu verstehen, dass er in ihrer Ehe nicht der einzige aufmerksame Beobachter ist. Persona haben sie vor zwei Jahren zusammen mit anderen Bergman-Filmen auf DVD gesehen, aber von diesem war Maria am tiefsten berührt. Hinterher lag sie in seinen Armen, als müsste sie warmgehalten werden, und meinte, sie könne sich mit beiden Frauen identifizieren. Der hoffnungslose Traum des Daseins. Dass er den ersten Mojito bereits ausgetrunken hat, muss am vielen Eis liegen. Hartmut hält sein Glas in die Luft, und der gelangweilte Barkeeper reagiert sofort.
Was würde er antworten? Wann, wenn je, ist er so jung gewesen, wie er gerne sein wollte? Seins war das typische Los des Spätentwicklers, dessen beste Zeit beginnt, wenn sie bei den Alterskollegen zu Ende geht. Die erste große Liebe mit Ende zwanzig, deren Ende mit Anfang dreißig, und als er mit Maria nach Portugal fuhr, ging er bereits auf die vierzig zu. Dazwischen lag das verbissene Bemühen nachzuholen, was er davor verpasst hatte. Vater wurde er, als die anderen über Ausgehzeiten debattierten, war bei jedem Elternabend der inoffizielle Alterspräsident und zeigte erst nach dem fünfzigsten Geburtstag die Symptome einer Midlife-Crisis. Jetzt schwebt die Sechzig über dem Horizont, und der Unterschied zwischen tatsächlichem und gefühltem Alter wird immer größer.
Beim zweiten Mojito weiß er: Es ist wieder ein Abend, an dem der Durst größer wird mit jedem Schluck. Mit leeren Gläsern in der Hand scheinen auch die beiden jungen Leute zu beratschlagen, ob sie nachordern sollen. Ein rücksichtsvoll fragendes Hin und Her der Augen. Was sie besprechen, kann Hartmut nicht verstehen, aber offenbar sind sie in einem Beziehungsstadium, in dem jeder sich nur mit Entscheidungen wohl fühlt, die vorher wortreich abgestimmt wurden. Mangelnder Begriff von der kommunikativen Erschöpfung, die das nach sich zieht. Das Ausbuchstabieren von Gründen, aus denen nichts weiter folgt als der nächste Begründungszwang. Denn das ist es, was Kommunikation tut, sie produziert die Notwendigkeit von noch mehr Worten.
Nein, würde er Maria antworten. Es passiert, weil niemand da ist, der mich auf andere Gedanken bringt.
Erst als der junge Mann in seine Richtung blickt, fällt Hartmut auf, dass er den Rest seines zweiten Drinks energisch und entsprechend laut durch den Strohhalm zieht. Danach bekommt er Hunger und entschließt sich zu einem für spanische Verhältnisse zu frühen Abendessen. Die Getränke lässt er auf seine Zimmerrechnung setzen und begegnet im Aufstehen dem Blick der jungen Frau. Erneut frappiert ihn die Ähnlichkeit mit Bibi Andersson. Die Fähigkeit, gleichzeitig schüchtern und ein wenig störrisch auszusehen. Die letzte Äußerung ihres Partners scheint weniger geistreich ausgefallen zu sein, als sie gehofft hat. Auf dem Bildschirm über der Theke trägt jemand einen Astronautenanzug, verziert mit den roten Arschbacken eines Pavians.
Dass er den falschen Entschluss gefasst hat, erkennt er schon beim Betreten des leeren Speisesaals. Die Kellner tragen noch Gedecke auf, aber statt kehrtzumachen, setzt Hartmut sich ans Fenster und sieht nach draußen. Die Sonne folgt der Flugbahn einer schweren Kugel, die von den vorspringenden Felszungen ins Wasser fällt. Es ist acht Uhr, am Strand brechen die letzten Familien auf. Er trinkt einen schweren Rotwein zur Vorspeise, einen zum Entrecot de buey und dazwischen einen zum Zeitvertreib. Gestern um diese Zeit hat Géraldine für Bernhard und ihn gekocht, Pilze und frisches Gemüse aus dem Garten ihrer Eltern. Eine äußerlich unscheinbare Person mit einer ansteckenden Freude an kleinen alltäglichen Dingen. Einen Tag später isst er alleine zu Abend und kämpft gegen den Drang, den teuren Wein in sich hineinzugießen wie Wasser.
Als der Kellner fragend auf das leere Glas blickt, schüttelt Hartmut den Kopf und bittet um die Rechnung. Widersteht dem Bedürfnis, das ihn zurück in die Bar zieht, und folgt dem Ruf der Vernunft hinauf ins Zimmer. Es dauert, bis er die spanischen Instruktionen auf der Homepage des Hotels entziffert hat und Zugang ins Internet erhält.
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