›Alles Liebe, dein Papa‹ schrieb er und klickte sofort auf Senden.
Bevor sie ihn auf das Territorium des südlichen Nachbarn entlässt, fordert die Republik Frankreich einen letzten Wegezoll von ihm. Hartmut wirft die Münzen in einen großen Plastiktrichter, dann hebt sich der Schlagbaum, und auf einem Schild steht ›Espanha‹. Das ist alles. Keine Uniformen und strengen Blicke, weder hechelnde Hunde noch griffbereite Schnellfeuerwaffen. Im Hinterkopf begleiten ihn Erinnerungen an das eine Mal, als er in Helmstedt das komplette Programm absolvieren musste: Radkappen abmontieren und sämtliche Wäschestücke einzeln auspacken, während seine sächselnden Peiniger danebenstanden und ausschließlich in Imperativen mit ihm sprachen. Jetzt rollt er unbehelligt von Frankreich nach Spanien und befindet sich im selben Land wie seine Tochter. Seit Ostern hat er sie nicht gesehen, und auch da nur für zwei Tage. Die Hinweise am Straßenrand werden zweisprachig, Rasthof heißt ab sofort ›área de servicio‹ und auf Baskisch ›zerbitzugunea‹.
San Sebastián ist ihm von seiner ersten Portugalfahrt mit Maria in Erinnerung geblieben. Eine schöne Stadt. Mitten im Zentrum der helle Halbmond des Strandes, dahinter eine prächtige Promenade voller Flaneure, die in alle Richtungen flohen, als ein gewaltiger Platzregen niederging. Diesmal sieht Hartmut nur die grauen Mietskasernen der Außenbezirke, dann biegt er ab auf die A 8 Richtung Bilbao. Ein gesprühter Slogan auf einem Brückenpfeiler fordert Freiheit für das Baskenland. Zwei Reisetage hat er eingeplant, mit einem Zwischenstopp an der Costa Verde. Damals sind Maria und er einer ähnlichen Route gefolgt, zunächst am Atlantik entlang und dann über die sonnenverbrannten Hochebenen Kastiliens nach Portugal. Es ist Jahrzehnte her, seit er zuletzt unterwegs war, ohne den Ort seiner nächsten Übernachtung zu kennen. Der Himmel hält sich bedeckt, graue Nebelschleier verleihen den Bergen das Aussehen rauchender Vulkane. Hartmut legt eine neue CD ein, denkt an die vergangenen zwei Tage und genießt das gute Gefühl, einen Freund gewonnen oder jedenfalls vermieden zu haben, ihn zu verlieren.
Den größten Teil des gestrigen Vormittags hat er allein auf der Terrasse verbracht. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und gen Himmel gerichtetem Blick. Drinnen hatte Bernhard seine Geige beiseitegelegt und rumorte in der Küche. Géraldine wollte am Nachmittag eintreffen. Stickig und heiß lag die Luft über der flachen Landschaft. Einmal fuhren Kinder auf ihren Fahrrädern am Grundstück vorbei, ansonsten waren nur Vögel zu hören, Insekten und die tickenden Bewässerungsanlagen in den nahen Maisfeldern.
Nichtstun hat beinahe den Reiz des Verbotenen. Für den Fall, dass er mehrere Tage auf Philippas Antwort warten musste, beschloss Hartmut, wie geplant aufzubrechen und es seinerseits langsam angehen zu lassen. Die Entfernung nach Bonn war ungefähr die gleiche wie nach Lissabon, und er konnte Maria ebenso gut dort bei ihrem Bruder treffen. Jetzt zurückzufahren kam nicht in Frage. Mit dieser Reise verbanden sich Hoffnungen und Erwartungen, die er nicht ausbuchstabieren musste, um zu wissen, dass sie sich noch nicht erfüllt hatten.
Im Dorfgasthof nahmen sie ein spätes Mittagessen zu sich. Wurden von der Bedienung freundlich behandelt und von einer Gruppe alter Männer mit scheelen Blicken bedacht. Der anschließende Spaziergang führte sie unter Pinien entlang über sandigen Heideboden. Weit mussten sie laufen, um den garstigen Kötern zu entkommen, die ihnen aus jedem Grundstück hinterherbellten. Schließlich war vom Dorf nur noch die Spitze des grauen Wasserturms zu sehen. Über den Maisfeldern standen kleine Regenbogen, in der Ferne immer noch schneeweiß geballte Wolken. Als warteten sie auf ihn, seine luftigen Reisebegleiter.
Fliegen umschwirrten ihre Köpfe, als sie schweigend und verschwitzt zum Haus zurückkehrten. Hartmut setzte sich wieder in den Liegestuhl, öffnete den Laptop und traute seinen Augen nicht, als er im Posteingang die Antwort von Philippa sah. In Rekordzeit, ganze drei Stunden nach seiner eigenen Mail.
Verwundert klang sie, aber so gründlich er nach versteckten Vorbehalten fahndete, er konnte keine entdecken. Santiago im Sommer sei die reine Wucht, schrieb seine Tochter. Dass es ihm gefallen werde, könne sie nicht garantieren, aber auf jeden Fall wäre es besser, als alleine in Bonn herumzusitzen. Solle sie seine Mail als unverbindliche Anfrage verstehen, oder sei er bereits in den gewiss mehrstufigen Entscheidungsprozess eingetreten? Für den Fall, dass er ihre Ironie ebenso wenig verstand wie sie die seine, folgte ein gelbes Grinsegesicht. Die Anrede bestand aus einem spanisch flotten Hola, die letzte Zeile lautete: Grüß mir den Rhein und pack die Koffer, Flippa.
«Gute Nachrichten?«Mit einem Glas Wasser in der Hand stand Bernhard in der offenen Terrassentür. Er hatte geduscht und ein frisches Hemd angezogen. Géraldine konnte jeden Moment eintreffen.»Deinem Gesicht nach zu urteilen, ja.«
«Meine Tochter scheint bereit zu sein, mich in Santiago zu empfangen. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, aber was ist heute noch selbstverständlich.«
«Komm mit, ich will dich was fragen.«
«Und das kannst du nicht hier?«
Ohne zu antworten, drehte sich Bernhard um und ging zurück ins Haus. Die Treppe hinauf. Hartmut stellte seinen Laptop beiseite und folgte ihm.
Licht kam aus der offenen Tür des Studios. Beim Eintreten fiel Hartmuts Blick auf einen breiten schweren Schreibtisch. Links und rechts stapelte sich Papier, die Bücher in den deckenhohen Regalen waren alphabetisch nach Autoren geordnet, genau wie früher im Bonner Büro. Als würde er ihn in seiner Sprechstunde empfangen, saß Bernhard auf dem Schreibtischstuhl, schob einen dicken Blätterstapel beiseite und sagte:»Es ist immer wieder verwunderlich, wie viele Wörter man braucht, um ganz gewöhnliche Dinge zu sagen. Wenn man genau sein will.«
Da es keinen zweiten Stuhl gab, blieb Hartmut in der Tür stehen. Draußen fielen Sonnenstrahlen durch die Wolken wie durch ein japanisches Papierfenster. Ein paar Feldhasen hoppelten zwischen den Bäumen umher.
«Deine Arbeit der letzten Monate?«, fragte er.
«Es gibt noch mehr. Ich bin dabei, mich umzugewöhnen, das braucht Zeit. Man schreibt anders, wenn man sich an niemanden richtet. «Bernhard nahm ein paar Blätter in die Hand, als wollte er sie wiegen, und legte sie wieder zurück.»Manchmal denke ich, dass ich ganz neu schreiben lernen müsste.«
Gegen den Türrahmen gelehnt, fühlte Hartmut sich in die Position von Peter Karow versetzt, letzte Woche im Verlag. Mit verschränkten Armen musterte er den Mann auf dem Stuhl und war nicht sicher, was in dessen Kopf vor sich ging. Das Zimmer berührte ihn seltsam. Aufgeräumt, vorzeigbar und gleichsam startbereit, aber der Blick aus dem Fenster ging auf nichts als Pinien und offene Felder. Nur dann ein guter Ort zum Arbeiten, wenn man seine Aufgabe genau kannte. Von einem Foto über dem Schreibtisch lächelte ihn eine Frau mittleren Alters an. Ihr freundliches ovales Gesicht wurde umrahmt von braunen Haaren. Sonnenstrahlen machten die Ränder unscharf, im Hintergrund verschwamm das Meer.
Bernhard folgte seinem Blick und nickte.
«Wir haben uns kennengelernt, als sie Freunde besuchte, die in Mimizan ein Haus besitzen. Zu viert sind sie eines Abends in die Bar gekommen und wollten Wein kaufen. Einen ihrer Freunde kannte ich flüchtig. Der meinte hinterher, er habe es darauf angelegt, uns zusammenzubringen.«
«Zwei Kinder, die schon studieren, hast du gestern gesagt. Dafür sieht sie ziemlich jung aus.«
«Beim ersten war sie zwanzig. Jetzt sind beide aus dem Haus, und Géraldine ist immer noch jung genug, was Neues anzufangen. Beinahe wie in deinem Witz. Als Lehrerin will sie nicht mehr lange arbeiten. Das möbliert ihr Leben nicht, wie man auf Französisch sagt. Treffendes Bild — das Problem ist immer, wie man’s einrichtet.«
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