«Heißt das, du wirst nicht mit diesen beschissenen Baukästen spielen?«, fragt sie.
«Doch. Sobald du sagst, dass du mir nicht mehr böse bist wegen gestern.«
Ihr Seufzen ähnelt dem, das ihre Söhne zu hören bekommen, wenn sie dieselbe Bitte nach dem dritten Nein ein viertes Mal vorbringen. Die Augen beschreiben einen Kreis, die Schultern ebenso. Ruths Unfähigkeit zu lügen ist bemerkenswert.
«Nicht mehr lange«, sagt sie.»Reicht das?«
«Weil Weihnachten ist. «Er nimmt ein weiteres Gurkenstück und geht zurück ins Wohnzimmer.
Auch die letzte Stunde des Abends verbringen sie wie immer: sitzen mit vollen Bäuchen um den Wohnzimmertisch und singen. Florian spielt Flöte, und Felix hält sich die von Fondue-Öl verbrannte, in einem Salbenverband steckende Hand. Wenn Hartmut so tut, als hätte er den Text vergessen, wirft Ruth ihm einen strengen Blick zu. Zwischendurch wandern ihre Augen zu der wackeligen Konstruktion zwischen Bücherwand und Ofenbank, einem lockeren Zusammenschluss von Metallteilen, der vage Ähnlichkeit mit einer Brücke aufweist. Hartmut fühlt sich träge und zufrieden. Am Baum brennen wieder die Lichter. Seine Gedanken sind woanders.
Vor zwei Tagen hat sie von einer öffentlichen Telefonzelle aus angerufen, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen. Jetzt hört er sich und die anderen singen, schließt die Augen, und das Licht wird morgenblau wie am Tag ihres Besuchs. Als Maria schon halb im Schlaf neben ihm lag und blinzelte, wenn er sie küsste. Er war müde, wollte trotzdem nicht schlafen und hörte draußen die Müllabfuhr durch den Hinterhof rumpeln. Eine Frage hatte ihn durch die ganze Nacht begleitet. Der kleine Widerhaken, der auf merkwürdige Weise den Genuss noch steigerte. Lag die Antwort in der Art, wie sie ihn hinterher an sich zog? Mit einer Hand bedeckte er ihre Augen und fragte. Noch einmal huschte ein Lächeln über ihre Züge. Die Andeutung eines Kopfschüttelns. Ob er sie denn gar nicht kenne? Sie habe schon seit dem Kuss in Ost-Berlin nicht mehr mit Falk geschlafen.
8 Am späten Sonntagmorgen stehen sie zu dritt neben dem Auto. Vogelgezwitscher füllt die wärmer werdende Luft, und über Wiesen und Maisfeldern hängt ein trockenes Knistern. Géraldine hält sich abseits, während die beiden Männer einander umarmen, auf den Rücken klopfen und baldiges Wiedersehen geloben. In den Platanen ringsum spielt der Wind.
«Jederzeit. «Bernhards Handbewegung deutet an, dass sein Haus für Hartmut so offensteht wie die Tür, durch die sie eben nach draußen gegangen sind.»Egal, ob alleine oder mit Maria. Notfalls sogar mit Vorankündigung.«
Einen Moment lang halten sie einander an den Schultern, und Hartmut denkt, dass es sich eher nach Aufbruch als nach Abschied anfühlt.
«Informiert mich rechtzeitig über den Termin«, sagt er.
Géraldine löst die Verschränkung ihrer Arme und tritt auf ihn zu.
«Merci«, versteht er, und dass sie sich gefreut habe, seine Bekanntschaft zu machen. Sein Besuch sei ein Vergnügen und für Bernhard wirklich wichtig gewesen. Lächelnd küsst sie ihn auf beide Wangen und bewegt sich mit einem jugendlichen Schwung, der ihn an Maria erinnert. Das blaue Sommerkleid passt gut zu ihrer schlanken Statur und den glatten langen Haaren. Im Zurücktreten legt sie die Hand auf eins der gestern aufgestellten Warnschilder: Propriété privée, chasse strictement interdite! Dann gibt es für niemanden mehr etwas zu tun, außer den Abschied um einige Sekunden hinauszuzögern durch diese oder jene Bemerkung.
«Du weißt Bescheid, bei Tartas auf die Schnellstraße, dann immer Richtung Bayonne. «Bernhard deutet nach Südwesten.»Grüß deine Tochter, wenn du ankommst. Sie ist natürlich auch eingeladen.«
«Nochmals danke für alles. «Beim Öffnen der Fahrertür schlägt Hartmut Hitze entgegen, aufgeladen mit dem Geruch von warmem Kunststoff. Er spielt mit dem Schlüssel in der Hand und glaubt, wie immer im letzten Moment, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
«Soll ich mit dem Fahrrad vornewegfahren?«, fragt Bernhard.»Dich aus dem Ort geleiten?«
«Du fährst Fahrrad?«
«Ich besitze eins. Letztes Jahr gekauft, als ich plötzlich Angst bekommen habe, einzurosten. «Er zuckt mit den Schultern und schaut zu seiner Freundin, die ein bisschen Deutsch versteht, aber in diesem Fall den Kopf schüttelt.
«Nicht nötig, mein Navigationsgerät kennt den Weg. «Hartmut steckt den Schlüssel ins Zündschloss und lässt auf beiden Seiten die Fenster runter. Handy, Laptop, Charles Lins Arbeit — im Geist geht er die letzten fünf Minuten durch und vergewissert sich, dass er alles eingepackt und in den Kofferraum geladen hat. Er ist bereit zur Abfahrt. Eigentlich wollte er längst unterwegs sein.
«Wir sehen uns. «Mit der linken Hand verscheucht er ein Insekt, bevor er sie winkend aus dem Fenster streckt. Bernhard und Géraldine stehen nebeneinander wie Sandrine und er auf dem Foto aus Hannibal, Missouri: nah und doch nicht nah. Seit er letzte Nacht die Schallplatte angehört hat, geistern die beiden Stimmen durch seinen Kopf und geben ihm das merkwürdige Gefühl, sich selbst zuzuhören über einen Graben von dreißig Jahren hinweg. Von einem Moment auf den anderen freut er sich darauf, den ganzen Tag unterwegs zu sein.
«Bon voyage«, sagt Géraldine.
«Grüß Breugmann, wenn du ihn siehst, und sag ihm, ich…«Der Rest geht unter im Lärm des anspringenden Motors. Gleich darauf stehen zwei schmale Gestalten in Hartmuts Rückspiegel, werden kleiner und erinnern ihn an eine frühere Abreise, er weiß nicht mehr wann und von wo. An der nächsten Kreuzung biegt er ab, passiert eine Reihe unbewohnt aussehender Häuser und fährt aus dem Dorf hinaus. Richtung Spanien.
Eine Stunde später sind es bis zur Grenze nur noch wenige Kilometer. Bayonne, Biarritz und ein kurzer Tankstopp liegen hinter ihm. Hartmut hat die Karte studiert, Reifendruck und Ölstand kontrolliert und sich davon überzeugt, dass der gelegentlich aufkreischende Keilriemen noch intakt ist. Die Hilfe des Navigationsgeräts benötigt er vorläufig nicht, San Sebastián ist bereits ausgeschildert. Die Landschaft wird hügelig, in der Ferne tauchen wie mit Kreide gezeichnet die ersten Ausläufer der Pyrenäen auf. Ausgeschlafen fühlt er sich, betrachtet die vorbeitreibenden Weinberge und freut sich auf das immer wieder erhebende Gefühl, eine Landesgrenze zu überqueren, die kaum als solche zu erkennen ist. Nachdem er dem französischen Staat zwei Euro zwanzig für die Benutzung seiner Autobahn entrichtet hat, leuchtet über der Straße eine Anzeige auf: Espagne 12 MN. Als wäre Spanien eine Straßenbahn, in die er in zwölf Minuten einsteigen kann.
Die Aussicht, in zwei Tagen Philippa wiederzusehen, trägt viel zu seiner guten Stimmung bei. Gestern Vormittag hat er ihr endlich geschrieben. Mit dem Laptop auf den Knien saß er im Liegestuhl und hörte von drinnen die dissonanten Laute von Bernhards Geigenspiel. Passend zu den Kopfschmerzen zwischen seinen Schläfen. Ohne sich mit Auskünften zur bisherigen Reiseroute aufzuhalten, hat er seine Tochter gefragt, ob sie beschäftigt sei mit dem Sprachstudium oder Zeit habe, ihren alten Vater durch Santiago zu führen. Kurz entschlossen habe er sich ein paar Tage freigenommen und überlege, sie zu besuchen. Maria werde vermutlich nachkommen. Wenn es ihr nicht passe, solle sie das sagen, dann freue er sich auf ihren Besuch in Bonn. Bevor er die Mail abschickte, überflog er den Text und prüfte den Ton. Klangen die Zeilen weder aufdringlich noch zu beiläufig, sondern nach der Anteilnahme eines geduldig aus der Ferne liebenden Vaters? Seit zwei Jahren versucht er sich selbst an der kurzen Leine zu halten, wenn er Kontakt mit Philippa aufnimmt. Mit dem Umzug nach Hamburg hat seine Tochter begonnen, die Beziehung zu ihren Eltern neu zu ordnen, in Marias Fall zum Besseren, aber dass sie von sich aus in Bonn anruft, ist selten geworden. Meldet er sich bei ihr, kämpft er mit dem Gefühl, sich ungebeten in ihr Leben einzumischen. Es gibt viel, das er gerne fragen würde, aber immer weniger, worüber sie reden. Oder bildet er sich das ein? Entgleitet seine Tochter ihm oder leidet er am typischen Phantomschmerz des Vaters, dessen Rolle auf eine Art Bereitschaftsdienst reduziert wurde?
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