In der Prager Wohnung stand mir logischerweise ihr Prachtzimmer zu. Es war großartig, ein wahrhaftes Geschenk des Himmels — ich fühlte mich kurzzeitig wie nach einer epochalen Eroberung. Bleiben wollte ich zu Hause aber auf keinen Fall. Alle machten mir sowieso direkt oder indirekt Vorwürfe, obwohl der Schlaganfall bei unseren Vorfahren kein seltenes Ereignis war — und der Schlaganfalltod bei uns als der schönste von allen galt, oft sogar herbeigewünscht wurde.
— Ausflug, Ausflug, das hat sie jetzt von deinem blöden Ausflug, Georg.
— Das hätte sie umbringen können, hörte ich hinter einer Tür.
— Sie hat doch das ganze Leben furchtbar viel geraucht.
— Trotzdem.
manchmal lief der mann gleichzeitig in zwei entgegengesetzte richtungen
Ich war in meinem früheren Leben von Frauen — bis auf einige kurze Intermezzi — dauerhaft umstellt, und wenn ich dabei von ihren Röcken, Gerüchen, gleichzeitig auch von Sheldrakeschen Feldern ihrer Freundlichkeit umwedelt wurde, mußte ich nie fürchten, mir könnte etwas Schlimmes zustoßen. Direkt von ihnen gingen in meinem Fall nie ernste Gefahren aus — offen verletzende Aggressionen sowieso nicht. Ihre kleinen Verstimmtheiten oder leichten Eitelkeitsanfälle ängstigten mich ebenfalls nicht. Was aber regelrecht rettend war: In allen wichtigen Phasen meines Lebens fand sich im richtigen Moment das richtige weibliche Wesen an der passenden Stelle ein. Als ich einmal auf der offenen breiten Plattform eines Straßenbahnanhängers stand, hielt ich mich, wie oft, nicht fest. Die Plattform lag in der Mitte des Wagens, man fühlte sich dort ausreichend geborgen und vor unerwartetem Rauswurf geschützt. Die Fahrten zu meinem Vater waren furchtbar lang, führten durch die ganze Stadt, und ich kannte die vielen Stationen, Streckenabschnitte und alle ihre Problemstellen so gut wie auswendig. Trotzdem paßte ich nicht immer auf. Die Straßenbahnen wurden damals teilweise von jungen, im zweimonatlichen Schnellkurs angelernten Kräften» gelenkt«. Im Grunde brauchten diese Leute nur» Gas «zu geben oder zu bremsen — und hatten laut Straßenverkehrsordnung außerdem überall und immer Vorfahrt. Und weil diese Kolosse wegen ihrer Masse sogar von Lastwagenfahrern respektiert wurden, hätten sie durch die Stadt theoretisch in aller Ruhe gondeln können. Die jungen Wagenlenker wollten aber oft auch etwas schneller fahren als erlaubt, hatten sich alleSchwachstellen der besonders tückischen Kurven und alle Problempunkte der scheinbar geraden Strecken noch nicht fest eingeprägt. Oder sie vergaßen beim Träumen über ihre Zukunft einfach, daß auch die nötigsten Ausbesserungen und Begradigungen der Schienen sich immer noch in der Planungsphase befanden. Oft zuckten der Triebwagen und dann die Anhänger unerwartet heftig zur Seite. Die Räder ratterten und rumsten dabei — und der noch mit viel Holz ausgekleidete Wagenkörper quietschte laut. Einmal bewahrte mich vor einem Hinauswurf auf die Straße eine ältere Dame, die direkt vor mir stand. Diese dickliche Person hielt sich auch nicht fest, wir beide wären beinah unter die vorbeifahrenden Autos geschleudert worden. Die Frau fand im letzten Moment den Griff am Rand der Plattform, und ich, der kurz davor noch konzentriert in die Ferne gesehen hatte, stolperte erst einmal über ihre abgestellte Tasche. Auf die weichgepolsterte Frau fiel ich deshalb etwas verspätet, dafür mit zusätzlicher Energie. Die Straßenbahn war in voller Fahrt, der rasende Abgrund ganz nah. Die Frau kommentierte den Vorfall mit dem folgenden Satz: — Du wärest wenigstens auf etwas Weiches gefallen.
In meinem Schreck bedankte ich mich für die Rettung nicht einmal. Beim Nachdenken war ich nie der Schnellste und konnte auch in diesem Moment aus mehreren Gründen nicht sofort reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, grübelte ich, nicht auf der Frau, sondern neben ihr auf der Granitpflasterung zu landen, wäre um ein Vielfaches größer gewesen. Und auch wenn ich mich an der Dame festgekrallt hätte, hätte es bei dem entscheidenden Aufprall auch ganz anders kommen und ich als Pflasterpuffer unter ihr enden können. Trotz aller dieser Bedenken habe ich ihre Liebenswürdigkeit nie vergessen.
«Die Frau wählt«- das wußte ich von meiner mich besonders in Liebesdingen schulenden Mutter seit langem. Meinezukünftige Frau, die ich eines Tages tatsächlich auch heiraten sollte, wohnte im gegenüberliegenden Haus in einer Dachgeschoßwohnung. Wir trafen uns im allerletzten Moment, beide waren wir über fünfundzwanzig, und ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in einem miserablen Allgemeinzustand — war trotz ausreichender Nahrung ausgezutscht, ausgezehrt und ausgenervt. Außerdem war ich gerade dabei, meine nächste panische Prag-Flucht zu planen. Ohne diese entscheidende Begegnung wäre ich höchstwahrscheinlich — wenn nicht direkt in meiner schönen Stadt, dann eben woanders — auf die eine oder andere Art zu Grunde gegangen, im besten Fall wäre ich in einer psychiatrischen Klinik voller netter Schwestern gelandet. Dort hätte man mich allerdings garantiert mit den damals üblichen Hammermedikamenten ruhiggestellt und entsorgungsnah endtherapiert. Aus mir wäre irgendwann eine aufgedunsene stumpfruhige Kugel geworden, wie aus einem meiner Freunde aus meiner schulischen Clique.
Lange Jahre meiner Kindheit hatte ich meine zukünftige Frau leider nie zu Gesicht bekommen. Die länglichen schmalen Fenster ihrer Dachgeschoßwohnung in der Mickiewiczstraße waren relativ hoch angesetzt. Aus meiner Sicht verbrachte das gutbehütete Mädchen ihre gesamte Kindheit unterhalb der Fensterkanten. In ihrer Wohnung sah man immer nur einen alten weißhaarigen Mann aufstehen und sich wieder hinsetzen, außerdem und noch viel öfter einen jüngeren erwachsenen Mann, der allerdings sehr beweglich war. Man sah ihn dauernd durch die Wohnung schießen, manchmal war er gleichzeitig in zwei Räumen zu sehen, lief dabei oft in zwei entgegengesetzte Richtungen. Später kam heraus, daß es sich bei diesem Mann um ihn und seinen Zwillingsbruder handelte. Eine erwachsene Frau sah man in den Fenstern der Wohnung nie, ein Kind eben auch nicht. Die beiden Männer fielen auch noch wegen einer besonderen Eigenart auf: Der eine oder der anderestreichelte gern sein eigenes Gesicht, fuhr mit der Hand regelmäßig und ausgiebig über seine Wangen, Lippen und seinen Hals. Dieses meist morgendliche Ritual in der Fensternähe war voller Zärtlichkeit und spielte sich offenbar vor einem von uns aus nicht einsehbaren Spiegel ab. Vielleicht praktizierten diese Gesichtsmasturbation abwechselnd sogar beide der Zwillinge. Mein Onkel, der stolze Besitzer des ersten elektrischen Rasierapparates aus heimischer Produktion, hatte für diese scheinbare Selbstverliebtheit eine einfache Erklärung:
— Der Mann rasiert sich sicher woanders in der Nähe einer Steckdose und sucht dann am Fenster nur die übriggebliebenen Härchen.
Das gegenüberliegende Haus war insgesamt um ein Stockwerk niedriger als das, in dem sich unsere Wohnung befand — aus dem Grund wohnten ich und meine zukünftige Dachgeschoßfrau ungefähr auf gleicher Höhe, in der gleichen Etage sozusagen. Wir waren praktisch so etwas wie Flurnachbarn. Mein Interesse an der gegenüberliegenden Dachwohnung und ihren männlichen Bewohnern hatte noch einen sachlichen Grund: Ausgebaute Dachgeschosse sah man in Prag damals selten, in meiner Gegend waren sie auf alle Fälle etwas Besonderes. Daß ich über diese Familie etwas mehr wußte, als ich mir aus meinen Beobachtungen zusammenbasteln konnte, verdankte ich Tante Erna, die in ihrer Distanzlosigkeit im ausgedehnten nachbarschaftlichen Umfeld viele gute Kontakte unterhielt. Sie sprach — schamfrei wie sie war — trotz ihres undefinierbaren Akzents und ihrer manierierten Anglizismen Menschen an, die sie in der Gegend regelmäßig traf, und fragte sie geradeheraus nach ihrem Befinden, dem Befinden ihrer Mitbewohner und nach allen ihr als klärungsbedürftig vorkommenden Neuigkeiten. Auf diese Weise kannte sie den gesamten kiezrelevanten Tratsch fast vollständig. Da sie auch über uns alles mögliche erzählte, alles, was ihr erzählwürdig vorkam, bekam unsere Wohnung nach und nach Glaswände. Ich könnte in diesem Zusammenhang einige Sprüche aufzählen, als Beispiel müßte einer von Tante Györgyi reichen:
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