Erna hat gar nichts gesagt, bloß genickt. Bloß»ja ja «hat sie gesagt.
Einmal ist er morgens zu ihr gekommen und hat gesehn, dass sie gar keine Tabletten genommen hatte. Und da hat er die Schachtel aufgemacht und selber alle genommen, erst die für morgens, und dann für mittags und dann das dazwischen und dann abends, bevor das wieder Mecker gibt. Außerdem wollte er mal wissen, wie die schmecken, besonders die rosanen, ob die auch so was auf der Zunge machen. Aber die haben gar nicht geschmeckt, und die andern auch nicht, die weißen waren ganz bitter. So wie die hier. Als dann die Schwester kam, ging das Erna schlecht, sie konnte gar nicht hochkommen aus ihrem Sessel und hat immer so mit der Hand auf ihrer Brust hin- und hergemacht.
«Menschenskind, Frau Mehling«, hat die Schwester gesagt, die doofe,»warum nehmen Sie denn auch Ihre Tabletten nich, hab ich Ihnen das nich gesagt, das nutzt doch alles nix, Sie müssen die doch nehmen, die helfen nämlich nich, wenn die bloß so da rumliegen auf Ihrem Küchentisch, ist denn das die Möglichkeit, horre nee!«
Und Erna hat bloß gesagt:»Ach, Schwester, ick vergäät dat joo ümmer.«
Und dann ist die Schwester in die Küche gekommen, wo er gesessen hat, und hat gesagt:»Wat willst du denn schon wieder?«, und hat auf die leere Schachtel geguckt, und ihm ging das auch schlecht, aber er hat sich nichts anmerken lassen, sonst hätte die doch wieder losgemeckert.
«Die hat die ja doch genommen!«, hat sie gesagt und mit dem Kopf geschüttelt.»Verkalkt uch langsam aber sicher.«
Gar nich, hätte er am liebsten gesagt, gar nich wahr, Erna verkalkt gar nich, aber dann hätte sie das ja gemerkt. Als sie aus der Küche raus war, ist er nach Hause gerannt, aber er konnte nicht, er konnte gar nicht schnell rennen, und dann ist er auf der Treppe gestolpert, und dann hat er da gelegen und alles vollgekotzt. Und Oma hat ihn ins Bett gebracht. Und am Montag brauchte er nicht in die Werkstatt, nicht in die Werkstatt zu den Bekloppten.
An dem Tag, als das passiert ist, als er — na, als er das mit dem Geld — das mit dem Geld gemacht hat, hatte Erna auch nicht ihre Tabletten genommen. Und er hat gesagt,»Erna, deine Tabletten«.
«Ja ja«, hat sie gesagt. Und dass sie jetzt zum Friedhof geht. Und ob er nicht mitkommen will.
«Nö«, hat er gesagt,»hast du Pudding?«
«In Isschrank, weitst joo.«
Ja, wusste er. Der Pudding war im Kühlschrank, das Geld war im Pulloverschrank. Aber wenn das nun weg war. Vielleicht war das gar nicht mehr da, vielleicht war das jetzt in einem neuen Versteck, vielleicht war das weg, weggeklaut, die doofe Schwester, die hatte das vielleicht weggeklaut. Er konnte gar nicht den Pudding aufessen. Er musste gleich nachgucken, gleich nachgucken, er wollte ja bloß mal nachgucken wollte er doch bloß. Und Erna hat gleich gedacht, er will das klauen, als sie reinkam und» Henry!«gesagt hat und er das ganze Geld in der Hand hatte, das ganze. Das war gar nicht im Portemonnaie gewesen. Als er den Schrank aufgemacht hat, hat er gewusst, jetzt ist es weg. Aber als er dann mit seiner Hand durch die Pullover gewühlt war, da hat er auf einmal irgendsowas aus Papier gemerkt und hat das rausgezogen, und das war so ein Briefumschlag. Und da war das ganze Geld drin, viel mehr als im Portemonnaie, bestimmt tausend Mark oder eine Million, bestimmt so viel, wie Stefans Vater für Stefans Moped bezahlt hat, oder bestimmt noch mehr. Und Erna wollte sich doch gar kein Moped kaufen oder so was, Erna hat sich doch nie so was gekauft. Und Oma würde ihm nie so viel Geld geben, nie in ihrem ganzen Leben und in seinem.
Aber dann hat Erna» Henry!«gesagt und hat ihn erschreckt, richtig erschreckt hat sie ihn, die Olle. Weil sie gedacht hat, er will ihr das Geld klauen, die olle Erna.
«Wat hest du denn an min Schap tau seukn, segg eis! Büst du nich miehr ganz orntlich? Wat fummelst du da mit min Geld rüm? Giww eis dat Geld her!«
Aber er hat ihr das nicht gegeben, das Geld, und dann ist sie zu ihm hin und wollte ihm das wegnehmen, das Geld, wollte ihm das wieder wegnehmen.
«Ich wollt doch bloß …«, hat er gesagt, aber da hat sie ihm schon eine gescheuert gehabt und» So, dat hest nu davun!«gesagt und:»Nu giwwst du mi glieks dat Geld!«
Aber hat er nicht, er hat bloß seine Arme vor sein Gesicht gehalten, weil sie noch mal hauen wollte, und dann hat sie noch mal gehauen und immer bloß»Henry! Henry!«, und dann war ihm das über, und dann hat er sie weggeschubst, so mit dem Arm. Er wollte das ja nicht. Dass sie gleich hinfliegt und so. Und das hat ganz schön gerumst, als sie mit dem Kopf an den Tisch geknallt ist und da gleich die Vase umgekippt ist und das ganze Blumenwasser raus. Und er hatte Angst, dass das einer vielleicht gehört hat, vielleicht noch. Und dann lag sie da so auf dem Teppich. Und er ist runter zu ihr und hat gesagt:»Erna!«Und er dachte, dass sie jetzt vielleicht tot ist.
«Erna!«, hat er gesagt und sie geschüttelt,»wach mal auf, Erna!«
Und dann ist Erna aufgewacht und hat ihn angeguckt und geschrien, gleich losgeschrien hat sie.»Hülfe! Helpt mi doch! De Bengel späält verrückt! Helpt mi doch!«
«Hör auf!«, hat er gesagt.»Hör auf jetz, Erna!«
Aber sie hat bloß geschrien und wollte hoch, aber er hat sie nicht gelassen, sonst wäre sie doch weggerannt. Und hätte das überall erzählt. Dann hätten das doch alle gemerkt. Und er hat sie festgehalten, und sie hat geschrien, die olle Erna, die blöde Fotze, die olle Hexe, die!
«Olle Fotze!«, hat er auf einmal gesagt, ganz laut. Und dann hat er ihr eine gescheuert, damit sie aufhört.
«Hüür up, Henry, hüür up!«, hat sie immerzu geschrien.»Gooh wech, mook, dat du wechkümmst!«
Aber er durfte sie nicht loslassen, aber sie musste mit dem Schreien aufhören. Er hätte sie gerne noch mal gegen den Tisch gerumst, damit sie aufhört. Aber ging nicht.
«Halt die Schnauze!«, hat er gesagt.
Und dann hat er die Blumenvase genommen, die schöne Kristallvase, die immer so schön glitzerte, und ganz bunt, wenn da die Sonne draufschien, so alle Farben auf einmal, und dann hat er ihr mit der Blumenvase eins übergehauen. Bloß damit sie aufhört.
Aber sie hat nicht aufgehört. Und dann hat er noch mal auf ihren Kopf draufgehauen, und noch mal, immer auf ihren Kopf drauf, immer auf sie drauf, und noch mal, bis das Blut rausgekommen ist. Und dann noch mal. Damit sie nicht wieder anfängt.
Und dann war das ganz ruhig auf einmal.
«Erna?«, hat er gesagt.
Aber Erna hat nichts gesagt. Sie hat bloß da so gelegen auf dem Teppich. Dann war gut. Nein. Nein.
Nein. Garnichtgarnichgarnicht. Gar nicht wahr. Sie hat doch was gesagt. Hat sie doch. Sie hat doch gesagt, oder nicht, hat sie doch gesagt. Ist nicht so schlimm, Henry. Macht doch nix. So wie Oma.
Er wollte nach Hause rennen. Wurde schon fast ein bisschen dunkel draußen. Aber Erna, aber er musste doch nach Hause, wenn das dunkel wurde. Aber Erna, aber er konnte sie doch nicht wieder aufwecken. Erna hatte die Augen gar nicht richtig zu. Aber sie sollte doch richtig schlafen. Bis die Schwester morgen kommt, bis die Schwester sieht, was los ist, dass Erna das wieder schlecht geht, weil sie ihre Tabletten wieder nicht genommen hat. Er hat ein bisschen an Ernas Wimpern gezogen, damit die Augen richtig zugehen, bloß so ein bisschen, hat sie gar nicht gemerkt.
Hat sie auch gar nicht gemerkt, als er ihren Rock ein bisschen hochgezogen hat, weil da doch wieder so eine Laufmasche war, so eine graue, und er wollte bloß mal sehen, wo sie hinläuft. Immer höher. Bis wo die Strumpfhose zu Ende war, wo sie über Ernas Hemd rübergewurschtelt war.
Bloß mal sehen wollte er das, wieso das kein Loch war, was das für ein Loch war. Und jetzt, wo Erna schläft, kann er sich das doch mal angucken, mal in Ruhe angucken, hat er gedacht. Er zieht sie ihr dann auch gleich wieder an, die Strumpfhose.
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