Lodas hielt die Echse fest, seine rechte Pranke lag auf ihrer rechten Hinterbacke, drückte sie nach rechts, damit er besser hinkam, wo er hinwollte; sie zischte lüstern, damit er ihre Neugier nicht störte.
Es kam ihr vor, als sähe der tote Herrscher ihr direkt ins Gesicht, als er verkündete, was nach der langen diasporischen Zeit übriggeblieben war von der Lehre Bene Gente:»Verflucht sind, die da Inzest fürchten, Klonen meiden, Pläne fliehen, denn ihrer ist die Langeweile. Verflucht sind, die nicht wissen, was sie wollen, denn andere müssen ihre Schulden begleichen. Verflucht sind die Trägen, denn sie werden sich vervielfältigen, ohne je gelebt zu haben. Verflucht sind, die da in die Follikel zurückzukriechen suchen, aus denen sie gekommen sind, denn sie werden der Zukunft die Zinsen wegfressen, noch bevor der Hahn auf der Wehrmauer sich dreimal erbrochen hat. Verflucht sind die Naturschützer, denn sie werden enden wie die Cotylosauria, die sie sich zum Vorbild nehmen. Verflucht sind die Timiden, die Quietisten und Opportunisten, denn sie werden sich in den Tentakeln des Selbstverständlichen verheddern und darin umkommen. Verflucht bin ich aber vor allem selber, denn ich erkläre noch der Nachwelt Sachen, die man nicht erklären, nur erarbeiten kann. Aber die Lähmung verurteilt die Gelähmte, die Lüge wird zum Gefängnis der Lügnerin und das feige Herz stirbt am eigenen Gift.«
Lodas Osier lachte laut, weil ihm die Vorführung, die er nicht verstand, so gut gefiel.
Seine Geliebte lachte nicht; sie wurde nachdenklich.
5. Die Verdammten
Padmasambhava wollte immer wieder wissen, wie Frau Späth war, was sie vorhatte, und am wichtigsten:»Wann kommt sie denn?«»Regulär«, sagte Sankt Oswald, als habe er soeben auf einer Uhr oder in einem Kalender nachgesehen,»rechne ich erst in ein paar Jahrzehnten wieder mit ihr. Aber in mir kribbelt ein Verdacht, daß sie sich diesmal früher blicken läßt.«
«Der Grund dafür…«
«Bist du. Sie wird dich abholen, denke ich, oder dich irgendwohin schicken, wenn deine… Erziehung abgeschlossen ist. «Die Auskunft war stets dieselbe, und immer reichte sie hin, um das erneute Nachhaken ein paar Unterrichtssitzungen weiter hinauszuschieben.
Padmasambhava versuchte, nicht allzu erregt in Erwartung der großen Dinge zu leben, die Frau Späth für sie vorgesehen haben mochte, und suchte sich andere Beschäftigungen.
Die riskanteste unter diesen war die Politik.
Analyse und Aneignung der allgemeinen Grundsätze der Verwaltung der Burgen waren in wenigen Stunden zu leisten, die schönen Phrasen der Verfassungen dieser Stadtstaaten (»Plebiszite lehnen wir ab. Wer nur das Recht hat, ja oder nein zu sagen, gibt bereits die Sprache her«,»Ein primitiven Zahlenschlüsseln gehorchendes repräsentatives System wäre für die angemessene Selbstverwaltung unzulänglich, daher haben wir uns geeinigt, daß…«) lernte sie in Sekunden auswendig. Die Struktur des gouvernementalen Organogramms zu begreifen dagegen fraß immerhin zwei Wochen: Führungsausschüsse, Generalausschüsse, Generalsekretariat des Kongresses, Regionale Komitees, Basiskongresse, der supraterritoriale Generalkongreß in der Burg I, die virtuellen Sitzungen der Bünde und Vereinigungen, zum Teil geordnet nach sogenannten Berufen oder Zünften (die es ja längst nicht mehr gab). Als Padmasambhava das alles aufgenommen hatte, besorgte sie sich gegen den anfangs entschiedenen, dann immer kleinlauteren Widerstand ihres Lehrers Unmengen kostspieligster Software, die ihr am Ende nur verriet, was sie gleich geahnt hatte: Da sie nun schon vier Jahre in der Burg lebte und auch alle andern Burgen besuchte, wie es ihr paßte, da sie Anteil hatte an der Produktion, der Verteilung und dem Verbrauch von Gütern, da sie mit den Aristoi Meinungen und sexuelle Gefälligkeiten tauschte, kam ihr de facto der Status einer Vollbürgerin zu, wenngleich er ihr nicht formell verliehen worden war.
Gewohnheitsrecht, zum Teil sogar in schummrigen Hypertextwinkeln der Verfassungsdokumente locker kodifiziert, sorgte dafür, daß es ihr freistand, eine politische Plattform zu gründen, eine Kampagne loszutreten, und genau das tat sie.
Aus ethischen, ressourcenökonomischen, ästhetischen und anderen Erwägungen, so forderte die von Padmasambhava initiierte Forengruppe, der sich überraschend schnell viele lokale Aristoi, ja sogar Eon und Raphaela anschlossen, sei das experimentum crucis so bald wie möglich einzustellen.
Als die Adligen erst einmal begriffen hatten, daß sie hier keineswegs dazu überredet werden sollten, die Tore der Burgen für endlose Flüchtlings- oder Geschädigtenhorden zu öffnen, da es vielmehr Padmasambhavas, wie sie sagte,»heiligstes Ziel «war, daß die Leute in den Gräben nicht etwa unter die Burgenzivilisation subsumiert werden, sondern endlich Gelegenheit erhalten sollten, ihre eigene Zivilisation zu gründen, als also klar wurde, daß der Spaß niemanden ernstlich etwas kosten würde, war ihr der Sieg sicher.
Ein bißchen Leben kam nur noch kurz vor der Ratifizierung der entsprechenden Kongreßbeschlüsse in die Diskussion. Da nämlich legte jemand eine Untersuchung vor, wonach die Stilllegung der Erdstoßvorrichtungen im Innern des Marsmantels möglicherweise Instabilitäten zur Folge haben könnte, die für eine Weile die Statik der den Gräben nächstgelegenen Burgen belasten würden.
Erdbeben, bei uns?
Ein Gezeter brach los, auf das Padmasambhava glücklicherweise längst vorbereitet war. Sie parierte mit einer glänzenden Rede vor dem supraterritorialen Generalkongreß:»So ist das also. Dieselbe Unruhe wie immer, wenn die Leute in den Räten kalte Füße bekommen. Wir sind verloren, nicht wahr? Am Ende. Verdammt als adlige Individuen, verdammt als Gemeinden, verdammt als Burgenbewohner, verdammt als Zivilisation. Wir müssen sofort handeln, nämlich mit aller Energie geplante Handlungen unterlassen. Wir müssen schwere Entscheidungen treffen. Soll heißen: Wir müssen einen Ausschuß bilden, wir müssen einen Bericht abfassen, wir müssen einen Plan machen und Millionen von Arbeits- und Rechenstunden ausgeben, damit alles wieder in Ordnung kommt, nämlich einfach so bleibt wie zuvor, denn das Vorhaben, unseren simpelsten ethischen Ansprüchen an uns selbst wenigstens einmal in tausend Jahren zu genügen, bringt nur alles in Unordnung, läßt dem Verderben freien Lauf. Wir werden zerquetscht werden unter den Rädern dieses furchtbaren Unglücks. Wir müssen daher umgehend akkurate Statistiken der Erdbebenhäufigkeit auf der alten Erde aus den Archiven kramen, wir müssen Graphiken zeichnen, wir müssen einen Schritt zurückgehen und das Ganze aus der Ferne noch mal objektiv betrachten, möglichst lange, möglichst kontemplativ, wir müssen erst einmal ein Mandat von künftigen Generationen einholen… nein, meine Freunde, das alles müssen wir nicht. Was so spricht, ist nichts als ein Schuldgefühl, das sich als Angst vor Strafe äußert. Uns — nun, einigen von uns — beginnt sehr spät zu dämmern, was für ein Unrecht hier begangen wurde, und das Verhängnis, vor dem wir uns fürchten, ist in Wahrheit nichts als die Züchtigung, von der wir glauben, sie verdient zu haben. Aber die Evolution, das sollten alle wissen, ist keine moralische Anstalt, und dieses Parlament ist keine Schule, die Verhaltensnoten ausgibt. Alles, was wir tun müssen, ist das praktisch und technisch Richtige. Das Vernünftige. Und wenn zu den Kosten gehört, daß wir die Statik der Burgen überprüfen und verbessern, dann hat das doch manchen Nebennutzen — etwa den, daß wir gegen künftige Meteoriteneinschläge und deren Folgen besser gerüstet sind. Es gibt überhaupt keinen Grund, sich zu fürchten. Nicht einmal das Urteil der Nachwelt steht unserer freien Entscheidung im Weg — wir werden diese Nachwelt nämlich, das scheint man zu vergessen, selbst erleben. Die meisten von uns haben noch viele Jahrhunderte vor sich! Also warum nicht anständig handeln, um darauf lange, lange stolz zu sein?«
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