«Ich frage dich lieber nicht, wozu ich das alles brauche«, sagte die Echse,»aber es wär schon lieb, wenn du mir zum Lohn für die Torturen wenigstens erklärst, was ich sonst so wissen will, auch wenn es sich um Dinge handelt, die… weitab liegen von Musik und Mathematik.«
«Was wüßtest du denn gern?«neckte er sie.
«Geschichte.«

Also gingen sie gemeinsam, unterstützt von einer wahren Sintflut an altem Bild- und Tonmaterial, die seine Spintronik barg, noch einmal den gesamten Gang der Angelegenheiten des Lebens seit der Befreiung des Gentegenoms von den Zwängen der Langeweile durch — erstens im Gröbsten: wie der Löwe zu seinen proteischen Mitteln gekommen war und woher er seine prometheischen Zwecke hatte; warum man so lange gebraucht hatte, die Menschen, obwohl sie bereits besiegt waren, aus den Ökotekturen zu drängen; wie man auf die Offensive gegen die menschlichen Hände verfallen war; welche Rolle dabei ihr Vater gespielt hatte; wie dieser und Lasara die Luchsin zusammengekommen waren; dann die große Landnahme durch die Keramikaner; der Exodus auf den Mond; die nächste genetische Selbstverwandlung als Parallelschöpfungsakt der Bewohnbarmachung von zugleich Venus und Mars; endlich die Saat — sie und ihr Geschwister —, die erst aufging, als die kontinuierliche Beobachtung aus sicherer Entfernung die erwarteten Neuigkeiten von der Erde brachte.
Als zweites ging's in die Details, darunter vor allem die strategischen und taktischen der kleinen und kleinsten Wendungen des allgemeinen Geschicks:»Also, das alles, daß sie da knapp dem Tod von der Schippe gesprungen sind, die vier — na ja, bis auf den armen Storikal —, das war von Ryuneke ausgeheckt, deshalb kam Hilfe zwar spät, aber doch gerade noch rechtzeitig, richtig?«

«Selbst Katahomenleandraleal war eingeweiht, ja«, erklärte Sankt Oswald, hörbar nicht frei von Bewunderung für die Winkelzüge der Puppenspieler jener weit entfernten Vergangenheit,»und der Sinn…«, das konnte Padmasambhava nun ohne Mühe selbst ergänzen:»…der Zweck war, für alle, die im Pherinfonnetz hingen, die heroische Statur von Anubis, Huan-Ti und Hecate hervorzuheben: Sie hatten den Keramikanern die Stirn geboten, sich mit ihnen geschlagen, wie wir das hier in den Gräben tun. Also wäre es jedenfalls keine Feigheit, diesen dreien auf den Mond zu folgen. Der Exodus, hieß die Botschaft, ist keine Flucht, sondern die kühne Tat von…«
«Von Helden, ja«, flüsterte die Gliederpuppe. Der leise Ton sollte sagen: Es ist alles lange her, und man hat immer noch daran zu tragen, wenn man's erlebt hat.
«Noch eine Frage.«
«Ja, mein Reißzahn?«
«Der Wolf. Dmitri Stepanowitsch Sebassus. Ich verstehe nicht, daß… ich meine, warum hat er sich breitschlagen lassen, zu dieser Selbstmordmission, zum Mord am Löwen, von Lasara, wo er doch — ich meine, aus herzinnigster Liebe kann das nicht gekommen sein. Und daß sie schwanger war, hat er ja nicht gewußt.«
Sankt Oswald lächelte geheimnisvoll, fast böse:»Und warum kann's aus herzinnigster Liebe nicht gewesen sein?«
«Philomenas vierzehnte Chronik, die, sagen wir… erhärtet wird durch verschiedene Kommentare zu den Gesprächen zwischen der Fledermaus und dem Löwen, besonders die Epsilon- und Tau-Nachschriften, und die Dokumente der Wolfsliederabteilung, das Brittpapier…«
Meiner Treu, dachte die Gliederpuppe, im Bibliographischen macht der Kleinen keiner mehr was vor.
«…da findest du unmißverständlich, daß Lasara nicht, also, dieser untreue Hund da…«

«Wenn ich mir die Sachen durchlese und die Oper von den Fliegenden Katzen anhöre, die Apis Olmy Seeer auf dem Mond geschrieben hat… Es gibt, wenn ich das richtig sehe, Fraktionen der Forschung, die sich völlig sicher sind, daß er vorhatte, nach allem… wenn die Gefahr irgendwann vielleicht… er wollte zu ihr zurückkehren. Nach Princeton. Also, warum hat er sich von der Luchsin zum Königsmord verführen lassen?«
«Was dir fehlt, ist Psychologie. Es gibt mächtige Emotionen wie schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, Dankbarkeit, Vertrauen, Hoffnung, Lust, die…«
«Wem gegenüber? Lasara?«
«Vielleicht. Das Herz der Langlebigen ist nicht weniger kompliziert, als das einfacher Sterblicher immer war, du kennst doch deinen Shakespeare. Und die kryptischen Sentenzen, die von der Comtesse überliefert sind, die kennst du auch: ›Ist nicht die Imagination unsere Rettung? Ich habe gebaut und gebaut und gebaut. Ich sammle alles, was damit zusammenhängt.‹ Pietismus, Quietismus…«
«Es klingt, als hätte sie sich langsam eingemauert. Und wäre dann im Gemäuer frömmelnd verblödet, mit dem… Gesammelten. Vielleicht war er nicht bei ihr, weil sie ihn gar nicht wirklich zu sich lassen wollte. Auf Armeslänge… Vielleicht… Imagination… das klingt, als hätte sie nicht gewußt, daß die Gefühle und Gedanken der Fühlenden und Denkenden dem ähm… Kosmos einerseits völlig gleichgültig sind, solange sie lediglich gefühlt und gedacht werden, aber andererseits die größte Macht im All darstellen, wenn man sie lebt… wenn man danach handelt. Wenn man, na du weißt schon, küßt und weint und lacht und was wagt und streitet, statt zu sammeln und zu träumen und sich zu verstecken.«
«Du sprichst«, er lächelte,»von dir und deinem Mut, nicht mehr von Dmitri oder Alexandra. Warum ist er nicht mehr zu ihr, warum behielt sie ihn nicht bei sich; fand er ein zweites, geläutertes Glück bei der Löwentochter? Es gibt, meine Liebe«, Sankt Oswald machte eine ausladende Armbewegung, die sozusagen im Raum zwischen ihnen die virtuellen Speicher der gemeinsamen Synergspintronik andeuten sollte,»über diese Frage Foren und Großforschungsprojekte, Bände und Aberbände — es geht uns hier in den Burgen mit dieser Art Frühgeschichte wie den alten Kung-Fu-Forschern der Langeweile mit der Frage, warum Bodhidarma von Indien nach China oder China nach Indien gegangen ist oder wie oder was das damals war.«
«Bodhiwer?«
«Die Antwort, mein Kind, weiß nicht einmal Frau Späth.«
Die ultima ratio der Auskunftsverweigerung: Darauf schwieg Padmasambhava.
Sankt Oswald aber riet ganz richtig, daß das keineswegs bedeutete, daß sie ihre Neugier in diesem speziellen Punkt aufzugeben bereit war; sie hatte bloß beschlossen, Frau Späth eines Tages persönlich mit dem Problem zu konfrontieren.
4. Bene Gente
Zwei Tage nach Esprit ging im heiligen Mischwald kein Lüftchen.
Lodas führte seine rote Herrin auf den Hügel, wo gestern noch der herbe Wein vergossen worden war, um ihr zu zeigen, was die Reisenden aus den andern Burgen hier am liebsten mochten. Es war frühmorgens, durchsichtig kühl, ein Kußwetterchen, das eben erst heraufzog, ließ die Liebenden wohlig erschauern. Sie legten sich zwischen zwei blühende Judasbäume, auf Grünes, unter Rosaschimmerndes, und fingen an, einander abzulecken wie die trägen Panther auf den Treppenstufen des Tempels von Kapseits, vor so vielen Jahren. Bald setzte das, was aus ihren Poren drang, das alte holographische Programm in Gang, und auf Laubstreu, in Alkoholpfützen, neben ausgebrannten Feuern, am Kreis aus Steinen erschien als hohe kalte Flamme der Löwe und sprach donnernd, warm, voll alter, unsterblicher Macht zu denen, die sich vor ihm liebten, weil dieses lebendige Bild so eingerichtet war, daß man sich lieben mußte, um es abzurufen:»Denkt nur nicht, ferne Nachkommen, daß ihr bei euch sagen könntet: Wir haben Cyrus Golden zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag dem Cyrus Golden aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.«
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