Mit Unruhe hatte sie gerechnet, darauf war sie gefaßt gewesen, dagegen hatte sie sich gestählt.
Aber was sie in den Gesichtern des Publikums sah, als sie sich zwang, genau hinzuschauen, war schlimmer: ein träges Unverständnis, eine faule Art Irritation — nicht einmal die Abweichung vom vorgesehenen Redestil wurde wirklich registriert, man fand wohl nur, sie spreche zu lang und dazu noch von Dingen, die allenfalls von esoterischem Interesse waren. Am schwersten traf sie Sankt Oswalds Miene, der sie sich zuwandte, um sich dran aufzurichten: Was sie da sah, war weder Sorge noch Zorn noch sonst eine vertraute Regung, die wiederzuerkennen ihr Halt geboten hätte, sondern nichts als Mitleid.
Die Veranstaltung, die ihren Sieg hätte feiern sollen, war auf eine schwer greifbare Weise Schauplatz ihrer Niederlage geworden — schon konnte sie sich die Meinungen vorstellen, die gerade in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer Gestalt annahmen: Sie ist immer noch nicht zufrieden, wir haben das experimentum gekappt, was will sie noch? Mit Worten, denen sie selbst kaum noch zuhörte, brachte sie, vom Sonnenlicht erleuchtet, als wäre sie ein glühender Brennstab, die Rede zu Ende:»Alles, was ich sage, ist: Die Information steht im Raum. Die Erde schweigt, das ist eine Mitteilung. Keine elektromagnetische Strahlung mehr, keine Radiowellen, keine thermischen Fluktuationen, die auf Industrie hindeuten. Sie ist verstummt. Sie wirkt von außen, wie vor tausend Jahren Mars und Venus wirkten. Wir werden uns dazu verhalten müssen. Ich danke euch.«
Spärlicher, höflicher, also gehässiger Applaus.
Ein rascher Abgang, eine schweigsame Fahrt zurück ins Hotel, eine rührend hilflose Geste des einzigen Freundes — er gab ihr die Hand und drückte sie, bevor er auf sein Zimmer ging —, eine heiße Dusche, ein Seufzer, und dann geschah, als Padmasambhava sich gerade hingelegt hatte und nur noch schlafen wollte, lange, ewig schlafen, etwas, das ihr seit dem Verlassen der Gräben nicht mehr widerfahren war: Das Buch des Lebens meldete sich, ohne aufgerufen worden zu sein.
«Du solltest schnell nach Hause fahren, Padmasambhava.«
«Streust du jetzt auch noch Salz in meine Wunden? Ich weiß selbst, daß ich hier nicht mehr angebetet…«
«Nein, nicht deswegen. Du hast Besuch. In deinem Haus.«

1. Fischfang und Floristik
Im dritten Oberdeck, genau zwischen den beiden blauen Augen des von Zagreus gesteuerten Walhais, die alles, worauf sie gerichtet wurden, sehen, versengen und vernichten konnten, leicht abgesenkt gegen die Augenebene, gab es einen Aquariumstorus, der, wenn er auch erheblich kleiner war, äußerlich stark dem Reifen glich, in dem einst die Borbrucker Koryphäengruppe des Zanders Westfahl Sophokles Gaeta getagt hatte.
Darin schwammen Fische — eine Seltenheit auf der Venus, sowohl unten am Boden wie hier oben, in den höheren Schichten der Atmosphäre. Vor langer Zeit, als die Siebenvierer mit ihrer Arbeit eben erst begonnen hatten, waren sie von Pilotschwärmen begleitet worden, von fliegenden Dorschen und gelben Haarquallen, aber die meisten dieser Erben der alten Atlantiker hatten sich nach einer Weile auf dem Venusboden niedergelassen; aus ihnen waren dann die Vaschen und Salamander hervorgegangen.
Zagreus, der Klappstuhldachs, stand vor dem Wasserring und wies kleine Roboter an, ein paar Dutzend Sardinen zu fangen, die keine Sprache hatten — er wollte sie Feuer auftischen, wenn der von seiner Kundschafterreise in die Stadt der Minderlinge zurückkehrte. Der Anblick von Maschinen bei der Arbeit beruhigte Zagreus sehr.
Er fischte gern, jagte mitunter auch, kochte nicht weniger oft mit Fleisch als der Vasch Wempes, der vermutlich beim Überfall der Minderlinge auf Feuers Zuhause ums Leben gekommen war.
Wir tun, was funktioniert, dachte Zagreus, auch wenn es gefährlich ist und wir alle Nebenwirkungen und Kollateralschäden kennen. Wir züchten Lebewesen für ausgesuchte Nischen, Geschöpfe, die keine Sprache haben, und rechnen schon mit dem Leiden, das wir verursachen werden; aber es geht nicht anders — auf der Erde war's genauso, daher wissen wir, daß es geht, daß man auf diese Weise eine Ökotektur einrichten kann.
Wie groß die Verschwendung ist, gemessen an anderen denkbaren Lösungen, läßt sich nicht simulieren, nicht nur, weil bei uns alle Rechenzeit für praktische und kurzfristige Dinge gebraucht wird, sondern wohl auch aus prinzipiellen Erwägungen.
Was tu ich, wenn ich den Jungen einweise, in sein seltsames Schicksal? Aus schönen Altertümern schöpfend, in einer Sprache, die der Neudachs neben vielen andern beherrschte, versuchte das Archivwissen sich an einer Antwort:»Weitoffen in einer anderen Strömung auf leichtem Fuß. / Schrill und verwickelt treiben die Dinge an dir vorbei. / War da irgendein Mythos der all dem entspricht? / War da irgendein Mythos / irgendein Mythos der / Sprich.«
Spreche ich? Was tu ich? Auf Mythen ganz allgemein schimpfen, um die sprechenden Mythen gegen die stummen zu verteidigen, denn nur die sprechenden Mythen helfen übers Mythische hinaus, nichts sonst kann das.
Ich gebe die empfangene, zum großen Teil unverstandene Gewalt der historischen Tatsachen, der Mythen, die sprechen, unter deren Gesetzeskraft ich gelebt und mich eingerichtet habe, an einen Jüngeren weiter, als wäre das ganz recht so. Sieh nur zu, Prinz, daß du nicht allein bist wie ich, wenn einmal das Alter kommt.
Zagreus wußte, daß er der bald der letzte sein würde, der sich noch daran erinnerte, wie es draußen gewesen war, oben — nicht auf der Erde, nicht auf dem Mond, diese Geschichten lagen viel zu lange zurück, aber doch in den orbitalen Venushabitaten, während der geduldigen Beschießung des Planeten mit zukünftigen Lebensgrundlagen. Dort, am Rand des Leerraums, war er geboren worden, an Bord eines der langen Schiffe, von denen schon am Tag ihrer Fertigstellung festgestanden hatte, daß ihr letzter Flug mit dem Absturz enden sollte, mit dem Zerschellen.
Die kleinen Fische waren jetzt erfolgreich zusammengetrieben, ein Kescher sammelte sie ein, ein runder Deckel schloß sich, als sie herausgeholt waren. Zagreus dachte: Ich weiß mehr, als Feuer je wissen wird, über die Gründe und Hintergründe seines Wegs, und könnte doch nicht sagen, wozu er ihn eigentlich beschreitet und wie es sich von innen anfühlt, er zu sein. Macht mich dieser Abstand böse? Hat irgendwer das Recht, jemand anderen in etwas zu verwickeln, das eigentlich niemand versteht?
Er denkt, ich wäre sein Kompaß, dabei weiß ich die Richtung nicht.
Immerhin, die Fische sahen gut aus: Das gab, fand Zagreus, mehr als genug für den Jungen, der ja nicht größer war als eine alte irdische Hauskatze — nach Designspezifikationen, die Lasara vor sehr langer Zeit mit ihren Genetikern entwickelt hatte, war auf der Venus alles etwas kleiner als auf der alten Welt, die Neudachse kaum mäusegroß, er selbst, das große Klappern, brachte weniger Masse auf die Waage als ein kleines Fahrrad zur Zeit der späten Langeweile.
Zagreus vermißte seine Hütte und den Garten; er hatte, wie er sich jetzt eingestehen mußte, nach einem langen und nicht unerfüllten Einsiedlerleben eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, seine Rolle als Mentor und Begleiter Feuers auf dessen Findefahrt noch einnehmen zu müssen.
Wichtig waren ihm, im Lauf der Zeit, ganz andere Dinge geworden: das praktische Nachvollziehen der ersten Funde Darwins etwa — mit dem Strohhalm Opuntienblüten berühren, um ein bestäubendes Insekt zu imitieren, das es auf dieser Welt nicht gab; Isolations- und gezielte Migrationsstudien auf kleinster Fläche, simulierte genetische Drift… Einen Erkenntnisgewinn hatte er sich davon nie versprochen, aber eine seltsame Erweiterung seines Ichs schenkte ihm diese Beschäftigung, ein Aus-sich-heraus-mit-sich-allein-Sein, das er jetzt eingetauscht hatte gegen etwas viel weniger Persönliches: die tätige Verwaltung des Erbes der Gente, die ihm vor allem zugefallen war, weil zu den vielen Gesichtern Lasaras immer auch das einer Paranoikerin gehört hatte — schon daß es Zagreus überhaupt gab, war ein Beleg dafür. Er gehörte zu einer bis auf ihn selbst auf der Venus ausgestorbenen und auf dem Mars nur mehr an den Polen aktiven Serie von Biomechanoiden, die für den Fall gebaut worden waren, daß es unmöglich sein sollte, die relativ erdnahen Planeten zu besiedeln, und die Gentenachkommen deshalb im All würden ausharren müssen.
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