«Reib Bier bis…«
Sie hörten nicht auf, die Lauten, die Schrägen, die Irren.
Erst hatte er diese kleinen Schreier für Eichhörnchen gehalten, weil sie von Ast zu Ast sprangen, sich in die Rinde krallten, da hockten, ihn narrten. Dann sah er einen davon segeln, fliegen, drei Meter weit, zweieinhalb in der Höhe, die Flügel ausgebreitet, schwarzgefiedert. Endlich erkannte er den schlanken Leib — und hätte fast gelacht, über die rosa Nase und die winzigen Ohren: Silber- und weißgestromt war das Tier, ein Kurzhaar. Die blaue Siam, die so etwas wie die Anführerin zu sein schien, erkannte er als nächstes, die rief» Rot ist alles!«, und aus Gebüschen tuschelten zwei Perserinnen, die weiß leuchteten wie frisch gewaschenes Segeltuch:»Rabenbrut des Todes, schwarzer Gang!«
«Soll mir das jetzt angst machen?«bellte Dmitri heiser.
Geflügelte Katzen — wenn je ein kapriziöser Unfug war, dann dieser.
Dmitri rieb sich den Straßenschmutz der letzten zwei Wanderwochen am Stamm einer Zeder aus dem Fell und dachte: Immerhin war ich gewarnt. Der Vogelfreund des Löwen ist Genetiker, die mögen solche Scherze. Geflügelte Katzen, zum Schreien.
«He Ritter Hunger!«piepsten die Katzen, immer darauf bedacht, in Rufweite zu bleiben, dem Wolf aber nicht zu nah zu kommen. Sein Kragenfell stellte sich auf, er spuckte auf den Boden. Sie haben recht, ich könnte wirklich mal was futtern. Allerdings keine Flatterkatzen und sicher nichts, was die anbieten, selbst wenn sie Eier legen und mir braten würden.
«Wo willst du hin, blöder Köter?«Mit krausen Schnurrhaaren, spitz aufgestellten Flügelchen und trotzigem Blick hatte sich dem Wolf ein Drahthaarkätzchen in den Weg gestellt. Es buckelte, zischte und senkte seinen Kopf, um von unten her möglichst bissig hochzugucken. Dmitri fand's vor allem drollig.
Er beschloß, es mit Verbindlichkeit zu probieren:»Ich will… zu eurem Chef, nehme ich an. Der euch gemacht hat.«
«Uns hat keiner gemacht. Und uns macht keiner kaputt«, sagte die Kleine. Ein Grinsen: Die clownesk verzerrten Züge waren unheimlicher, als das Tier selbst zu wissen schien. Gab's hier gleich ein Gerangel mit dem Flederwisch? Aber die Haltung der Katze entspannte sich. Sie hob den Kopf wieder und schnupperte — Duftpost. Die Katze zeigte ihre Zähnchen; wie sie es hinbekam, daß das diesmal nicht bissig, sondern freundlich aussah, fragte sich Dmitri verdutzt. Sie hob das Näschen und sagte:»Fein. Komm mit. Durchs Dörfchen.«
Dann drehte sie sich um. So fließend war diese Bewegung und so selbstgewiß, daß Dmitri gar nicht anders konnte, als ihr artig zu folgen.
Das Dörfchen, stellte sich heraus, war diesen Namen nicht wert: Ein paar umgefallene Fassaden, eingeknickte Dächer, verkommene Rasenflächen davor, zwischen kurvig schmalen Straßen.»Zwergensiedlung«, fiel dem Wolf ein, und daß höchstens die Dachse aus diesem Trümmerfeld noch etwas hätten machen können, vielleicht eine Kaserne.
Das Kätzchen sagte:»Die Schlausten haben hier gewohnt.«
«Die schlausten was?«
«Na Menschen«, sagte das Kätzchen und verließ hinter einem flachen Steinbau mit bemoosten Säulen den zusammengewürfelten Parcours.
«Über zwei Kämme noch«, erläuterte das kleine Wesen.
Was immer das für ein Distanzmaß war, der Tonfall klang nach weiterer Beschwernis.
Anderthalb Stunden später hing dem Wolf die Zunge lang zur Schnauze raus. Sein Blick haftete fest am Boden, wo er nach Kraut suchte, aus dem er etwas Flüssigkeit hätte saugen können.
Vor ihm kratzte etwas, knirschte wie Kiesel.
Er schaute zu dem Kätzchen hin, das ihn weit hinter sich gelassen hatte; der Abstand betrug jetzt sieben Wolfslängen. Dmitris merkwürdiger Geleitschutz spannte seine Schwingen auf, sprang hoch, sprang noch mal, und wieder, mit jedem Satz ein bißchen weiter. Ein rasches Zusammenklappen der Flügel, wie ein Händeklatschen, dann ein Entfalten, Zittern, und das Tierchen flog.
«He, wohin?«Einen winzigen Augenblick lang verspürte der Kurier des Löwen Furcht, man könnte ihn ins Nichts geführt haben, oder in eine Falle.
Da warf die Katze sich schon nach links und stürzte sogleich aus mühelos erreichter, recht großer Höhe wieder auf ihn zu, mit ausgefahrenen Krallen — greift sie mich an? — und rief:»Schau doch, vorn, da ist es schon! Das Labor!«Sie flog einen gestreckten Bogen, sauste über ihn hinweg — zurück zum Wäldchen; und war fort.
Dmitri schüttelte den Kopf und sah in die Richtung, die ihm angewiesen war.
Da stand eine der hübschesten Ruinen, die er, der viele davon kannte, je gesehen hatte. Das also war übriggeblieben von der Anlage, die ihm der Löwe drüben, vor Monaten, im Aufriß gezeigt hatte: beige Brocken, eine Fassade voll zwiebeliger Arabesken, ein Turm aus vergessenen, zusammengerosteten Fahrrädern. Ranken und Flechten schäumten um alle Mauern, lichte Höfe öffneten sich zum Himmel hin, eine große Aula lag still, wie schlafend.
Dmitri beeilte sich; bald stand er vor dem Haupthaus.
Sollte der Wolf erwartet haben, hier nun von ernsthafteren Leuten als den Flatterkatzen in Empfang genommen zu werden, sah er sich getäuscht. Nur ein paar Grillen zirpten, ein Hase sagte» Hi, Dicker!«und verschwand im Kraut. Also erst einmal alles auskundschaften, abschreiten?
Seminarräume, aufgeplatzte Vitrinen im rückwärtigen Kasten, Patio, Galerie, ein Ladedock mit eingedellten großen Zylindern und elefantösen, verplombten Metallsärgen, voller wahrscheinlich immer noch giftiger chemischer Abfälle. Aus dem Leim gegangene Gewächshäuser — die Flora hatte sich in die Umgegend ergossen, es sah aus, als fiele Blattwerk aus allen Fensterfronten —, eingestürzte Treppenaufgänge. Das Foyer des Hauptwürfels war wie durch Göttergnade unversehrt geblieben: Geputzt hatte hier seit langem niemand. Westlich der Parkplätze mußte eine Bombe eingeschlagen sein. Im Krater fand sich ein an allen Rändern viel zu perfekt abschüssiger Teich, an einigen uneinsehbaren Stellen bewaldet, mit schwarzglänzendem Wasser. Die Sonne stand jetzt an ihrem höchsten Punkt, die Hitze war lächerlich, der Durst unerträglich.
«Du kommst vom alten Pelzgesicht, ja«, lachte eine helle, feminine Stimme.
Der Wolf fuhr zusammen.
«Nein, trink nur weiter. Du mußt deine Kehle schützen — so heiß es bei euch ist, in der alten Welt, unser Wetter seid ihr dann doch nicht gewohnt, was?«
Vor ihm im Wasser schwamm eine Frau, die ein Mensch und ein Schwan war.
Dmitri fielen die Walküren ein, aus dem ersten Film, den er sich mit Clea Dora angesehen hatte: Die streiften ihr Federkleid zum Baden ab. Die Erscheinung legte den wunderschönen Menschenkopf zurück und lachte, daß dem Wolf seltsam wurde. Er schämte sich vor so viel Selbstbewußtsein und sah mit Staunen, wie die dichten weißen Federchen am Kopf und auf den Schultern sich sträubten. Es sah aus wie zerstrubbelt kurzes, weißes Haar. Daunen lagen eng am Körper an, in schleppengleichen Falten, zwischen Armen und Hüften, blitzende Tröpfchen perlten da. Die Spannweite, riet Dmitri, als sie sich aus dem Wasser erhob und feucht glänzend wie eine Venus auf ihn zuwatete, mußte länger sein als sein ganzer Leib.
«Ich rieche schon, wen du suchst und wer dich schickt. Er hat sich lange nicht bei mir gemeldet.«
Der Vogel, dachte Dmitri. Das ist der Vogel? Diese merkwürdige Schönheit?
Er widersprach dem Gedanken laut und deutlich:»Ich… nein, ich sollte einen Mann suchen. Einen Kerl.«
Was geschah hier, zwischen ihnen? Ein déjà vu , ein Geschenk, vielleicht eine Falle.»Das war ich, früher«, sagte sie mit ihrer singenden, weichen Stimme, daß Dmitri dachte: Ich habe Mühe, zu verstehen, was gesagt wird, ist das Hypnose?
«Ich bin«, sie deutete, hochaufgeschossen vor ihm stehend, eine Verbeugung an,»Alexandra Élodie Paula Mirameí, die du suchst. Aber dir helfen — ihm helfen —, das kann ich leider nicht. Mein Gast darfst du sein. Vielleicht bleibst du ja ganz gern.«
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