«He!«Die Comtesse hatte sich von rechts angeschlichen, im starken Duft der Blätter, daß er ihre Witterung nicht bemerkte. Sie roch nach Rauch.
Alexandra sagte:»Siehst du, was das für Pfeile, für Keile sind?«
Er stutzte, sah's und begriff, daß der Anglerfisch die Wahrheit gesagt hatte: Pelikanaale, Beilfische und eine Wolke aus Hunderten Grenadierfischen.»Sie haben tatsächlich… die Lüfte erobert, diese Fische!«staunte der Wolf. Die Schwänin küßte seine Halsgrube und tuschelte ihm zu:»Wart's nur ab. Die Atlantiker sind ehrgeizig. Lüfte, pffft, die sind erst der Anfang. Das Weltall. Da wollen sie hin, und es steht ihnen ja auch zu, wenn man's als Ozean auffaßt. «Er blies ihr ins Ohr, tänzelte einen Ausfallschritt von ihr weg und sagte:»Ins All? Das haben wir doch hinter uns.«
«Du redest wie der Löwe«, die Schwänin breitete die Flügel aus und faltete sie wieder zusammen, ein keusches Kleid.»Die Menschen waren dafür nie geeignet, das stimmt schon. Sie haben den Plan dann ja auch fallengelassen, noch vor der Befreiung. Denn zwei Dinge hätten sie ändern müssen: Ihre zerbrechliche Genetik, die zu anfällig war für die harte Strahlung, für die ständigen Teilchenschauer im Leerraum, und ihre viel zu kurze Lebensdauer, bei der war an die weiteren, interessanteren Reisen draußen nicht zu denken.«
Der Wolf sah wieder nach oben: Feuerschwerter. Flammenzeichen. Viel Farbe.
«Und die Gente haben das geregelt?«sagte er nachdenklich.
«Ach, Gente. Die da oben, das ist was Frisches. Die vierte Generation nach der Befreiung. Du gehörst nur zur zweiten.«
«Nur. Klingt nicht nett.«
Sie streichelte ihn, das stimmte ihn freundlicher.
«Ist nicht die Imagination unsere Rettung?«fragte sie. Er wunderte sich, zärtlich sorgend, woher eine, die soviel Richtiges getan und gewußt hatte, wohl diese fromme und auch ein bißchen ekelhafte Lüge haben mochte.
Sie hörte wohl, daß er nicht antwortete. So sagte sie ihm etwas anderes:»Ich habe gebaut und gebaut und gebaut. Mit sechzehn Jahren habe ich angefangen. Ich sammle alles, was damit zu tun hat.«
4. Film
Im Keller zeigte sie ihm, was sie meinte:»Zweite Generation. Das habe ich Iemelian damals geraten.«
«Einem der…«
«Vorläufer deines Chefs, ja.«
Die Projektion an der Wand zeigte Infektionsvektoren, nach Riesenpopulationen auf zusammenhängenden Landmassen aufgeschlüsselt. Nach einer Weile zerstob das Bild und machte einem Riesenmolekül Platz.
«Immunität gegen alle natürlich vorkommenden Kleinstangreifer«, sagte Alexandra.
Das Modell drehte sich, die kleinen Kügelchen (Dmitri erinnerte sich an die Gifte gegen die Hände der Menschen) pulsierten im Takt simpler Musik, und die Comtesse erklärte:»Das Konzept war robust, uns vorgegeben von der Naturgeschichte: zwei Helixbänder aus Zucker und Phosphat, verbunden mittels Basenpaaren, in deren Vierbuchstabenalphabet die gesamte genetische Information verschlüsselt ist. Zweite Generation, das hieß: Man hat andere Basen eingefügt, ein ganzes Genom. Ein neues Phylum war geboren. Der Code blieb derselbe, das Alphabet war ein anderes.«
«Ein Schritt übers Anagramm hinaus.«
«Genau. Ein Meta-Anagramm oder… Kata-Anagramm: nach unten ausweichen. Daher hat das tamerlanische Monstrum im Süden wohl auch sein Namenspräfix, Katahomen: Es ist eine Abspaltung der zweiten Generation, eine Erweiterung des Prinzips ins Silizium- und Keramikleben hinein. Erst die DNA, dann die neuen Ribosomen…«
«Und der Stoffwechsel?«
«Standard. Dieselben Proteine wie alles, was die Evolution vorher zusammengebastelt hat. Neunzig Prozent von allem blieben gleich, aber der resultierende multizelluläre Organismus war sofort immun gegen sämtliche Viren, alle Perrhobakter. Die Dinger kommen zwar noch rein, aber…«
Der Wolf stellte sich kleine Roboter vor, die in seinen Schädel gelangten. Kaum sind sie drin, fällt hinter ihnen die Tür ins Schloß, das sie geknackt haben. Da sitzen sie dann in der leeren Kälte und verhungern.
«Ähm, hilf mir nochmal. Zweite Generation, wie ging die erste?«
«Weißt du überhaupt, was du mich da fragst?«
«Na ja, ich frag dich… nach der biotischen Beschaffenheit der Befreiung. Was die eigentlich war.«
«Genau. «Die Comtesse bewegte ihre rechte Flügelspitze und machte dazu ein strenges Gesicht: Das sind böse Geschichten, darüber rede ich nicht gern.
Dmitri nahm sich vor, einmal den Löwen zu fragen.
Kaum hatte er den Vorsatz gefaßt, wurde ihm schmerzlich klar, daß er, so wohl er sich hier fühlte, nicht bei Alexandra bleiben würde. Es war zu schön hier, und wenn er sie fragte, in Andeutungen oder direkt, ob sie ihn bei sich behalten sollte, dann schwieg sie mit tausend Sätzen, dreitausend Ausreden. Von Schmerz verstand sie lieb zu raunen; davon, daß, wer Leidenschaft sagte, auch von Leiden reden mußte, und anderes trauriges, verkehrtes Zeug aus dem Fundus muffiger Selbstbestrafungswahnideen der Langeweile. Er gehörte also wohl doch nicht hierher, in dieses Denkmal, ins Glück der Abgeschiedenheit. Was Dmitri nicht verstand: Sie liebte ihn, aber daran mußte er glauben, das ließ sie ihn nicht wissen. Als ob Glück etwas Schlechtes wäre und unerfülltes Sehnsucht ein stärkeres Argument als erotische Großzügigkeit, die sie ihm doch anfangs geschenkt hatte, ein stolzes und freies Geschöpf.
Die Sonne wurde blasser, mehrdeutige Winde kamen auf.
Der Wolf war ein politisches Tier und würde ihr ab jetzt deshalb im Gegenzug ebensogut verbergen, was er fühlte.
5. Form, forms and renewal, gods held in the air
«Siehst du sie? Siehst du, was sie mit der Zeit macht?«
Der Wolf schaute hin und hatte das erste Mal das Gefühl, er sähe sich selbst beim Schauen zu, so wie man, bei großer Übermüdung etwa, manchmal sich selbst beim Reden zuhört.
Die Comtesse hatte im Auditorium Maximum Vorrichtungen aufgestellt, mit denen man uralte Filme abspielen konnte. Was der Wolf sah, war ein Mädchen, das den rechteckigen Bildrahmen diagonal betrat und zielstrebig durchquerte. Die junge Frau verschwand hinter einer Sanddüne im Vordergrund, am Rand des gezeigten Ausschnitts. Die Kamera setzte für einen kaum merklichen Moment aus. Dann ging das Mädchen in größerer Ferne vorüber und steuerte einen Ort hinter einem weit hinten liegenden Sandhügel an.
Die Kamera drehte sich, in einer das gesamte Panorama erfassenden Bewegung, in die Richtung, in der das Mädchen soeben den Bildausschnitt verlassen hatte. Da sie an exakt derselben Stelle weiterfilmte, an der sie eben ausgesetzt hatte, gab es keine räumlichen Anzeige der verstrichenen Zeit. Der Wolf erwartete (oder erwartete von sich, zu erwarten: seltsame Dopplung) zunächst, das Mädchen hinter der Düne hervorkommen zu sehen, hinter der es sich eben verborgen hatte. Statt dessen aber trat es nun hinter der weit entfernt liegenden Düne ins Freie. Entfremdung des Sehens von seinem Gegenstand, Überschreitung des im Kopf zurechtgelegten Zeitmaßes und diese Dopplung: Dmitri glaubte, als das Bild verschwand und das Licht anging, daß von ihm erwartet wurde, er solle sich dazu äußern.
Zögerlich setzte er an:»Ein ähm Sprung, eine… wie anagrammatische…«
Aber Alexandra Élodie legte ihm eine Flügelspitze auf die Lippen:»Schh. Nur gucken. Sonst tust du ihr noch mal an, was ihr zu Lebzeiten angetan wurde«
Dmitri wußte nicht, wer die Person war, auf die sich das bezog.
«Sie ist an ihrer Wut gestorben«, sagte Alexandra,»weil man sie nicht arbeiten lassen wollte.«
Das Licht ging wieder aus. Der Film begann von neuem.
6. Bright void, without image, Napishtim
Sie zeigte ihm ein letztes Mal ihre Gärten, als die schon dunkler wurden.
Das war bereits der Krieg:»Am Anfang setzt es immer diese plumpen Faustschläge«; seufzte sie, es klang fast peinlich berührt,»da werden die Ernten behext, da wird das Wetter zerstört. Lustig, solche Worte wieder zu sagen. Hab mich damals immer gefragt, wie das möglich ist, wie strikt reserviert überhaupt Wörter sind, jedes will nur da hin, wo es hinzugehören glaubt. Man sagt zum Beispiel, die Stadt sei zerstört worden und man habe die Einwohner ermordet, aber man käme sich komisch vor, zu sagen, die Einwohner seien zerstört worden und die Stadt habe man ermordet. Inferenzen von… ach, was soll's.«
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