Scheffler war Pathologe, und wie alle Pathologen, die Richard kannte, ein musischer Mensch. Er hatte ihn öfter mit seiner jungen und attraktiven Frau im Schauspielhaus gesehen, wo er sogenannten gesellschaftskritischen Stücken vorsichtigen Beifall spendete oder zu Arien aus Mozart-Opern die Augen schloß. Scheffler rauchte, ungewöhnlich für einen Arzt, erst recht für einen Pathologen, der die Raucherlungen sah; er rauchte kubanische Zigarren, die es trotz sozialistisch-brüderlicher Wirtschaftsbeziehungen in hiesigen Geschäften kaum zu kaufen gab. Rektor Scheffler verfügte also über Sonderkanäle, und er schien ein Genießer zu sein, ebenfalls wie viele Pathologen. Hautärzte, Psychiater, Internisten schätzten schöne Frauen, wußten gute von schlechten Weinen zu unterscheiden, lasen die neueste Belletristik, zitierten Goethe und Gottfried Benn und liebten klassische Musik, besonders Klavierspiel, das sie oft auch selbst beherrschten. Außerdem wurden sie alt. Die Chirurgen liebten schöne Frauen und schöne Autos und starben mit fünfundsechzig, wenn die Rente begann. Mit Scheffler, hoffte Richard, würde man reden können.
«Magnifizenz, ich komme wegen eines Kollegen zu Ihnen.«
«Ich weiß. Es geht um Herrn Wernstein, Frau Fischer hat mich vorbereitet. Ja. Setzen wir uns doch erst einmal.«
Richard sah, daß das Breshnew-Porträt mit dem Trauerflor verschwunden und durch eines von Juri Andropow ersetzt worden war. Scheffler bemerkte seinen Blick.»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ein Mineralwasser?«
«Vielen Dank, ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen, Herr Professor. Herr Wernstein ist — «
Scheffler wedelte müde mit der Hand, verlangte Kaffee und Mineralwasser über die Sprechanlage. Dann stand er auf und blieb mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen vor den Fotos stehen. Das Telefon klingelte, aber er ignorierte es. Seine Schuhe waren aus feinem, durchbrochenem Leder gefertigt und stammten gewiß nicht aus einem volkseigenen Betrieb, sein Anzug war elegant geschnitten, Richard fragte sich, ob er beim Schneider Lukas am Lindwurmring arbeiten ließ; auch Scheffler wohnte in einer der Villen dort oben.
«Sie interessieren sich für Politik?«fragte er unvermittelt und drehte sich halb zu Richard um. Erst jetzt fiel ihm auf, daß Scheffler im Knopfloch seines eleganten Anzugs das Parteiabzeichen trug. Warum auch nicht, dachte er, Ulrich ist auch in der Partei, und Scheffler, als Rektor, kann gar nicht anders. Trägt er das immer? Zu Weihnachten habe ich es gar nicht bemerkt.»Ich glaube, das sollte man tun, Genosse Rektor. «Scheffler hatte sich wieder Andropows Lächeln zugewandt und hob sanft, wie ein Dirigent bei einem» piano«-Einsatz, die Hand.»Oh, bleiben wir doch bei den akademischen Titeln, Herr Dozent Hoffmann, ich glaube, das ist Ihnen lieber. — Wissen Sie, daß Juri Wladimirowitsch«, er wies auf das Andropow-Bild,»ein Jazz-Liebhaber sein soll? Auch soll er mit Vergnügen westliche Filme sehen, und viel lesen. Ich habe ihn nicht darauf angesprochen, man muß nicht alles glauben, was in der Presse steht.«
Richard überlegte, in welcher Presse gestanden haben konnte, daß der Generalsekretär der KPdSU angeblich Jazz liebte und westliche Filme mochte. Im» Neuen Deutschland «bestimmt nicht. Josta brachte Kaffee — obwohl er abgelehnt hatte, waren es zwei Tassen — und Mineralwasser. Richard trank den Kaffee nun doch.
«Danke, Frau Fischer. Sagen Sie doch den Herren vom Ministerium, daß ich umgehend zurückrufen werde. — Übrigens haben wir uns auf deutsch unterhalten, er spricht es ziemlich gut. Orden kann er nicht leiden, glaube ich, es klirrte früher bedeutend stärker in den heiligen Hallen.«
«Magnifizenz, ich stimme Ihnen zu, auch die jüngeren Ärzte sollten sich stärker als bisher für Politik interessieren, es ist nur so, daß«
«— Herr Kohler Vorsitzender der Parteiorganisation der Chirurgischen Kliniken ist«, unterbrach Scheffler milde und kehrte zum Tisch zurück,»einer der idealistischen, heißspornigen, jungen Genossen, die nur Attacke kennen. Aber man sollte die Zweifler gewinnen, so wie Juri Wladimirowitsch es in seinem letzten Kommuniqué angedeutet hat. «Scheffler kritzelte etwas auf einen Zettel, zeigte ihn, gab ihn aber Richard nicht. Darauf stand:»Versprechen kann ich nichts. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich kein Karriere-Parteimitglied bin.«
«Ich danke Ihnen. «Richard erhob sich. Scheffler zerriß den Zettel in winzige Schnipsel und ließ sie in den Papierkorb rieseln.
Josta schrieb jetzt viele Briefe, sie kümmerte sich nicht darum, daß Richard sie aus dem vereinbarten Versteck — hinter einem losen Ziegel in den verzweigten unterirdischen Gängen der Akademie — nur unregelmäßig abholte; einmal fand er vier Briefe vor, die im Zeitraum von einer Woche geschrieben waren. Sie vermied es zu klagen und zu fordern, war um Alltäglichkeiten und kleine Zärtlichkeiten bemüht, aber Richard spürte, daß diese Munterkeit zu betont war, und machte sich Sorgen. Er schrieb ihr, daß er sie sehen wolle, an einem Donnerstag, bevor er ins Sachsenbad zum Schwimmen gehe, sie schrieb zurück, daß das nicht nötig sei, daß er recht habe, wenn er sie unbeherrscht genannt, und daß sie den Bogen überspannt habe. Sie sei zu ungeduldig und verlange zuviel von ihm, sie male zu viele Ängste an die Wand und gefährde dadurch ihre Beziehung, sorge durch ihre übertriebene Angst vor den Ängsten dafür, daß sie einträten wie bei einer» self fulfilling prophecy«. Er glaubte ihr den vernünftigen Ton nicht. Josta war vieles, vernünftig war sie selten. Die Sprache dieser Briefe schien eine Plane zu sein, dünn und aus angeblich feuerfestem Material, aber darunter warteten Brände auf das bißchen Sauerstoff, das genügen würde, aus dem verrückt schwelenden Weiß zwischen den Zeilen eine Lohe zu fachen. Einmal, an einem Mittwoch, fuhr er zu ihr und klingelte, aber sie öffnete nicht, obwohl er sich sicher war, in der Wohnung ein Geräusch gehört zu haben. Er schrieb ein paar Zeilen und schob sie unter der Tür durch. Im nächsten Brief warf Josta ihm vor, wie leichtsinnig er gewesen sei, gerade an diesem Tag habe sie den Schlüssel einer Bekannten gegeben, die auf Lucie aufpassen sollte, weil ihr Kindergarten sie eher nach Hause geschickt hatte; Daniel habe durch einen Zufall das Papier gefunden und an sich genommen, eigentlich war er nur hochgegangen, um sich eine Limonade aus dem Kühlschrank zu holen, ein paar Minuten später kamen Lucie und die Bekannte, die den Zettel bestimmt gelesen hätte. Aber dann hätte ich sie wahrscheinlich gesehen, dachte Richard, ich habe einige Zeit vor der Tür gewartet, und das Geräusch, das ich gehört habe, hätte Daniel gemacht. Hier stimmte etwas nicht. All das beunruhigte ihn, hinzu kam der Ärger mit Müller, der die Aussprache nachgeholt, dabei scheinheilig zuerst nach dem Querner-Gemälde gefragt und dann Richard noch einmal getadelt hatte, freilich nicht mehr für die unterlassene Operation — die Anästhesisten hatten sich auf nichts eingelassen und sich hinter die Unfallchirurgen gestellt —, sondern seiner mangelnden Vorbildwirkung hinsichtlich der politischen Einstellung seiner Assistenten wegen. Wernstein mußte sich vor allen Kollegen und Stationsschwestern bei Kohler entschuldigen, wurde aber nicht in die Friedrichstädter Orthopädie versetzt.
Plötzlich änderte sich der Ton von Jostas Briefen, Verzweiflung, Vorwürfe und Angst kamen zurück. Richard steckte in Arbeit, ein Ärztekongreß stand an, auf dem er ein Referat über Operationstechniken an der Hand halten sollte; Robert machte Schwierigkeiten in der Schule, er war jetzt in der neunten Klasse, mit deren Zeugnis man sich um einen der begehrten EOS-Plätze bewarb, und auch mit Christian schien etwas nicht zu stimmen, wie Anne sagte; doch wenn Richard ein Gespräch versuchte, wich Christian aus. Richard schob es der Pubertät zu, daß sein Sohn an manchen Wochenenden nicht nach Hause kam. Wenigstens seine Zensuren waren in Ordnung, Richard hatte mit dem Klassenlehrer telefoniert. Josta verlangte, daß er Anne verlassen solle, sie nannte ihn wieder» Graf Danilo«, was er nicht mochte, und zwar gerade deshalb, weil er wußte, daß dieser Spitzname etwas Wahres traf; er traute Josta nicht den psychologischen Scharfsinn und die Menschenkenntnis zu, ihn mit dem Namen dieses Operettenhelden zu titulieren; er glaubte, daß Josta ihm diesen Spitznamen nur wegen irgendeiner entfernten Ähnlichkeit zwischen einem Sänger der Staatsoperette Leuben und ihm gegeben hatte, daß der Treffer aus purem Zufall saß, und das gönnte er ihr nicht. Dieser Darsteller hätte genausogut einen Helden aus einer x-beliebigen anderen Operette spielen können, dann hätte Josta wahrscheinlich den Namen dieser Figur gewählt … Er glaubte, daß sie schlecht beobachtete, aber insgeheim wußte er, daß er sich irrte. Gegen Ende Mai kam ein Brief, in dem sie drohte, eines nicht mehr allzufernen Tages vor seiner Tür zu stehen und eine Entscheidung zu erzwingen, von seiner Feigheit war die Rede, von gemeinsamem Urlaub, von Lucie und Daniel, dann von Gas und Schlaftabletten. Richard nahm es nicht ernst, der Brief war zu sehr im Affekt geschrieben, wirkliche Selbstmörder drohten nicht, sondern handelten; er hatte in seinen Diensten zu viele dieser Fälle gesehen. Und sah sie noch — gerade jetzt im Mai schienen die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Schmerzen für viele Menschen unerträglich zu werden. Josta bat um ein Treffen, er sagte zu, aber es kam etwas dazwischen, er verspätete sich, und als er zum verabredeten Ort kam, war sie schon gegangen. Sie hatte kein Telefon zu Hause; für solche Fälle hatten sie vereinbart, daß sie ihm ein Zeichen hinterließ, wohin sie gegangen war: ein scheinbar achtlos unter eine Parkbank gerolltes Papierkügelchen hieß: bin zu Hause; zwei gekreuzte Zweige: warte an der Trinitatiskirche auf dich; im Winter ordneten sie Schneebälle zu bestimmten Mustern. Diesmal fand er nichts. Er wartete, vielleicht war sie nur für einen Augenblick weggegangen. Sie kam nicht.
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