«Und davon weiß ich nichts. Verdammte Intriganten. — Wartest du draußen auf mich? Ich hol’ das Auto.«
Er parkte in einer Nebenstraße unweit ihrer Wohnung.
«Willst du nicht doch mit raufkommen? Wenigstens für ein paar Minuten?«
«Versteh doch.«
Sie schwieg und starrte auf die Straße. Mädchen hüpften Gummitwist, ein mit Fässern beladener Dreiradwagen schlingerte vorbei.»Liebst du deine Frau mehr als mich?«
«Laß doch.«
«Warum können wir nicht zusammensein … Immer dieses Versteckspiel, immer ›Versteh doch‹ und ›Laß das‹ und ›Auf Wiedersehen‹ … Lucie hat neulich im Kindergarten von dir erzählt, daß du abends immer weggehst, wenn du uns besuchst. ›Du hast ja ’n komischen Papa‹, haben die anderen Kinder zu ihr gesagt.«
«Ich hab’ dir doch gesagt, daß sie den Mund halten soll!«
«Ich kann’s ihr nicht verbieten, ich kann sie nicht immer kontrollieren.«
Nein, das konnte sie nicht. Es war doch natürlich für ein Kind, daß es von seinem Vater erzählte; was hätte er gesagt, wenn Josta ihm verraten hätte, daß Lucie gar nicht von ihm sprach.»Grüß sie von mir.«
Ohne ihn anzusehen, drückte sie seine Hand und stieg aus. Er kurbelte die Scheibe herunter.»Josta!«
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.»Entschuldige bitte. «Sie nickte. Die Mädchen spannten den Twistgummi höher. Ein Fenster öffnete sich über ihnen, ein Mann mit Hosenträgern über dem Unterhemd legte ein Kissen auf die Fensterbank und musterte die Mädchen.
«Ich wollte dir noch sagen — «Er fixierte das aufgeschwemmte, unrasierte Gesicht des Mannes über Josta; sie reagierte nicht.»Schönes Kleid hast du an. «Sie blieb noch eine Sekunde stehen, zog sich dann langsam den Mantel über, ging. Der Mann glotzte ihr nach. Als Richard nach Hause fuhr, stahl er für Anne einen Forsythienzweig aus einem Garten.
Am nächsten Tag war Chefvisite, ein weißbekittelter Troß walzte über die Nord-Stationen. Die Pflichtassistenten hielten Röntgenbilder vor Müllers und seiner Oberärzte Augen, die Stationsärzte murmelten Erklärungen, Schwestern nahmen mit sterilen Pinzetten die Verbände von den Wunden und reichten den untersuchenden Ärzten Handschuhe. Müller schaute immer wieder auf die Uhr, riß den Assistenten die Röntgenbilder aus den Händen, stach mit dem Zeigefinger darauf herum und warf sie auf die Betten. Selbst die Patienten spürten die dicke Luft, lagen stocksteif, Arme an der Seite, lugten ängstlich zwischen Müller und dem referierenden Arzt hin und her. An einem Patientenbett befand sich in einer Glasente noch ein Harnrest.»Ist es den verehrten Damen Krankenschwestern, die für dieses Zimmer zuständig sind, nicht möglich, die Pisse aus den Schwenkern zu leeren, wenn der Chefarzt Visite macht? Was ist das für eine Schlamperei, Schwester Lieselotte?«Die Stationsschwester der Nord I wurde blaß.»Aber es gibt ja dieses Sprichwort vom Herrn und vom Gescherr«, fügte Müller hinzu.»Herr Wernstein findet zwei Patientenkurven nicht, Laborwerte fehlen, der Abszeß in der Zwo fiebert fröhlich vor sich hin … Was ist das für eine Bohememedizin in meinem Haus!?«Richard hob abwehrend die Hände.»Herr Professor, der Mann in der Zwo ist von den Anästhesisten zurückgestellt worden, wir kennen die Problematik, aber er steht unter Falithrom — «
«Seit wann«, schnitt ihm Müller das Wort ab,»seit wann, Herr Hoffmann, hindert uns ein Mittel gegen Blutgerinnung, unserer chirurgischen Pflicht nachzukommen und einen hochreifen Abszeß aufzuschneiden?«
«Herr Professor«, Trautson nickte Richard zu,»ich hatte im Dienst die OP angesetzt, aber der Kollege von der Anästhesie hat sich strikt geweigert — «
«Dann machen wir die Anästhesie eben selber, verdammt noch mal! Ein Abszeß am Oberschenkel braucht keine Vollnarkose, und Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, daß der Mann von einer Abszeßeröffnung verblutet!«
«Wir riskieren eine Sepsis, wenn wir nicht operieren«, warf Kohler ein.
«Na, dann tun Sie’s doch, Herr Kollege!«platzte Richard heraus.»Die Gerinnungswerte sind schlecht, und bisher haben die Antibiotika das Fieber beherrscht — «
«Bisher«, sagte Müller.»Herr Hoffmann, ich bin unzufrieden, ich möchte Sie heute nachmittag sprechen.«
Einen solchen Tadel am Leitenden Oberarzt, noch dazu vor allen Ärzten und Schwestern, hatte noch niemand erlebt. Richard kam sich wie ein Schüler abgeputzt vor. Der Troß zog auf die nächste Station. Trautson zog Richard beiseite.» Möchte wissen, was in den Alten gefahren ist. Der weiß doch ganz genau, daß die Anästhesisten recht haben. Und einen Zirkus macht er, weil zwei Kurven fehlen, dabei sind die doch schon im OP …«Trautson schüttelte den Kopf.»Prost Mahlzeit, da können wir uns auf was gefaßt machen. Ich würd’s an deiner Stelle nicht schwernehmen, Richard. Wer weiß, was in Wahrheit dahintersteckt.«
«Herr Wernstein, kann ich Sie noch einen Augenblick sprechen?«fragte Richard. Sie gingen in den Aufenthaltsraum der Station.»Jetzt sagen Sie mir um Gottes willen, was Sie angestellt haben. Wenn ich schon für Sie Prügel beziehe, will ich auch den Grund wissen. Ich meine die Beschwerde von Herrn Kohler. «Wernstein erzählte. Es ging um Anspruch und Wirklichkeit, wie so oft, und um den stacheldrahtbestückten Zaun dazwischen.»Und dann habe ich ihm gesagt, er soll sich um seinen eigenen Kram scheren.«
«Gesagt?«
«— Mitgeteilt. Dieser Schlaumeier, wir wissen auch, was eine Sepsis ist!«
«Und er?«
«Daß er mich schon lange beobachtet. Ich sei ein Quertreiber.«»Und Sie?«
«Daß der Quertreiber der Auffassung ist, daß vom Politschmus noch kein Patient gesund geworden ist.«
«Hm.«
«Naja, oder so ähnlich.«
«Statt Schmus haben Sie«
«— was anderes gesagt. Ja.«
«Mensch, Wernstein, sind Sie denn verrückt geworden. «Richard stand auf und begann unruhig im Zimmer auf- und abzulaufen.»Sie wissen doch, wie der Alte zu Kohler steht. Und sonst.«
«Weiß ich«, knurrte Wernstein.»Die mit ihrem verdammten Karl-Marx-Jahr.«
«Die Frage ist, was wir jetzt tun. Die Beschwerde gegen Sie ist anhängig, wurde mir zugetragen. Kohler soll im nächsten Monat auf die Nord I wechseln, und Müller hat mit dem Chef der Orthopädie in Friedrichstadt gesprochen.«
«Mit anderen Worten … Man will mich loswerden.«
«Vielleicht nicht nur Sie, Herr Wernstein. Ich fürchte, daß ich Sie nicht decken kann. Ich schlage vor, daß wir erst einmal die Besprechung heute nachmittag abwarten. Vielleicht kann ich beim Rektor was erreichen.«
«Entschuldigen Sie bitte, Herr Oberarzt. Und danke.«
«Hauen Sie ab. — Operieren Sie gut.«
Richard rief Josta an.»Hoffmann von der Chirurgischen Klinik. Frau Fischer, könnte ich bitte einen Termin bei Professor Scheffler haben? Dringend.«
«Worum geht es denn, Herr Dozent?«Jostas Stimme war kühl, sie klang unbeteiligt und geschäftsmäßig, das versetzte ihm einen Stich.
«Um einen Kollegen hier aus der Klinik, Herrn Wernstein.«
«Sind Sie auf Station? Ich rufe zurück. «Er hörte Augenblicke lang ihren Atem, bevor sie auflegte.
Die Nachmittagsbesprechung bei Müller entfiel. Richard ging ins Rektorat, wo er für siebzehn Uhr einen Termin bekommen hatte. Er mußte warten und ging hinaus, weil er befürchtete, daß Josta ihn beobachten, seinen Blick suchen würde trotz der zweiten Sekretärin, die im Rektorat arbeitete. Aber noch mehr fürchtete er, daß sie seinen Blick nicht suchen würde. Er versuchte sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren, sich auszumalen, in welche Richtung es etwa verlaufen würde. Er kannte Scheffler nicht besonders gut, das letzte Mal hatte er wegen der Weihnachtsvorlesung mit ihm gesprochen. Bei den regelmäßig im Rektorat oder im Verwaltungsrat stattfindenden Chefarztkonferenzen, denen der Rektor vorsaß, war Richard nur selten dabei, die Unfallchirurgie war zwar formal der Allgemeinen Chirurgie angegliedert, besaß aber fast den Status einer selbständigen Abteilung.»Fast«: Es war in der Schwebe, manchmal bekam Richard eine Einladung, an einer Konferenz teilzunehmen, manchmal nicht, und Richard befand sich, wenn er eine Einladung erhielt, Müller gegenüber im Zwiespalt: einerseits wollte er ihn nicht übergehen, andererseits kam er sich wie ein kleiner Junge vor, der für alles um Erlaubnis bitten muß. Außerdem störte es ihn, daß Müller sich bei der Lektüre dieser Einladungen von ihm abwandte und ihm widerwillige Antworten gab wie: Er wisse nicht, was es nutzen solle, wenn das Rektorat zwei Leitende Ärzte der Chirurgischen Klinik von ihrer Arbeit abhalte.
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