Christian erinnerte sich noch einmal daran, wie sie Falk nachgeschaut hatten, Jens’ schale Witze im Ohr; Christian lag jetzt im Bett des Internatszimmers und starrte an die Decke, an der die Lichter von Fernlastzügen von der F 170 wanderten, hörte Stimmengemurmel von nebenan, wo die Jungen aus der Zwölften ihr Zimmer hatten, auf dem Flur schepperte etwas, Frau Stesny war noch da und half den anderen bei der Vorbereitung des Abendbrots, und wieder sah er Falk vor sich, die aufs Geländer pochende Hand, den grünen Kamm in der Gesäßtasche, und eben hatte er, Christian, begriffen, daß er vor Fahner gekrochen war, sich auf das ekelhafteste verleugnet hatte … und doch hatte er es im Direktionszimmer nicht so empfunden, er hatte Fahner nicht angelogen, er war, als er Fahner gegenübergesessen hatte, von dem überzeugt gewesen, was er sagte. Und Falk geriet allmählich außer Sicht, keiner der drei machte Anstalten, ihm zu folgen und ihn nach dem Verlauf des Gesprächs zu fragen, sie hatten ihn auch später nicht gefragt, und er hatte bis jetzt nichts gesagt. Christian sah sich, wie er vor dem Sekretariat stand und kein Mitleid für Falk empfand. Das war die zweite überraschende Erfahrung dieses Tages. Was er empfand, war Verachtung, sogar Feindseligkeit. Er wußte nicht, ob Falk den Mut aufgebracht hatte, zu seiner Überzeugung zu stehen, die er vor ihnen am Kaltwasser ausgesprochen hatte, wahrscheinlich verhielt es sich so, und was Christian so erschütterte, war, daß er genau deshalb Falk gegenüber Verachtung empfand. Aufrichtigkeit, auch und gerade dann, wenn es brenzlig wurde, war er nicht so von seinen Eltern erzogen worden? Gleichzeitig übten sie mit ihm das Lügen … Christian erinnerte sich an einen anderen Tag, den er nicht vergessen würde. Es war einer der letzten Ferientage vor seinem Eintritt in die Erweiterte Oberschule gewesen. Sein Vater hatte Erik Orré mitgebracht, Tietzes Nachbar und Gudruns Kollege am Dresdner Großen Haus. Er war Richards Patient gewesen und nun gekommen, seinen Dank auf ungewöhnliche Weise abzustatten, nämlich Christian und Robert die Kunst des sach- und fachgerechten Lügens beizubringen, die Richard vor allem für Christian für notwendig hielt, und so hatte der Mime mit ihnen — und auf Niklas’ Bitten auch mit Ezzo — vor dem aus dem Flur herbeigeschafften Spiegel das enthusiastische Loben geprobt, ihre Gestik korrigiert, ihnen gezeigt, wie man willentlich rot und blaß werden kann, wie man mit einiger Würde schmeichelt, mit ernstester Miene Torheiten sagen und diese wie eine Tarnkappe über seine wahren Gedanken ziehen kann, wie man Komplimente drischt, die leer sind, aber intelligent schmeicheln, wie man Mißtrauen zerstreuen kann, wie man selbst andere Lügner, unter Umständen, erkennt. Anne war während dieser Übungsstunden hinausgegangen. Christian hatte sie in seines Vaters Arbeitszimmer weinen hören. Richard hatte ihnen zugesehen, blaß und streng, später hatte er zu Anne gesagt, daß es hart sei, aber leider nötig, besonders für Christian. Die Jungs könnten von diesen Kenntnissen nur profitieren, es sei ein schmaler Grat, aber er habe es ihnen erleichtern wollen, darauf zu balancieren und ihn überhaupt zu erkennen. Zum Schluß hatte Erik Orré darum gebeten, ihn weiterzuempfehlen, er könne sich vorstellen, daß es» weiteren Bedarf in diesem Viertel geben «könne, und Herr Doktor Hoffmann kenne seine Pappenheimer sicherlich besser als er.
Von nebenan, aus dem Internats-Gemeinschaftszimmer, war jetzt die Stimme des Liedermachers Gerhard Schöne zu hören, der sich bei den Mädchen großer Beliebtheit erfreute. Der sang auch von Aufrichtigkeit … Christian lag reglos, die Gedanken peinigten ihn. Hätte er nicht Mitleid für Falk empfinden müssen? Erst recht, wenn er Arzt werden wollte — Arzt, für den das Gefühl der Verachtung nicht existieren dürfte? Wollte er tatsächlich Arzt werden? Folgte er damit nur der Familientradition oder tatsächlich innerem Antrieb? Und warum hatte er Falk verachtet? Er wußte es nicht. Auf alle diese Fragen fand er keine Antwort, keine Erklärung.
Er lauschte ins Dunkel, ob die anderen in den Gemeinschaftsraum zum Essen gegangen waren, dann würde er in die Turnhalle zum Duschen gehen können. Er mußte sich beeilen, denn Frau Stesny hatte seine Abwesenheit gewiß bemerkt und würde an die Tür klopfen, um ihn zum Essen zu rufen. Er mußte die kleine Zeitspanne abpassen, in der niemand auf dem Flur war, dann konnte er aus dem Zimmer huschen und würde den Duschraum für sich allein haben. Es war riskant, und er mußte schnell sein, auch drüben beim Duschen, er mußte immer damit rechnen, daß jemand kam, obwohl heute keine Sportgruppe die Halle benutzte. Er hatte sich den» Turnhallen-Nutzungsplan «abgeschrieben und auswendig gelernt.
27. Die Fahrende Musik. All unsere Kraft. Die Fee der Buchstaben
Auf einem seiner Spaziergänge sah Christian Siegbert vor Verenas Haus warten. Er sah zu den noch dunklen Fenstern in der Lohgerbergasse hinauf, die sich hinter der Kirche befand. Christian, müde von stundenlangem Lernen und in Gedanken, hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt und wäre ihm beinahe in die Arme gelaufen; aber er ahnte, daß Siegbert das nicht willkommen gewesen wäre, und bog noch rechtzeitig in den Schatten der Kirche ab. Er beobachtete Siegbert, der ungeduldig zu sein schien, nervös eine Zigarette rauchte. Bald würden die Geschäfte schließen, Passanten mit Einkaufsnetzen eilten zum Marktplatz, in einem Mann mit Schal und Baskenmütze, der ein Fahrrad vor sich herschob, meinte Christian Stabenow zu erkennen und drückte sich noch tiefer in den Schatten des Mauervorsprungs. Es dunkelte rasch. In der Lohgerbergasse gab es keine Laternen, im Haus der Winklers und in einigen Nachbarhäusern flatterte Licht auf, streute trübe Helligkeit auf das Katzenkopfpflaster. Verena kam aus dem Haus, nickte Siegbert zu, die beiden gingen zusammen weg. Am liebsten wäre Christian ihnen gefolgt, aber sie bogen am Ende der Gasse zur Wilden Bergfrau ab; auf der langen Uferstraße würden sie ihn schnell bemerkt haben, sie verlief bis zum Stadtschloß gerade und war gut einsehbar. Wahrscheinlich gingen sie ins Kino oder in den Jugendklub» Wostok«, der sich in einem baufälligen Gebäude hinter dem Stadtschloß befand. Dort gab es eine Diskothek, in der, obwohl die Kreisparteileitung in Sichtweite lag, erstaunlich freizügige Musik lief. Vielleicht waren sie auch unterwegs zu den» Kultursälen«, einer ehemaligen Bowlinghalle, in der Musiklehrer Uhl unnachgiebig versuchte, den Waldbrunner Bürgern die Ernsten Künste nahezubringen.
Uhl, dachte Christian und sah wieder Verena vor sich, wie sie aus dem Haus kam und mit Siegbert wegging. Uhl war ein merkwürdiger und zerrissener Mensch, tobsüchtig, uneigennützig und besessen. Er sah wie ein der Oper entstiegener Fliegender Holländer aus mit seinem lackschwarzen Haar, den Sichelbrauen, dem Wagnerbart. Die Schüler fürchteten ihn, seiner Unberechenbarkeit und Wutausbrüche wegen. Ein rastloser, oft zynischer Mensch, der Schüler, die nicht singen konnten, manchmal bis zu Tränen bloßstellte. Er spielte vorzüglich Klavier, aber seine Lippen verrieten Geringschätzung für diejenigen, vor denen er es tun mußte, für ihre tauben Ohren. Musik war ihm alles, er liebte sie, so schien es Christian, mehr als manche Menschen; vielleicht auch deshalb, weil alles, was sie sagte, klar war, eine Sprache, in der es keine Mißverständnisse gab. Er verzerrte das Gesicht, wenn jemand unrein sang, und lächelte, wenn er im Unterricht seine wie Schätze gehüteten Schallplatten auflegte und Swjatoslaw Richter ein Stück aus dem» Wohltemperierten Klavier «spielte. Dann kam ein anderer Uhl zum Vorschein, weicher, milder, ein verwundeter und wissender Mann. In den» Kultursälen «gab es neben der Halle noch einen Raum, den Uhl das» Kabinett «nannte und wo» in intimem Rahmen«, wie an den Litfaßsäulen zu lesen stand, Aufführungen von Kammermusik, Diavorträge — auch Christians Großvater war vor einigen Jahren hiergewesen und hatte einen Lichtbildabend über Amazonas-Indianer gehalten — und vom Verband der Geistestätigen des Bezirks Dresden organisierte Lesungen stattfanden. Diese Kulturabende, vor allem aber die von Uhl persönlich betreuten Konzerte und Kammermusikaufführungen, genossen einen guten Ruf, sie strahlten bis nach Karl-Marx-Stadt und tief ins Erzgebirge aus; das Waldbrunner Publikum befand sich oft in der Minderzahl, Anrecht und Freiverkauf gingen nach Glashütte und Altenberg, erreichten die Grenzorte Zinnwald, Rehefeld und Geising, zweigten sich sogar bis in die ČSSR nach Teplitz, aus dem ein konzertfanatisches Ehepaar regelmäßig kam, liefen bis nach Freital und Dresden, von wo Abonnenten per Auto und Bus nach Waldbrunn fuhren, gingen nach Flöha, Freiberg, Olbernhau, ins Westerzgebirge bis Annaberg-Buchholz. Es war das Ergebnis von Uhls Bemühungen. In den Ferien nämlich galt ein Abkommen mit den Städtischen Verkehrsbetrieben Waldbrunns, die ihm einen Omnibus, ein ausgedientes und klappriges IFA-Modell, nebst Fahrer zur Verfügung stellten, um im Erzgebirge» Kulturarbeit zu leisten«. Uhl fuhr nicht in den Urlaub, nie hatte ihn jemand von der Ostsee oder vom Balaton, von einem Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds in Graal-Müritz oder Erholungsheim Verdienter Pädagogen sprechen hören, nie hatte jemand von ihm eine Ansichtskarte von der Insel Rügen oder vom Müggelsee bekommen. Uhl und seine Frau, die in Glashütte als Musiklehrerin arbeitete, tuckerten in den Sommermonaten und auch in den Herbstferien mit dem IFA-Bus, allgemein» Oswald Uhls Musikbus«, von poetischeren Humoristen auch» Die Fahrende Musik «genannt, über die Erzgebirgsdörfer und brachte den Kindern» die Klassische Musik nahe«. Daran mußte Christian denken, in seinem Versteck eingangs der Lohgerbergasse. Doch Uhl hätte etwas zu ihm gesagt, wenn es in den» Kultursälen «ein Konzert gegeben hätte, denn nicht nur hatte er Christian, seines Cellospiels wegen, ins Herz geschlossen, sondern auch sofort in verschiedene seiner Umtriebigkeiten eingeplant. Außerdem waren Verena und Siegbert für einen Konzertbesuch zu leger angezogen gewesen. Christian stand reglos, atmete sekundenlang, als hätte er schwere körperliche Arbeit getan, dann hielt er den Atem an und merkte es erst am zunehmenden Pulsschlag.
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