In diesen schwelenden, hitzegeschwächten Tagen entschied Anne, die Vorsicht (denn nur Fremde, dachte Richard, konnten es Ängstlichkeit oder Wahn nennen) zu verlassen und den Blick der verschiedenen wirbelnden Drohungen zu ertragen, über die die Münder (die gedruckten, die stellvertretend sprachen, wortreich oder schweigend), die Hände der anderen verfügten. Nach der Zerstörung des Hispano-Suiza, an den während vieler vergeblicher Sitzungen, kleinlicher Querelen, dem Kampf gegen Watte zu denken Richard einiges hatte ertragen lassen, war die Wut der Niedergeschlagenheit gewichen, die Aufsässigkeit der Resignation. Manchmal ging er in den Keller und hobelte an ein paar Brettern herum. Manchmal sah er morgens in den Spiegel und konnte den Blick nicht wenden; das Wasser sprudelte, knisterte im Waschbecken; er rührte sich kaum, wenn es überzulaufen begann. Er kaufte Anne Blumen, fuhr über Land auf der Suche nach etwas, das ihr Freude machen könnte; aber ihm fielen nur noch Haushaltsdinge ein, nachdem eine schlanke Wasserpumpe, die er knallgelb lackiert im Garten aufstellte, ein Steiff-Teddybär von Anne mit Nachsicht quittiert worden waren. Den Schmücke-Kreis besuchte sie jetzt allein, obwohl Arbogast ihnen geholfen hatte, den Text zu vervielfältigen.
Als die Namen Ungarn, Budapest einen verschwörerischen, freiheitsblauen Klang bekamen, übernahmen Anne und Judith Schevola die Vervielfältigungen; statt der Parteibroschüren zog Judith Schevola nun Schriften dissidentischen Inhalts ab. Richard beobachtete Anne und sah mit Verwunderung, wie die Wohnung in kurzer Zeit zu einer Art konspirativer Zelle wurde. Schuhkartons mit kopierten Schriften stapelten sich in den Zimmern (und wurden von schweigsamen Burschen nach Losungswort abgeholt, einmal von André Tischer mit einem Krankenwagen); merkwürdige Bücher und merkwürdige Menschen erschienen, letztere wurden bewirtet, warfen rasch die Arme in die Höhe, um von irgendwelchen Gesellschaftsmodellen mit Emphase zu schwadronieren (die belegten Brote waren danach verschwunden) oder hörten anderen beim Schwadronieren zu, erhoben kluge oder weniger kluge Einwände, bewunderten die Standuhr und die Reste bürgerlichen Wohlstands, die ein zur Erheiterung auf dem Klavier hingelegter Flohwalzer, empfand Richard, mit etwas beklemmend Fremdem überzog, das Einsamkeit und Stille danach, wenn alle gegangen waren, nur langsam durchwärmten. Es gab Einbrüche, nach denen die Schuhkartons mit den kopierten Schriften fehlten und — ein sonderbares, primitives Alibi — ganze Reihen eingeweckten Obstes. Eines Tages fehlte auch Roberts Fußballbildersammlung (Fotos, die zwischen Silberpapier und Hülle einer westdeutschen Schokoladenmarke klemmten, die von Alice und Sandor jahrelang den Weihnachtspaketen beigelegt worden war), und Richard, der in ohnmächtiger Verzweiflung zur Polizei, zur Kohleninsel, schließlich zur Grauleite lief, um sich zu beschweren, wurde zum ersten Mal seit undenklicher Zeit krank (Clarens nannte es endogene Depression, er schwieg), verbrachte, während draußen Mandelbäume blühten und von den Elbwiesen der nussige Duft des Sommerheus durch die Fugen der abschließbaren Fenster drang, zwei Wochen tiefer Melancholie in Clarens’ Klinik, über deren Flure Frau Teerwagen erloschenen Blicks tappte, wo Richard Alexandra Barsano wiedersah mit kurzgeschorenem Haar, widerstandslos gegenüber den Anweisungen der Schwestern, die sie zu ihren alltäglichen Verrichtungen begleiteten; wo nachts aus dem Selbstmördersaal verrücktes Schreien den warmen Schlaf der übrigen Patienten zerhäckselte — bis der Diensthabende erschien, gefolgt von einer Walküre mit einem Tablett voller Spritzen, von dem er sich, wie Richard von Visiten wußte, bediente wie andere der Ersatzteile von einem Fließband; und die Stille» wiederherstellte«— zurückimpfte Kehle um Kehle. Besuch bekam Richard nicht. Die Kollegen schwiegen, niemand wollte etwas wissen nach seiner Entlassung, selbst die immer neugierigen Schwestern nicht. Und Anne? Sie hatte keine Zeit. Sagte:»Du bist wieder da; gut. «Sie telefonierte wenig (man hätte doch nur Belanglosigkeiten tauschen können), organisierte viel, ging oft weg. Richard fragte nicht, worauf das hinauslaufen sollte. Vielleicht hätte Anne ihm nicht geantwortet — so konnte er noch hoffen, daß er von ihr eine Antwort bekommen würde. An den Wochenenden, wenn er dienstfrei war, aß er in der» Felsenburg «bei Kellner Adeling, wo im Vestibül der Regulator tackte und die Farbkorallen auf der Kokoschka-Staffelei staubfrei glänzten. Anne schmierte sich eine Semmel und ging an das, was sie» ihre Arbeit «nannte: Treffen irgendwo in der Stadt, Unterredungen mit Vertretern Ostroms und des Schmücke-Kreises. Auch sie hatte einen Koffer gepackt; er stand neben Richards Tasche im Flur-Kleiderschrank. Je mehr die Fluchtbewegung über Ungarn zunahm, desto angespannter saß Anne auf der Veranda, wo sie sich in violettstichige, auf schlechtem Papier abgezogene Schriften vertiefte. Sie hatte für den Schmücke-Kreis den Kontakt zu Pfarrer Magenstock vermittelt, der mit Rosenträger befreundet war; Rosenträger konnte den akut Gefährdeten Unterschlupf bieten. Sie sprach mit Reglinde: Sie würde, wenn sie bei ihnen wohnen bliebe, in Schwierigkeiten geraten — Reglinde begann als eine Art Kurierin zu arbeiten, der Zoo war ein guter, neutraler Treffpunkt (das Gorillagehege würde wohl kein Fremder zu durchsuchen wagen); unter den traumwandlerischen Umgriffen der Gibbons wurden Kassiber hin- und hergespielt. Was Anne tat, was Magenstock, die Mitglieder des Schmücke-Kreises taten, war strafbar, der Paragraph trug die Nummer 217. Aber sie, die Richard bisher gebremst hatte, wenn es um» Politisches «ging, zögerte jetzt nicht mehr. Sie schien genau zu wissen, was sie wollte. Er wußte es nicht.
72.
Der Magnet
… herauf aus tiefem Schlaf der Zeit,
schrieb Meno,
Papier: geriet in griesgrämigen Sog, wo die Walkmüller stocherten, Walkmühlen den Rohstoff verfilzten, Flußarm hin zur Papierrepublik, Schiff Tannhäuser fuhr durch die Allee der Uniformen (und ich erinnerte mich an Blasmusik und Militärkapellen, die breiten Boulevards der atlantischen Stadt, über die Winter und Wolken wie Eiderentennester trieben, segelnde Polarforscher am Himmel: die Tscheljuskin, und Nobiles Expeditionen, von Oktoberkindern begrüßt, der Fluß hob und senkte die Stadt wie auf Hydraulikbühnen, das Wasser, braun, eisschlierig, aufgeheizt von Zellstoffresten und Motorenöl und den Schalltrichtern (krustig, leckend, von Richthämmern zerbeult) überm betonierten Ufer, die sich in den Abwasserkanal einer Düngemittelfabrik erbrachen, der Schaum: Guanoweiß, Phosphate, die am Einschleuser quirlten, entzündeten im Fluß eine Ader Zitronengelb — war es die zitronengelbe Newa, knisternd von Rubelscheinen im Frost, war es die Moskwa, war es der elbische Strom, der plötzlich durchsichtig wurde für die Schiffe am Grund, giftiger, blütenglühender Honig? — ; Eisschollen rieben sich knirschend aneinander, und schon in den Morgenstunden, wenn die brontosaurischen, von Gerüchten und Angst, vom Schweiß des Schweigenmüssens durchsäuerten, verwitterten, nachts vor den Lichtstäben und den Stiefelschritten atemanhaltenden, tausendköpfigen Mietparteienhäuser, die Flure mit den aufgespannten Wäscheleinen und über Nacht zu Eskimo-Stockfisch vereisten Unterhemden, die verstopften Klos in den Kommunalkas, die maurischen Stuckbögen in den Takelagen vier Meter hoher, durch Schrankrücken, Vorhänge, Koffer getrennter Zimmer, aus gefrorenen Graphitblöcken zurückzuschmelzen schienen, schon in den Morgenstunden, wenn die schwarzen Wagen mit der Aufschrift» Fleisch «ihr Werk getan, wenn die Krähen aus den Stadtparks besprochen hatten, was den Tag über zu tun sei (Schlachthöfe besuchen, die gefrorenen Fontänen von Bachtschissarai sehen, das Bild des Geliebten Führers ins Licht über der Admiralität, dem Marinemuseum schwärzen), schon in den Morgenstunden begannen die Militärmärsche, pumpten Viervierteltakt aus den öffentlichen Lautsprechern auf die Magistralen, wo er liegenblieb wie Schlick, gewiß hatte einer der Nabobs Geburtstag, einer der Hohepriester aus dem Palast von Byzanz, roter Stern über dem Eismeer, es würde ein Morgen werden voller haltender Trolleybusse, erwartungsfroh angespannter Gesichter, Veteranen mit metallklirrender Brust; ein Morgen der Luftstreitkräfte, Ulrich beneidete die Flieger um ihre» Poljot«-Uhren und um das Hellblau auf Schirmmützen und Kragenspiegeln, schwenkte ihre Fahne mit dem Propeller; ich mochte die Uniformen der Marine, dunkelblau mit Goldknöpfen, mochte die Vierundzwanzig-Stunden-Uhren von» Raketa«, die die U-Boot-Kommandanten trugen, und dann, wenn die Kommandos aus den Lautsprechern verhallten, Trommelwirbel und Marschmusik abebbten, eine Sekunde Stille entstand, Atlantis mit angehaltenem Atem vor Rundfunkgeräten in den Fabriken, Schulen, Universitäten, erklang die unvermeidliche Tschaikowski-Melodie, gespielt vom Bolschoi, dann setzte sich der Große Zug in Bewegung, Tambourstöcke wirbelten vor weißbehandschuhten Trommlern und Schalmeienkapellen, auf der Empore des Pharao-Mausoleums hoben sich die goldblinkenden Fanfaren. Punktklein, in sublimer Blasphemie auf den Rotgranitblöcken, unter denen der Große Tote ruhte, winkte der Hofstaat den vorüberdefilierenden werktätigen Massen zu, dem Elektrizitätswerk auf Rädern, dem Taigawald der Raketen, den salutierenden, weißbehandschuhten Kommandanten auf den Panzern, die an einer unsichtbaren Wasserwaage ausgerichtet voranschleichen, den farbige Geburtstagsschleifen in die Luft kurvenden MIGs, ich erinnerte mich, die atlantischen Häuser wurden von Marschmusik und Tschaikowski durchspült, verloren Korn um Korn einer alten, halbvergessenen Substanz, wie Salz, das aus einer Sohle ausgewaschen wird —
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