Er war der dritte Mann auf dem Bagger. Seine Aufgabe bestand darin, das Schaufelrad zu reinigen. Das Erdreich über der Kohle wurde systematisch abgetragen, beginnend mit der Oberkante der Abraumlage, die in einer gut metertiefen Spur eingeschnitten wurde, die horizontal den Schwenkbereich des Schaufelradauslegers vermaß, von links nach rechts und, in der nächsttieferen Ebene, von rechts nach links. Dauerte eine Schwenkung zwanzig Minuten, eine halbe Stunde? Christian wußte es nicht, auf dem Bagger durfte er keine Uhr tragen. Am Scheitelpunkt der Fahrt stoppte das Schaufelrad, und Christian turnte, nach der Eingewöhnung behend wie ein Orang-Utan, über die Streben, Roste und geländerten Stege nach oben und vorn auf den Auslegerkran, an dessen Ende, ungefähr fünfzehn Meter vom Baggerrumpf entfernt, Christians Arbeit begann: die am Rad festgebackenen Erdmassen abzuschlagen. Dazu benutzte er eine Spitzhacke, die der Baggerführer zu Schichtbeginn in der krähennestartigen Werkstatt im obersten Stockwerk des Baggers nachschliff, sowie, wenn Frost die Erde verharschen ließ, ein nicht zur Standardausrüstung gehörendes Fleischerbeil, das ihm der zweite» Mann «mitgebracht hatte (eine Riesin unbestimmbaren Alters in Männerarbeitskleidung, die selbst in den Pausen, beim Essen, ihre Fäustlinge anbehielt und kein Wort sprach) und bei Schichtwechsel mit einem mürrischen Grunzen wieder einforderte. Christian hackte wie ein Mörder drauflos, er spürte den Blick des Baggerführers im Rücken, der aus der tiefergehängten Kanzel, der Finsternis oberhalb einer ruhig auf- und verglimmenden Zigarette forschte; der Baggerführer machte sich einen Jux daraus, das Rad nach exakt zehn Minuten, manchmal auch eher und nur so, zur Probe und» zum Munterwerden«, wie er sagte, einzuschalten. Christian versuchte sich an den Abstand zwischen den Schlägen der Zehnminutenuhr zu halten, aber es gelang ihm nicht, diese Zeitspanne, die er ins Fleisch gewachsen glaubte, aufzurufen. Das an der Schaufelradabdeckung festgewalzte Erdreich hatte, wenn es nicht fror, die Beschaffenheit von Kork; Spitzhacke und Fleischerbeil federten zurück, mehr als einmal war Christian das Werkzeug aus der Hand gerutscht und als armselig dünnes Spielzeug unten, in der Tiefe neben den Gleisketten, aufgeschlagen. Wenn es fror, wurde das Erdreich in der Minute, die er vom Aufenthaltsraum bis zum Schaufelrad brauchte, hart wie ein Baumstamm, dann hieb und spaltete und scherte Christian die schwarzbraune Masse nur span- und splitterweise ab, unter Leibeskräften, gejagt von der Angst, vom plötzlich andrehenden Rad erfaßt zu werden. Hier oben griff der Wind derb zu, ohne die umwerbende und, beim Abwarten, verlogene Schmeichelei seiner Bodentruppen, ohne die beim Punchen gedämpft aufkeuchenden Boxhandschuhe seiner Staub-Weltergewichtler, ohne die Luftkissen unter den plattfüßigen Sprüngen auf die Abraum-Förderbänder, über denen Blechlampen wie ertappte, von der Wut bärenstarker Wirte geschüttelte Zechpreller schaukelten. Der Schiffsarzt hatte Christian von Segelschiffen im Sturm erzählt, wie die Matrosen, zwanzig, dreißig Meter unter sich das tumultuöse Meer, über dem Mast hingen, auf Leinen balancierend, die» Pferd «hießen, in ein widerspenstiges, in fesselnsprengende Rage geratenes Segel gekrallt, das sie zu bergen versuchten,»eine Hand für’s Schiff, eine für’s Leben«. Zu steil, dachte Christian, du bist nicht auf einem Schiff. Aber die Vorstellung half, drückte einen Bruch in die Wirklichkeit, machte sie auf unkomplizierte Weise erträglicher. Wasser … und Ratten. Das Wasser sammelte sich am Grund des Tagebaus, kaum zu bewältigen für die Pumpen, deren Röcheln der Wind hin und wieder aus seinen Chören entließ, ein Geräusch, das Christian wie der Todeskampf von Lebewesen vorkam, die in Wahrheit in den Maschinen tätig waren (versklavt und eingesperrt von einem modernen Fluch) und Christian leid taten, weil sie immer nur Wasser trinken mußten — was er für den neuerlichen Beweis nahm, daß es auch eine allmähliche Seite der Torturen gab. Die Ratten waren fett und ungeniert und hatten die schlüpfrige Biegsamkeit von Tieren, die man zwischen beide Hände gepreßt halten muß (verwilderte Katzen, Iltisse, alte Unken); der Baggerführer, von dem Christian nie den Namen, nur den Spitznamen (»Schecki «oder» Scheggi«, je nach Grad der aus dem Alkohol geliehenen Beseligung) erfuhr, schoß gern, wenn das Schaufelrad in den Berg schwenkte und seine Maulwurfsmahlzeit begann, aus der Kanzel mit einem Luftgewehr auf sie, wobei es sein Ehrgeiz war, sie» sauber «zu treffen (in die Augen oder, das galt mehr, in den glitschig rosigen, nackten Schwanz, der dann zur veitstanzenden Peitsche» auflebte«— sagte Schecki: in einem der wenigen Gespräche, die er mit Christian führte, es hatte mit einer in Richtung Hangkante vag erhobenen Hand und einem geknurrten» Da oben waren mal Friedhöfe«, begonnen, nachdem Christian einen schlecht verwesten Fuß in einer der Schaufeln des Baggerrads entdeckt hatte). Schecki grinste, genehmigte sich einen Schluck Hagebuttentee, den die Tagebauleitung kostenlos an ihre Arbeiter verteilte, drückte auf den Knopf des Baggerfunks und brüllte» fressen «in die Membran; ein aufgebrachtes Krächzen aus Schanetts (so wurde die Abladerin genannt) Kabine antwortete ihm. Schanett ließ den eben befüllten Waggon vollrieseln, schmiß die Kabinentür zu, beugte sich über den Abladerausleger und stieß einen Schrei aus, den ein hechelnder Pfiff der Lokomotive vor den Abraumwaggons bestätigte. Sie stapfte in den Aufenthaltsraum, wo es Christians Aufgabe war, den Tisch mit vier der zerkratzten, auf der Rückseite als Eigentum des Braunkohlenkombinats gekennzeichneten Plastteller, und dreimal Aluminiumbesteck zu decken (Schanett aß mit einem privaten Schlachtermesser) und das Bratblech einzuschalten, das neben Scheckis Umkleidespind frei aus der Wand ragte. Wenn das Blech glühte, stand Schanett auf, spießte einen Margarinewürfel auf das Schlachtermesser, klatschte ihn auf das an den Kanten aufgebogene Blech, wo die Margarine zischend umherschwamm (die überschüssige tropfte in einen verrosteten Wehrmachtstahlhelm, den Schecki aus dem Abraum gefördert und unter dem Blech befestigt hatte), entnahm ihrem Rucksack (die Fäustlinge legte sie nicht ab) vier in Zeitungspapier gewickelte Schweinesteaks, spießte sie ebenfalls auf das Schlachtermesser, ließ das Blut abtropfen, warf sie wütend auf das Blech, wendete, streute aus einer Büchse, die alle drei Gewürze zugleich enthielt, Salz, Pfeffer und Knoblauch über das schmurgelnde Fleisch, nickte Schecki und dem Lokführer, die inzwischen obszöne, im Tagebau kursierende Witze austauschten, mit einer verächtlichen Geste heran, wenn die Steaks fertig waren. Christian legte sie das Fleisch selbst vor, zögerte einen Moment, bevor sie dem Teller einen Stoß in seine Richtung gab, so daß er, Soße und Blut schwappten auf die mit Stahlklammern befestigte Wachstuchdecke, über den Tisch schlitterte. Sie aßen, meist nachts um zwei Uhr, und währenddessen flaute das Blech ab. Sie wohnten alle in der Kohle ; der Tagebau war nur einer von vielen, die untereinander zusammenhingen und ein horizontweites Konglomerat von aufgewühlter Erde, Schlamm, Abraumhalden, Kohleflözen bildeten, auf denen die Bagger wie raffende Schatzsucher hockten, umschwärmt von den blutsaugenden Insekten der Kipper. In der Kohle : Irgendwo in der Dunkelheit, die entweder von oben (der rasch drehende Himmel) oder von unten kam (Lehm, Glei, die ölig schimmernden Wasserlachen, die man besser umging), gab es die Reste einer Ortschaft: Brandmauern, verfaulte Zäune, schräg durchgerissene Häuser, Tapetenreste und Konturen von Einrichtungsgegenständen noch sichtbar, eine Konsum-Verkaufsstelle, die nicht mehr bedient wurde (Schecki, Schanett und der Lokführer waren Selbstversorger, hatten ein paar Kühe und Schweine, bauten an, was sie brauchten). Auf einem Gehöft, übriggeblieben von einem Dorf, hauste Schanett allein mit ihrem bettlägerigen Vater, dem ehemaligen Dorffleischer, ohne Strom, ohne fließend Wasser, nicht einmal eins der vielen Gleise der Tagebau-Eisenbahn führte dorthin. Die letzte Stunde der Nachtschicht übernahm Christian den Ablader. Schanett ging, geleitet von Witterung und genauer Kenntnis der sich ständig verändernden Wege im Abbaugebiet, an den fahl erleuchteten Waggons und den kilometerlangen Förderbändern vorbei davon, um bei Tagesanbruch die Tiere füttern zu können. In der Abladekabine hing, neben dem Fenster, ein Plakat, grüne Inseln in grünem Meer.
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