Eine Frau erzählt von einem Bekannten, der Pilot war, aber leider bereits verstorben ist. Wie sie darauf gekommen ist, habe ich versäumt, dafür höre ich deutlich, was Kapitän Wolfauer antwortet:»Piloten sterben entweder jung oder werden sehr alt.«
Ich frage mich, ob er uns damit aufmuntern will. Wenn ja, geht es daneben, denn ich finde, er sieht noch ganz jung aus und ist somit durchaus Kandidat für einen heutigen Absturz.
Mike und ich gehen als erste in die Maschine. In der Hand halte ich die Presse , die Seite mit meinem Roman vorn. Ich habe das Gefühl, jemand ist dicht hinter mir. Ich schaue nach hinten, und da ist wirklich jemand. Mike und ich reden nicht, gehen, ich habe mehr Angst als je zuvor in meinem Leben. Der Mann bleibt hinter uns, er ist unangenehm nahe, er klebt förmlich an uns. Ich drehe mich um. Er gehört nicht zu unserer Gruppe, ich habe ihn noch nie gesehen. Er hat einen irren Blick, liest laut murmelnd in der Bibel, um den Hals trägt er ein Werbeplakat für den Wachturm , die Zeitung der Zeugen Jehovas. Man braucht ihn nur anzusehen, und man erkennt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Trotz meiner Angst muß ich lachen. Weil es einfach unmöglich ist, daß dieser Kerl hinter jemand anderem herschleicht als mir. Ich muß es sein. Ich bin es immer. Das sind die Geheimnisse des Seins. Ich glaube an Netze, ich glaube an Felder, ich glaube daran, daß alles auf rätselhafte Weise miteinander verwoben ist, daß sich bestimmte Dinge, die zusammenhängen, immer wieder finden. Nur: Wieso finden mich die Gestörten und Verrückten? Ich habe nicht das Gefühl, wirklich zu ihnen zu gehören. Ich will nicht zu ihnen gehören. Ich will ans Licht, immer schon, aber es dauert ziemlich lang.
Das Heulen der Turbinen ist das furchtbarste Geräusch, das ich je gehört habe. Ich habe solche Angst, daß mir übel ist. Ich überlege auszusteigen, ich tue es nicht, weil ich weiß, wie ich mich hinterher fühlen würde.
Ein Kerl, der nicht zu uns gehört, tippt in seinem Mobiltelefon herum. Der Mann spielt mit meinem Leben. Hätte ich die Kraft dazu, ich würde hingehen und ihm irgend etwas über den Schädel ziehen. Nein, das sage ich nur so, das stelle ich mir vor. Aber trotzdem.
Auf der Startbahn, kurz vor dem Start, schaltet er es aus.
Den Start erlebe ich wie in Trance, weil sich mein Hirn mittlerweile weigert, alle Angstimpulse zu verarbeiten, und ich das Gefühl habe, neben mir zu sein. Was ich nicht weiß, was mir Else später erzählen wird, ist, daß wir in den Sekunden nach dem Start über die Badener Bahn fliegen, und in dieser Bahn sitzen Else und Stanislaus, die bei IKEA waren, und schauen hoch zu dem Flugzeug. Stanislaus sitzt auf Elses Schoß, sie zeigt zum Himmel und sagt:»Schau, vielleicht sitzt Papa in diesem Flugzeug!«Später werden wir anhand der Uhrzeit und des Aussehens des Flugzeugs feststellen, daß es meines war, daß ich wirklich in diesem gesessen habe. Und Else wird mir erzählen, daß sie sich, Stanislaus auf dem Schoß, gefragt hat, ob das jetzt ein Zeichen ist — sie mit dem Jungen allein am Boden, ich am Himmel davonfliegend, ein Zeichen dafür, daß ich nicht zurückkomme.
Zum Glück weiß ich das in diesem Moment nicht. Ich versuche mir etwas zu notieren, aber ich kann den Kugelschreiber nicht fest genug halten und bringe nicht mehr als ein unleserliches Gekrakel zustande. Wir steigen und steigen, ich schaue benommen aus dem Fenster. Was ich fühle, ist eigentlich nicht mehr Angst zu nennen, ich bin schon jenseits der Angst, die Angst ist hinter mir, ohne daß das bedeutet, daß ich angstfrei wäre.
Das Anschnallzeichen erlischt. Ich stehe auf, als allererster, und gehe herum. Ich sperre mich in der Toilette ein. Über diese winzige Zelle haben mir sogar Menschen ohne Flugangst berichtet, sie würden sie nur ungern betreten. Ich stehe da, pinkle, horche in mich hinein, finde keine Angst. Es ist seltsam.
Ich setze mich wieder. Eine wunderschöne junge Flugbegleiterin bringt mir Kopfhörer. Die Schonbezüge fallen ab, und ich versuche ungefähr zehn Minuten lang, sie wieder dranzukriegen. Schließlich gebe ich es auf, meine Feinmotorik ist nicht besser als die eines Menschen mit Gipsarm. Das ist der Moment, in dem mich die Flugbegleiterin ins Cockpit holt.
Die Piloten begrüßen mich, sie sitzen so entspannt, als wären sie irgendwo in einer Eisdiele. Kapitän Wolfauer sagt, wir hätten 100 km/h Seitenwind, was ich erstaunlich finde, denn man merkt nicht das Geringste davon.
Als wir über 8500 Meter kommen, muß ich daran denken, daß sich in dieser Höhe Menschen bewegen, daß mein Freund Gerfried Göschl, der ohne Sauerstoff auf dem Everest war, sich immer wieder in diese Höhe wagt. Der Kerl muß verrückt sein.
Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben die Erdkrümmung. Meine Ohren knacken, ich sage danke und mache einem der anderen Teilnehmer Platz. Es ist der Mann mit dem Silberblick. Wirkt vollkommen weggetreten. Besorgt warte ich, ob ich meine schwachen Kräfte einsetzen muß, um beim Niederringen eines Wahnsinnigen zu helfen. Als ich in den Passagierbereich zurückkehre, nehme ich die Blicke eines orientalisch aussehenden Mannes auf, der im Koran liest. Er sieht beunruhigt aus, mißtrauisch verfolgt er das Kommen und Gehen im Cockpit.
Der Landeanflug auf Brüssel. Mein Puls steigt wieder. Wir ziehen Schleifen. Kurvenfliegen, stelle ich fest, gefällt mir nicht so gut wie Geradeausfliegen. Wir sinken, sinken, neben uns sieht man Häuser, und ich denke fröhlich: Jetzt wäre es gut, wenn da unten eine Landebahn wäre. Ich lache hysterisch.
Das Flugzeug setzt auf, bremst ab, ich bin in Brüssel.
In der nächsten halben Stunde plündert unsere Gruppe die Duty-free-Shops. Ohne Angst gehe ich zurück in die Maschine. Wir starten, wir fliegen nach Wien, wir landen, wir verabschieden uns voneinander.
Ich setze mich in den CAT und rufe Daniel an. Er fragt mich, ob ich stolz bin, ich sage nein. Es ist ja nicht mehr als die Rückkehr zur Normalität, die ich geschafft habe, und keine Heldentat. Aber froh bin ich doch, und glücklich, am Leben zu sein. Ich habe nämlich ein naßgeschwitztes Exemplar der Presse dabei, in dem mein Roman vorabgedruckt ist.
Furchtbar geschlafen. Den ersten Teil der Nacht hatte ich Angst vor Gespenstern. Dann kam Stanislaus, die Angst ging weg, dafür wurde ich den Rest der Nacht getreten, doch besser Tritte als Angst. Außerdem kann ich derzeit sowieso nicht gut schlafen, denn es dauert nicht mehr lang. In vier Wochen erscheint Die Arbeit der Nacht . Die Jury des Deutschen Buchpreises hat die Exemplare bekommen, der Verlag ist guter Dinge. Die Shortlist könnte zu schaffen sein. Aber niemand will etwas verschreien.
Ich sehe mir die Homepage des Deutschen Buchpreises an. Diese Jury, was sind das für Leute?
John von Düffel, Schriftsteller. Ein Kollege also. Er und ich waren unter den etwa zwanzig Teilnehmern der Bayerischen Literaturtage 1999. Ich kenne seine Sachen nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob er mag, was ich schreibe.
Volker Hage, Journalist beim Spiegel . Geschrieben hat er noch nie über mich. Ob der etwas mit der Arbeit der Nacht anfangen kann?
Elmar Krekeler, Journalist bei der Welt . Vor sechs Jahren habe ich für ihn einen Artikel über Fußball gemacht. Kann nicht einschätzen, was er mag.
Terézia Mora, Schriftstellerin. Hat den Bachmannpreis gewonnen. Keine Ahnung, ob Bachmannpreisgewinner mit meiner Literatur zurechtkommen, umgekehrt sieht es nämlich nicht so gut aus.
Pia Reinacher, Germanistin. Da mache ich mir keine Sorgen, eine Schweizerin und Germanistin, die mag mein Buch. Na ja, oder auch nicht.
Stephan Samtleben, Buchhändler. Ein Buchhändler! Der ist bestimmt auf meiner Seite.
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