Bärbel Kempf-Luley
Mit Illustrationen von Sanne Dufft
Meinen drei Enkelkindern und allen Kindern und Großeltern
Egal wie alt wir sind oder werden, steckt in uns noch das Kind, das wir waren. Unsere Kinder und Enkel erinnern uns täglich daran .
Hallo! Einige von euch kennen uns schon .
Uns – das bin zum einen ich, die Oma, und Nora, meine älteste Enkelin, sowie ihre kleine Schwester Lucy .
So, wie ihr immer größer werdet, werden auch Nora und Lucy größer und älter. Das ist manchmal schön, weil man immer mehr kann und immer mehr darf, und manchmal ist es vielleicht auch nicht so schön, weil man immer mehr muss .
Ich erzähle euch diesmal von all den vielen Veränderungen, die es mit sich bringt, wenn man größer wird .
Zu allererst möchte ich euch eine Geschichte erzählen, die schon lange zurückliegt. Länger als all die Geschichten von Nora, die ihr vielleicht schon kennt. Es ist die Geschichte des Tages, als Nora ganz besonders »groß« wurde – weil sie plötzlich eine kleine Schwester hatte!
Manchmal betteln Nora und Lucy, dass ich ihnen diese Geschichte erzählen soll, weil sie irgendwie so wichtig ist. Und das tu ich gern. Ich erinnere mich daran, als wäre es eben erst passiert:
KLEINE SCHWESTER – GROSSE SCHWESTER
NORA HAT KUMMER
UMZIEHEN
OSTERN
SERVUS
SCHLOSSBESUCH
OMA ÜBERNACHTET
OMA FEIERT KINDERGEBURTSTAG
BOOT FAHREN
MUSCHELTELEFON
AM SEE
ENDLICH ERSTER SCHULTAG
STREITEN UND VERTRAGEN
KÜCHENCHAOS UND PRINZESSINNENESSEN
SO RICHTIG GRUSELN
SILVESTER
DIE AUTORIN
KLEINE SCHWESTER – GROSSE SCHWESTER
»Mensch, Oma! Mach schnell! Wir müssen uns beeilen!«, ruft Nora.
Oma nickt.
Dieses Mal kann sie Noras Ungeduld verstehen. Die letzten Tage waren aufregend. Denn Mama war im Krankenhaus und kommt heute nach Hause.
Das Baby ist endlich da, Noras kleine Schwester. Eine Ewigkeit hat das gedauert. Mamas Bauch ist immer größer und runder geworden, und Nora konnte gar nicht begreifen, dass Mama nicht platzt. Nun ist sie da, die kleine Schwester, und heute ist es so weit, heute kommt Mama zurück nach Hause, und auch Nora darf wieder heim. Weil Mama im Krankenhaus war und Papa arbeiten und sich um Mama und die kleine Schwester kümmern musste, hat Nora ein paar Tage bei ihren Omas verbracht.
Nora hat beide Omas lieb und ist gerne dort, aber dieses Mal wäre sie lieber bei Mama geblieben. Oder bei Papa. Die Tage sind ihr lang vorgekommen. Immer müssen die Erwachsenen so wichtige und dringende Dinge tun. Immer nie ist so richtig Zeit! Und alle Zeit der Welt hätte Nora gerade richtig gerne gehabt. MIT Mama. MIT Papa. MIT der Postoma. Und mit der anderen Oma.
Jetzt, wo Mama wieder daheim ist, will sie ganz dringend und unbedingt nach Hause.
Sie haben oft darüber gesprochen, wie es sein wird mit der kleinen Schwester. Nora hat Mama erzählt, was sie alles zusammen machen werden. Sie wird ihr alle ihre Spielsachen zeigen, aber es sind IHRE Spielsachen. Ob sie ihre kleine Schwester damit spielen lassen will, das weiß sie noch nicht so genau. Vielleicht. Wenn die sie ganz lieb bittet.
Mama hat sehr vorsichtig versucht, Nora zu erklären, dass die kleine Schwester erst einmal sehr, sehr klein sein wird. Dass sie nicht sprechen und nicht laufen kann und ganz viel schlafen muss. Nora hat die Stirn gerunzelt. Eine Schwester, die nicht laufen und nicht sprechen und mit der man nicht spielen kann? Wozu dann eine kleine Schwester? Ihr Interesse nahm augenblicklich ab.
Bis Mama ihr erklärt hat, dass das Baby viel Liebe braucht und gewickelt, gebadet, gefüttert und rumgetragen werden muss. Oh, das wiederum war durchaus interessant. Fast wie mit ihrer Puppe. Sie hat die Puppe geholt und gleich schon mal geübt. Denn eins stand fest: Sie würde die kleine Schwester tragen und füttern und schaukeln und ihr vorsingen und sie wickeln.
Mama hat geseufzt, als Nora die Puppe in die Ecke warf. Und gesagt, dass man ein Baby auf gar keinen Fall so hinwerfen darf. Und eine Puppe eigentlich auch nicht. Und weil Nora das als eine Rüge empfunden hat, hat sie erst mal lauthals geweint. Sie war in den letzten Wochen sehr empfindlich.
Auch wenn sie sich natürlich gefreut hat auf ihre kleine Schwester, wusste sie doch nicht so genau, was sie davon halten sollte. Mama hat immer wieder von ihr geredet. Vieles mochte sie gerade nicht mit Nora machen, weil sie immer so müde war.
Aber jetzt kommt Mama nach Hause, und dann wird endlich alles wieder so sein, wie es vorher war.
»Oma? Du bleibst aber meine Oma?«
Oma ist verblüfft. Aber nur ein bisschen. Denn dass in Nora so einiges vorgeht, was sie nicht recht benennen kann, das hat die Oma schon länger gespürt. Und auch, dass Nora dieses Mal nicht ganz so froh war, bei ihr zu sein.
»Klar bleib ich deine Oma. Wie kommst du denn darauf?«
Nora schluckt. »Ich will, dass du meine Oma bleibst. Nur meine.«
Jetzt schluckt die Oma. Aha, daher weht also der Wind. »Nora, ich habe dich lieb.« Sie nimmt Nora ganz fest in den Arm. »Und ich bleibe immer DEINE Oma. Aber jetzt bin ich auch die Oma deiner kleinen Schwester. So ist das nun mal. Da kann man nix machen.«
Nora überlegt. Das gefällt ihr nicht. Muss sie jetzt alles mit dem Baby teilen? Die Mama, den Papa, die Spielsachen, das Zimmer … Sie will wenigstens die Oma für sich! Für sich ganz alleine!
Da klingelt das Telefon. Es ist Mama. Sie ist schon zu Hause. Und jetzt platzt Nora beinahe vor Ungeduld und will augenblicklich heim. Also sammelt Oma schnell alle Sachen ein und wirft sie, in der Eile etwas unordentlich, in die große Tasche. Nora runzelt die Stirn.
»Mensch, Oma! Du musst das ordentlich machen.«
Oma mault: »Wenn du alle paar Sekunden sagst: Nun komm endlich, Oma, habe ich für Ordnung keine Zeit.« Endlich sind sie fertig und machen sich auf den Weg.
Kaum geht die Autotüre auf, stürmt Nora hinaus und rennt zur Terrasse. Sie klopft ungestüm gegen die Türe. »Mamaaaa!«, schreit sie.
Die kommt und legt den Finger auf den Mund.
»Pssst. Ganz leise. Das Baby schläft.«
Nora runzelt die Stirn. Leise? Wo sie sich so freut, dass die Mama endlich wieder da ist? Wo sie endlich wieder kuscheln können und Mama mit ihr spielen soll? Wo Mama sooo lange weg war?
Dann zeigt Mama auf den Laufstall, der früher schon für Nora hierstand, dann weggeräumt wurde, und nun schon seit Wochen wiederum an seinem alten Platz steht und auf das Baby wartet. Nora beugt sich darüber. Und da liegt im Laufstall, in ihrem Laufstall, die kleine Lucy. Und schläft. Lucy sieht nicht aus, als würde sie so leicht von einem Geräusch geweckt.
Nora schaut das Baby an. Natürlich hat sie es schon gesehen. Im Krankenhaus. Sie hat es sogar schon voller Stolz im Arm gehalten und gestreichelt. Sie hat mit Mama und Lucy im Krankenhausbett gekuschelt. Und sie hat sich vorgestellt, wie sie von nun an das Baby füttert und wickelt und trägt und ihm vorsingt, ganz wie mit ihrer Puppe.
Aber das war im Krankenhaus. Und jetzt ist sie zu Hause. Und gerade hat sie Mama eine Ewigkeit nicht gesehen. Und jetzt will sie mit Mama kuscheln und spielen. Als sie endlich aufblickt, sind ihre Augen kugelrund und es schimmern Tränen darin. Sie schluckt.
»Noch eine Lucy?«, fragt sie entsetzt.
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