«Und Israel tötet Kinder«, sagt er da plötzlich neben mir.
«Was?«
«Na, sie haben im Libanon wieder mal Zivilisten bombardiert.«
«Aber das heißt doch nicht, daß Israel Kinder tötet!«
«Das ist ein Terrorstaat«, sagt Enrico.
Ich stelle ihm einige scharfe Fragen, er sagt immer wahnsinnigere Sachen. Mir wird schlecht. Ich sehe sein freundlich-argloses Gesicht vor mir, und ich sehe darin den arabischen Laden am Naschmarkt, in den er so gern geht, das Falafelhaus ein paar Häuser weiter, wo er so gern mit dem Kurden Wasserpfeife raucht, und all die anderen Kneipen ringsum, wo er sich so links und korrekt fühlt, weil er mit Arabern raucht und säuft und ein Freund von ihnen ist, egal, was für Meinungen sie vertreten. Ich stehe vor diesem politisch korrekten Menschen, der es in Ordnung findet, daß in Nordisrael seit Jahren Woche für Woche Raketen neben Altersheimen und Kindergärten einschlagen, weil ja, so steht es geschrieben, Israel ein Aggressor ist. Ich sehe diesen Kerl vor mir, sehe, was ihn eigentlich antreibt, und aus mir bricht solcher Ekel, bricht solche Wut hervor, daß ich zu heulen anfange und aus dem Lokal laufe.
Max Goldt hat über seine Gefühle beim Besuch eines KZ geschrieben. Er schildert, wie ihm die Tränen hochsteigen, und wie er sie unterdrückt, weil er nicht weiß, ob seine Gefühle lauter sind in diesem Moment. Und wie einige Monate später, er sitzt allein zu Hause, plötzlich die Tränen kommen, und da kann er dann Vertrauen zu sich und seinen Tränen haben.
An diese Geschichte denke ich jetzt, während ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, wieso wirft mich das jetzt so aus der Bahn?
Ich rufe Daniel an. Er weiß auch nicht, wieso ich so durchgedreht bin und ins Telefon weine, aber er sagt:»Du bist wirklich sehr betrunken«, und tröstet mich, so gut man einen ausgeflippten Betrunkenen eben trösten und beruhigen kann. Wir reden über Antisemitismus, über seine Formen und Ursachen, es ist kein sehr erfreuliches Gespräch, aber durch Daniels sachlichen Ton verringert sich meine Hysterie auf das übliche Maß.
Drei Uhr früh. Ich leere den Weißwein aus meinem Schuh ins Waschbecken, ziehe den tropfenden Strumpf aus und werfe ihn in den Wäschekorb. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus. Dann drehe ich mich vom Spiegel weg, fixiere einen Punkt an der gekachelten Wand und schiebe den Slip runter. Mit zusammengekniffenen Augen steige ich in die Dusche. Ich drehe das Wasser auf, in jeder Sekunde eingedenk, auf keinen Fall nach unten schauen zu dürfen. Also dieselbe Prozedur wie jeden Tag.
Ich weiß nicht, was diesen Impuls in mir auslöst, der Alkohol allein kann es nicht sein, denn ich habe schon oft betrunken geduscht. Plötzlich finde ich es so idiotisch, daß ich seit fast zwei Jahren meine Hoden nicht mehr gesehen habe, so albern, daß ich mich über mich selbst sehr ärgere. Ich steige aus der Dusche, ohne mich abzutrocknen, und betrachte mit heftig klopfendem Herz im breiten Schrankspiegel meine Hoden.
Der eine ist GRÖSSER. Mein Gott, der eine ist GRÖSSER! Ach ja, der war ja schon immer… Aber war er soviel…?
Ich setze mich auf den Badewannenrand, nehme Rasierschaum und Rasierer. Ich beginne mit einer Totalrasur meines Intimbereichs. Immer wieder muß ich mich zwingen, die Augen aufzumachen. Hinzuschauen, mir bewußtzumachen, daß alles in Ordnung ist. Daß diese oder jene Unregelmäßigkeit keinen Tumor anzeigt. Bei einer schnellen Bewegung rutscht mein Hintern vom Wannenrand, und ich fliege auf den Duschvorleger. Ich rapple mich auf, nichts tut mir weh, und ich mache weiter. Blutstropfen vermischen sich mit Wasser und Rasierschaum, werden dünner, verschwinden, kommen wieder, verschwinden wieder. Ich hole mir einen Handspiegel, dabei mache ich den nächsten Abflug, diesmal erwischt es mein Kreuz. Ich setze mich, nehme den Spiegel, schaue, es ist eine schwierigere Arbeit, als ich gedacht habe, jedenfalls für einen Betrunkenen. Wieder liege ich plötzlich auf dem Vorleger, wieder stehe ich auf. Der Spiegel fällt mir aus der Hand, zerbricht jedoch zum Glück nicht.
Und dann bin ich fertig. Ich betrachte mich im Spiegel. Zwei unausgebeulte Hoden. Zwei krebsfreie Hoden. Ich bin nicht krank. Oder? Ich bin nicht krank. Oder?
Ich brause mich ab. Setze mich an den Computer, um Mails zu schreiben.
«Das mußt du dir vorstellen. Im Hotelfoyer kommt eine Frau mit Hund auf mich zu. Danke für das wunderbare Buch, das Sie geschrieben haben! «
«Nett.«
«Die Frau war Iris Berben.«
«Oh.«
«Ja.«
«Iris Berben hat sehr schöne Beine.«
«Einen netten Hund hat sie. Einen Mischling namens Pauli. Und der Fahrer, der mich ins Studio brachte, kannte die Vermessung der Welt ebenfalls. Stell dir das mal vor, ein Fahrer, der liest.«
«Daran merkt man, daß du nicht in Österreich warst.«
«Allerdings.«
«Ich glaube, ich habe gestern nacht wieder Emails geschrieben.«
«Na und? Ich habe auch Emails geschrieben.«
«Ja, aber du warst nicht betrunken.«
«Vielleicht doch.«
«Zum Kuckuck, du weißt schon, was ich meine.«
«Na sagen wir, ich kann es mir vorstellen.«
«Eben.«
«Ja, was willst du jetzt von mir hören? Schreib keine Emails, wenn du betrunken bist.«
«Ich hab es ja schon mit Zusperren des Arbeitszimmers versucht. Aber ich weiß ja vorher nicht, ob ich betrunken nach Hause komme.«
«Das würde ich so nicht sagen.«
«Ich habe das erzählt, damit du mich beruhigst.«
«Entschuldige.«
«Bitte.«
«Entschuldige bitte.«
«Nein, ich meine, ist schon okay.«
«Ach so.«
«Und was mache ich jetzt?«
«Weiß nicht. Wem hast du denn geschrieben?«
«Keine Ahnung. Hoffentlich nicht Michael Krüger.«
«Wieso denn Michael Krüger?«
«Oder Wolfgang Matz.«
«Wieso denn Wolfgang Matz?«
«Na, keine Ahnung. Die kennen mich nicht gut. Die könnten so ein Email falsch verstehen.«
«So kann man es auch ausdrücken.«
«Du bist wirklich nicht sehr konstruktiv heute.«
«Entschuldige. Ich bin etwas abgelenkt, ich habe bis jetzt mit dem Hund gespielt.«
«Mit Pauli?«
«Nein! Mit meinem eigenen!«
«Na schön. Und was mache ich jetzt wegen der Emails? Stell dir vor, ich hätte Denis Scheck irgendwas Unangenehmes geschrieben in meinem Nebel, irgendwas Unfreundliches.«
«Wieso denn Denis Scheck?«
«Mein Gott. Weiß nicht. Einfach so. Denis Scheck ist in der Jury .«
«Das ist alles falsches Wähnen, sagt Buddha.«
«Jetzt hör aber auf.«
«Nein, sagt er wirklich.«
«Was hilft mir Buddha, wenn ich Denis Scheck geschrieben habe, daß er gefälligst was für mein Buch tun soll?«
«Viel hilft er dir! Für Leute wie dich hat er doch gelehrt! Du mußt verstehen, daß Denis Scheck nicht existiert, dann geht es dir besser. Außerdem ist ohnehin alles Sein leidhaft, sagt Buddha. Falsch, das sagt er nicht, das wird immer falsch übersetzt, er sagt: unzulänglich. Unbefriedigend. Wenn du erkennst, daß Denis Scheck nicht existiert, wird es dir bessergehen.«
«Aber er existiert doch!«
«Denis Scheck existiert nicht wirklich. Denis Scheck ist ein Knoten von Gegebenheiten.«
«Du, ich lege gleich wieder auf.«
«Alles samskara ist dukha.«
«Ja ja, schon gut. Ich war heute im Sexshop.«
«Das ist auch dukha.«
«Bestimmt, aber da hab ich wenigstens was davon. Weißt du, was mir da passiert ist? Die Verkäuferin…«
«Ich will gar nicht wissen, was du da gekauft hast!«
«Ich spreche nicht davon, was ich gekauft habe. Ich will dir erzählen, was mir passiert ist.«
«Bitte.«
«Die hübsche Verkäuferin zeigt mir Handfesseln…«
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