Carls Hand brannte, der Schmerz stach in den Ellbogen hinauf und setzte sich bis unter die Achsel fort. Er fürchtete, ein Knochen könnte gebrochen sein. Wenn er die Finger spreizte, hätte er aufschreien wollen. Seine Gedanken überschlugen sich und breiteten in Geschwindigkeit verschiedene Szenarien vor ihm aus, schieden Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem und sortierten die Elemente des Wahrscheinlichen nach der Qualität der Gefahr, die ihm drohte.»Das ist eben mein Preis für eine Beleidigung«, preßte er trotzig hervor und versuchte erst gar nicht, selbst daran zu glauben.
«Wer hat Sie denn beleidigt?«fragte Lawrentij Sergejewitsch.
Der Schlag war härter ausgefallen, als Carl beabsichtigt hatte. Er hatte Pontrjagins Wange treffen wollen. Beim Aufprall hatte er den Widerstand der Zähne auf den Knöcheln gespürt. Das Blut sickerte durch das Taschentuch und fiel in langen Fäden vor dem Mann in den Schnee.
«Tun Sie Schnee auf die Lippe«, sagte Carl,»dann hört es gleich auf.«
Pontrjagin kniete sich nieder und rieb sich das Gesicht mit Schnee ein. Gleich war der Schnee um ihn herum voller Blut.»Ich vertrete die Auffassung«, sagte er, und es klang sogar heiter,»es wäre anständig gewesen, mich nicht in dieser Weise zu überraschen. Wenn Sie ein anständiger Mensch wären, Carl Jacob Candoris, hätten Sie mich zu einem Boxkampf aufgefordert. «Er häufte Schnee in das Taschentuch und band die Enden zusammen, erhob sich, legte den Kopf in den Nacken, drückte sich diese Kompresse auf Nase und Mund und redete munter weiter, was nun so klang, als habe er einen Schnupfen:»Ich hätte mich ehrenhalber nicht gewehrt, aber ich wäre wenigstens vorbereitet gewesen. «Und fügte hinzu:»Sie brauchen mich jetzt nicht mehr zu Frau Professor Noether zu führen. «Er wischte seine Rechte am Mantel ab und hielt sie Carl hin:»Leben Sie wohl, Carl Jacob Candoris!«
Lawrentij Sergejewitsch stand nahe beim Treppenabgang, hinter ihm eine flimmernde Wand aus Schneeflocken. Carl schlug noch einmal zu, diesmal mit der unverletzten Linken und nicht gegen das Gesicht von Lawrentij Sergejewitsch, sondern gegen dessen Brust, und hinter diesen Schlag legte er das Gewicht seines Körpers. Lawrentij Sergejewitsch kippte über die oberste Stufe und fiel. Carl hörte den Aufschlag auf dem dünnen Eis und hörte das Wasser, als das Eis brach.
Er wartete, bis sich die Stille in seinen Ohren wieder eingeschaukelt hatte, dann blickte er über das Geländer nach unten. Er konnte nichts erkennen. Rasch drehte er sich um und ging eiligen Schritts zum Hotel zurück.
8
«Mir war ein bißchen übel, daran erinnere ich mich sehr gut«, schilderte mir Carl, was in ihm vorgegangen war.»Ein Gefühl der Getrenntheit von allen Dingen wurde mächtig in mir. Ich schätzte Pontrjagin auf Anfang der Dreißig. Bei Ausbruch der Revolution war er also um die Zwanzig gewesen. Aiaja hatte mir zu verstehen gegeben, daß die Mitglieder der Tscheka, der Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage — laß mich probieren, ob ich es noch kann: Tschreswytschajnaja komissija po borbe s kontrrevoljuzijei i sabotashem —, daß sie allesamt ein überaus höfliches Auftreten gehabt hatten und daß sie einen um so höflicher behandelten, je näher ihr Finger beim Abzug war. Vielleicht war Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin als junger Mann ein Tschekist gewesen? Möglich war das. Und wenn er überlebt hatte, war die Wahrscheinlichkeit, daß er nach Auflösung der Kommission von der GPU übernommen worden war, nahe eins. Vermutungen. Tatsache allerdings war: Ihm stand der größte Büroraum am Institut zur Verfügung. Wie war er zu diesem Privileg gekommen? Persönliche Quadratmeter waren ein großes Privileg, vielleicht das größte überhaupt in jener Zeit in Moskau. Der Institutsleiter, Professor Jegorow, dem er wenigstens formal untergeordnet und wissenschaftlich verantwortlich war, saß in einem engen, fensterlosen Verschlag, Büro konnte man das nicht nennen, sein Schreibtisch war in eine Nische neben dem großen Hörsaal geschoben und durch so etwas wie eine spanische Wand, die nicht einmal bis zur Decke reichte, von der Halle abgetrennt worden — ein verbitterter Mann. Außerdem schien Pontrjagin über reichlich Mittel zu verfügen, private Mittel. Die Tschekisten hatten ja noch Wert und Ehre auf Askese gelegt, die Leute von der GPU, davon durfte man ausgehen, waren von den Umständen belehrt worden, daß Macht mit Bevorzugung auf allen Gebieten durchaus einhergehen konnte. Aus Andeutungen von Studenten glaubte ich ableiten zu dürfen, daß Pontrjagin, bevor Emmy Noether und ich nach Moskau kamen, überhaupt nicht am Institut tätig gewesen war. War er oder war er nicht? Direkt gefragt, bekam man keine Antwort. Es konnte sein, oder es konnte ebensogut nicht sein. Angenommen, er war nur unseretwegen ans Institut gekommen, was sich durchaus als harmlos erklären ließ, er diente ja Frau Noether als Dolmetscher, um so unverständlicher war es aber, daß einem kleinen Dolmetscher so ein geräumiges Büro zugewiesen wurde. Wenn seine wahre Tätigkeit jedoch eine andere, nämlich eine geheime, eine verdeckte war, wäre sie nicht gerade durch dieses Privileg aufgeflogen? Ja, das könnte sein. Aber vielleicht war es gar nicht nötig, etwas zu verbergen. Vielleicht wußten ja alle, was hier gespielt wurde. Alle außer Frau Noether und ich. Wenn man sich in dieser Zeit auf etwas verlassen konnte, dann darauf, daß die Menschen ihren Mund hielten. War er also abgestellt worden, um uns zu bewachen? Um uns auszuforschen? Um uns zu bespitzeln? Eine waghalsige, auch etwas hybride Vermutung, zugegeben. Aber angenommen, es war so, was für einen Grund gäbe es, Frau Noether zu bespitzeln? Sie war schließlich eingeladen worden. Nicht sie hatte darum gebeten, in Moskau Vorlesungen über Algebra halten zu dürfen. Sie war gebeten worden, umworben worden, umschmeichelt worden sogar. Man lädt doch nicht jemanden ein und will, wenn er hier ist, herausfinden, warum er gekommen ist. Pontrjagin hatte recht: Frau Professor Noether war eine bemerkenswerte Wissenschaftlerin, aber ein komplizierter Mensch war sie nicht. Nur meinte er mit kompliziert wahrscheinlich etwas anderes, als man landläufig darunter versteht. Für die GPU wäre sie kein komplizierter Fall gewesen, gewiß nicht. Aber ich vielleicht. Ich war nicht eingeladen worden. Ich hatte darum gebeten, sie begleiten zu dürfen. Also fragte man sich: Was will der? Der will doch etwas. Aber wenn man ihn nicht hereinläßt, kann man nicht herausbekommen, was er will. Also läßt man ihn herein und wirft ihm dabei keine Prügel in den Weg. Daß man mich also für einen Spion hielt? Daß man es für möglich hielt, daß ich ein Spion sein könnte — so ist es besser ausgedrückt. Lächerlich! Ich war dreiundzwanzig, ein behüteter Bürgerbengel, der in seinem Leben noch nicht einmal angestreift war an der Politik. Warum aber war mein Ansuchen, Frau Professor Noether nach Moskau begleiten zu dürfen, so ohne weiteres, ohne die üblichen bürokratischen Schlangenlinien positiv beschieden worden? Alle hatten sich darüber gewundert, am meisten der Beamte in der russischen Botschaft in Berlin. Und der neue deutsche Botschafter in Moskau, der Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Graf Brockdorff-Rantzau, hat mich behandelt, als wäre ich mit einer geheimen, selbst vor ihm geheimgehaltenen Mission ausgestattet. Und niemandem war eingefallen, wenigstens die Stirn zu runzeln, als er meinen Paß ansah, wo doch stand, daß ich Österreicher war und nicht Deutscher. Keine Schwierigkeiten bei den Russen, keine Schwierigkeiten bei den Deutschen. Weil die Russen die Deutschen gebeten hatten, mir keine Schwierigkeiten zu machen? Daß in diesem, in meinem Fall die Russen und die Deutschen zusammenarbeiteten? Vermutungen. Jede für sich vielleicht schwach. Manche nicht mehr als eine Ahnung. Zusammen wiesen sie immerhin in eine Richtung. Und welche Rolle spielte dabei Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin? Er war also zu den Tolstoi-Feiern nach Jasnaja Poljana gefahren. War er von sich aus hingefahren, oder war er eingeladen worden? Wenn eingeladen, von wem eingeladen? Immerhin hatte er die Rede des Volksbildungskommissars hören können, also darf er zum engeren Kreis der Geladenen gezählt werden. Ein kleiner Dozent, der manchmal den Dolmetscher spielte? War das wahrscheinlich? Also bitte! Und daß er mich einlud, mit ihm nach Jasnaja Poljana zu fahren — was hatte das zu bedeuten? — Und so reimte ich mir die Sache zusammen: Nein, nicht einen deutschen Spion vermuteten sie in mir — sie hielten zwar die meisten Ausländer für Spione, Spione vor allem im Auftrag der Engländer oder Spione der Komintern, die ihrer Meinung nach mit Trotzkij unter einer Decke steckte —, mich hielten sie nicht für einen. Einen Geschäftsmann hatte mich Pontrjagin genannt. Einen Händler. Einen, der vielleicht mit Nachrichten handeln könnte? Daß sie also einen Spion aus mir machen wollten? Einen Spion gegen Deutschland? Und er, Pontrjagin, sollte mich rekrutieren. Sollte mich in seine Schuld stellen. Sollte etwas über mich herausfinden, damit man etwas gegen mich in der Hand hatte, um mich unter Druck setzen zu können. Diese Diskussion über die Dialektik der Schönheit, die ja gar keine Diskussion war, sondern ein Monolog, hatte er sie vom Zaun gebrochen mit dem alleinigen Zweck, mich zu provozieren? Und dann war ihm der armenische Riese Aszaturow mit einer gefährlichen Assoziation in die Quere gekommen. Der Name des großen Generalsekretärs hatte wie das Schwert des großen Alexander gewirkt. Pontrjagin hatte die Fassung verloren, die Provokation war nicht gelungen — im ersten Anlauf jedenfalls nicht. Also unternahm er einen zweiten Versuch und wartete im Hotel Leonjuk auf mich. Und im zweiten Versuch gelang ihm die Provokation. Blieb immer noch die Frage: Warum ausgerechnet ich? Andererseits: Warum nicht ausgerechnet ich! Zwei Faktoren hatten sich für jene Leute, die hier Regie führten, zu einer günstigen Situation verbunden. Erstens: Irgendein junger, einigermaßen intelligenter Mann wollte unbedingt zwei Semester in Moskau studieren. Der schien jedenfalls kein Feind zu sein. Vielleicht war er sogar ein Freund? Zweitens: Graf Brockdorff-Rantzau, dieser brillante Vermittler der beiden gegenüber der alliierten Welt isolierten Reiche Deutschland und Rußland, der von niemandem und nichts hinters Licht geführt werden konnte, war tot, und sein Nachfolger hatte erst seit wenigen Monaten das Amt inne, war unsicher, unerfahren, überfordert, fremd, wenig ambitioniert. Es war ein Kinderspiel, vor seinen Augen einen jungen Deutschen, auch wenn er ein Österreicher war, in einen sowjetischen Spion zu verwandeln. — Klingt das alles absurd? Natürlich klingt es absurd. Aber seit gut zehn Jahren erreichten uns im Westen Nachrichten aus Sowjetrußland, und viele schienen noch viel absurder und waren dennoch wahr. — Was siehst du so an mir vorbei, Sebastian? Weil ich mir nicht an die Brust schlage? Bedenke die Jahre, wie lange das alles her ist!«
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