Während ich dies schreibe, sitze ich oben in meinem Arbeitszimmer. Ein Sturzregen prasselt auf das Blechdach vor meinem Fenster und beugt die ausgedörrten Tomatenstauden nieder, die ich im letzten Jahr in Plastiktröge gesetzt hatte und die so prächtig gewachsen waren. In meiner gegenwärtigen klausnerischen Existenz nehmen Bücher die Positionen von Freunden ein, die mich beraten und trösten, mit denen ich mich besprechen, an die ich meine Wange legen kann (wie ich mit einiger Besorgnis feststelle, inzwischen sogar die Positionen von Familienmitgliedern). Weil ich heute vormittag durchgelesen habe, was ich über meinen Besuch bei Abraham Fields geschrieben habe, und dabei wieder über die» Bibliothek «staunte, die er sich auf seinem Küchentisch eingerichtet hatte, war ich in meine eigene hinuntergestiegen und hatte Das Verlorene Paradies aus dem Regal genommen — und auch, um mir Urteil und Rat eines Fachmanns einzuholen. John Milton, der von Jugend an alte, im Alter blinde Dichter mit der unbeirrbaren, alttestamentarisch-kindlichen Phantasie, hätte mir recht gegeben — ich meine, er hätte dem recht gegeben, der ich als Elfjähriger gewesen war:
Er (Luzifer) sieht, soweit als Engel können sehn,
In seiner Lage wüst’ und elend sich,
Ein furchtbarlich Gefängnis flammt um ihn,
Gleich einem Feuerofen, doch den Flammen
Entstrahlt kein Licht …
Zugleich mit Paradise Lost habe ich meine Tagebücher aus dem Jahr 1961 aus meinem Archiv geholt (die ehemalige Duschkabine ist endlich zu einem solchen umgebaut worden). Es sind Schulhefte, je 40 Seiten, kariert, eingebunden in orangefarbene Pappe. Auf den Schildchen steht:»Erdkunde«. Das war als Tarnung gedacht gewesen. Ich wollte verhindern, daß meine Mutter oder mein Vater läsen, was ich mir notierte. Ich hatte sehr früh angefangen, Tagebuch zu führen. Das erste Heft, in dem nur acht Seiten beschrieben sind, enthält (in penibler Rechtsschrägschrift) eine Liste von Whiskynamen — Jim Beam, Vat 69, Johnnie Walker, Jack Daniel’s, Wild Turkey, Black & White, Ballantines … — und ausschließlich Beobachtungen, die meinen Vater und seine Launen betrafen, wobei» Launen «für Saufen steht. Nicht ein Wort über mich selbst, nicht ein Wort über meine Mutter; auch nicht ein Wort über Carl und Margarida. Das zweite Heft schrieb ich voll. Da war ich bereits in Innsbruck. Ich glaubte nicht, daß sich Carl oder Margarida für mein Tagebuch interessierten; ich behielt trotzdem die Tarnung bei, schrieb auf das Schildchen» Erdkunde 2«. Jeden Abend setzte ich mich an den Schreibtisch in meinem Zimmer in der Anichstraße und repetierte den Tag. Ebenso tat ich, als wir in Lissabon waren. Und selbstverständlich hatte ich mein Heft — inzwischen bereits das vierte — nach São Paulo mitgenommen, als ich Carl zu dem Mathematikerkongreß begleitete. Beschriebenes Papier wegzuwerfen war mir immer schon schwergefallen. Ich habe alle Hefte aufgehoben — auch später führte ich mein Diarium in Heften, nicht in Büchern; freilich nicht mehr unter dem Titel der Erdkunde; ich habe sie geordnet und in Kartons verschnürt und nie mehr hineingeschaut — mit Ausnahme heute:»Erdkunde 4«, 12. März 1961.
Am Abend dieses Tages war ich in meinem Hotelzimmer geblieben, das von Carls Zimmer durch eine Schiebetür getrennt war. Carl war zusammen mit seinen Kollegen und Freunden unten im großen Festsaal des Hotels, wo sie den Ausklang ihres Symposions feierten. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Abend. Ich war so aufgewühlt vor Angst und Entsetzen, daß ich es nicht wagte, in deutlichen Worten niederzuschreiben, was mir zugestoßen war, weil ich fürchtete, ich würde damit das Geschehene wieder heraufbeschwören und beim zweitenmal darin untergehen. Die Stelle liest sich wie ein verschlüsselter Hilfeschrei auf einem Kassiber, so verschlüsselt allerdings, daß niemand anderer etwas damit anfangen könnte. Sicher, ich war ein Bub, der gegen Bilderfluten zu kämpfen hatte wie Odysseus gegen das Meer, aber ein verschwärmter, gar mit divinatorischen Fähigkeiten ausgestatteter Geist war ich nicht — meine Mutter, die mir vielleicht nicht sehr nahe stand, mich aus ihrer Ferne aber doch präzise abschätzen konnte, hat mich mit Gewißheit nicht für einen Träumer oder Spinner oder einen Verrückten gehalten, sonst hätte sie mich erbarmungslos einen solchen gescholten; und Carl, als ich ihm im Alter von zwanzig Jahren eröffnete, daß ich Schriftsteller werden wolle, begründete seine Zweifel daran damit, daß er mir zuwenig imaginative Kraft zutraute: zwei gewichtige Zeugen für meine diesseitig nüchterne Grundhaltung, die ich betonen muß, bevor ich die folgende Begebenheit berichte (die ja nur die Vorgeschichte zu der Geschichte ist, die mir Carl an diesem Abend — unserem letzten — erzählte). Mein Vater freilich hielt mich für einen weltfremden Narren, aber er behauptete ja auch über sich selbst, er sei ein granitharter Realist. Und um die Familie vollständig vorzuführen: Margarida gewichtete uns beide — sich selbst und mich — in die Mitte; wir beide waren für sie die Normalen in diesem unvergleichlichen Verband; und ich denke, sie hatte recht damit.
4
Vom 8. bis 13. März 1961 fand in São Paulo ein internationaler Mathematikerkongreß statt, bei dem Carl eines der Hauptreferate hielt (den genauen Titel seines Vortrags habe ich mir während meines Besuchs leider nicht notiert, und es war mir auch nicht möglich, ihn zu recherchieren; ich weiß nur, daß er sich mit der Typentheorie aus der Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whiteheat auseinandergesetzt hatte und daß er dafür, wie er mir, dem Elfjährigen, mit vor Stolz roten Backen am selben Abend berichtete, stürmischen Applaus geerntet habe). Eigentlich hatte ihn Margarida begleiten wollen, das Hotel war schon ein Jahr zuvor gebucht worden, die Flugtickets bereits ausgestellt; und nun war das Unvorhergesehene dazwischengekommen, nämlich ich. Margarida schlug vor, sie werde in Lissabon bleiben, und ich solle Carl begleiten; bestimmt sei es keine Sache, die Tickets umschreiben zu lassen, für mich werde so eine Reise zu einem großen Abenteuer werden, sie selbst sei schon zweimal in São Paulo gewesen und werde sicher noch zwei weitere Male hinüberfahren. Carl gefiel das alles nicht, das merkte ich wohl. Er argumentierte aber nicht, er reagierte mit Mißmut. Ich hätte gern gesagt, nein, ich möchte nicht nach Brasilien, diese Art von Abenteuer interessiert mich nicht. Aber ich hätte Margarida enttäuscht. Sie hatte ausgerufen:»Wie gern wär ich so alt wie du! Wie gern wär ich an deiner Stelle!«Was ich ihr allerdings nicht glaubte. Eine andere Version war nämlich weit irritierender für mich und leider auch wahrscheinlicher, nämlich: daß sowohl Margaridas Begeisterung als auch Carls Laune nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun hatten, sondern allein mit ihnen beiden. Ich bangte, ich könnte in der Nacht, wenn sie meinten, ich schliefe, wieder Ohrenzeuge von Carls Weinerlichkeit werden, die mich keine drei Jahre zuvor in solchen Schrecken versetzt hatte.
Am Flughafen kaufte mir Carl ein Mickey-Mouse-Heft auf englisch (das ich heute noch besitze); im Flugzeug, nachdem ich mich an den Wolken und am Ozean satt gesehen hatte, las er mir das Heft vor — erst englisch, anschließend in deutscher Übersetzung, Sprechblase für Sprechblase. Er wirkte dabei pflichtbewußt und geistesabwesend; was nichts Besonderes gewesen wäre, er war oft mit seinen Gedanken weit aus der Gegenwart und dann wieder tief in ihr, nun aber, da ich fürchtete, ich falle ihm zum Last und auf die Nerven — nicht weil ich war, der ich war, sondern weil ich ihn in seinem Brüten störte —, bedrückte mich die plötzliche Fremdheit zwischen uns so sehr, daß sich in meiner Kehle ein Schmerz festsetzte, als hätte sich ein Knorpel quergelegt, und ich bald Schwierigkeiten hatte, überhaupt ein Wort herauszukriegen. Ich zählte die Stunden bis zu unserer Rückkehr; auf meinem Ticket stand, wann wir am 15. März wieder in Lissabon landen würden. Hoch im Himmel über dem Atlantischen Ozean schrieb ich in mein Tagebuchheft:»In 168 Stunden«,»in 167 Stunden«,»in 166 Stunden «und so fort, bis zu» in 158 Stunden«, als wir zur Landung auf dem Flughafen in São Paulo ansetzten. Wobei ich nicht vergessen hatte, die Zeitverschiebung zu berücksichtigen; Margarida hatte mir über dem Globus in Carls Arbeitszimmer (das übrigens eine ziemlich genaue Kopie seines Arbeitszimmers in Innsbruck war, das wiederum seinem Arbeitszimmer in Wien sehr ähnlich sah) erklärt, daß wir uns beim Hinflug vier Stunden ausborgen würden, die wir beim Retourflug wieder zurückgeben müßten. Ich wollte sie fragen: Von wem ausborgen? Drei Monate zuvor, in Innsbruck, wäre die Frage noch zulässig gewesen, nun, in Lissabon, nicht mehr. Ich fragte:»Und was wäre, wenn wir nicht auf der gleichen Route zurückfliegen, sondern um die Welt herum und von der anderen Seite wieder nach Lissabon kommen?«Das könne mir sicher Carl beantworten, sagte sie. Es wäre während unserer Zeit am Himmel tatsächlich ein gutes Thema gewesen; es hätte sich daraus eines jener Frage-Antwort-Spiele ergeben können, die ich so sehr geliebt und die er, wie ich doch glaubte, ebenfalls genossen hatte. Ich kam zur Auffassung, daß mit dieser Reise die Zeit für solche Spiele vorbei sei, daß ich nun ein Erwachsener sei oder eine Art Vor-Erwachsener, jedenfalls einer, der sich Respekt nicht mehr allein dadurch verschaffen durfte, daß er kluge Ideen für kluge Spiele hatte. Als Kind war ich ein Gewinn und eine Freude gewesen, hatte überraschende Antworten auf schwierige Fragen und nicht minder überraschende Fragen zu den komplexesten Materien gewußt; als» Erwachsener «war ich unter Niveau. Zwei wirkliche Erwachsene hätten sich nicht ernsthaft über Zeitverschiebung unterhalten, so war meine Einschätzung vom Zustand des Erwachsenseins, dem ich mich merkwürdigerweise zu Hause in Wien bei meinen wirklichen Eltern spätestens seit dem Eintritt in die Schule zugerechnet hatte — in jedem Fall widerwillig allerdings, denn dieser Zustand bürdete mir eine unwirkliche Verantwortung auf, die mich nicht sein ließ, der ich war —, den ich nun zwar nicht an der Seite meines wirklichen Vaters, dafür aber in der» wirklichen Welt «als ein für mich nicht erfüllbares Ziel erkannte, auf das ich mich nicht anders als in einem Als-ob zubewegen konnte, listig, vorsichtig, hinterlistig, schlau — diese Eigenschaften mußten aber erst erlernt werden. So saßen Carl und ich im Flugzeug nebeneinander und sagten die meiste Zeit nichts, und ich versuchte mir ein Bild zu machen, wie ich mich in seinen Gedanken wohl darstellte. Seit wir in Portugal waren, hatte er mir nicht eine einzige Geschichte erzählt; in Innsbruck war das Erzählen strenges Abendprogramm gewesen, die Geschichten mit den verwegenen Namen, die viel mehr zu berichten hatten als die Geschichte selbst. In Lissabon hat er mich auch nicht zu sich gerufen, damit ich mich in den Lehnstuhl setze und mir ein Musikstück anhöre. Und womit er in Innsbruck begonnen hatte, nämlich mir zu erklären, wie ein gewisser Giuseppe Peano die gesamte Mathematik auf drei Grundbegriffe und fünf Grundsätze zurückgeführt habe, das hatte er in Lissabon nicht fortgesetzt, und das lag nicht an mir, ich hatte mich gar nicht so dumm angestellt. Oder vielleicht doch? Ich vermutete, es gab nur eine Sache, worin er mich bewunderte, nämlich das Fischen. Wir waren einmal an einem Bach in einem Tiroler Bergdorf gewesen, Carl, Margarida und ich, ich weiß nicht mehr, wo das war, auf jeden Fall hatte ich mit bloßen Händen eine Forelle unter einem Stein herausgeholt, hatte ihr fachmännisch das Rückgrat gebrochen, indem ich ihr mit dem Finger ins Maul fuhr, hatte sie mit meinem Taschenmesser aufgeschlitzt und ausgenommen und die Filets auf einen Stein gelegt, den wir vorher im Feuer erhitzt hatten, sie mit einem Tuch abgedeckt, nach vier Minuten umgedreht, mit Pfeffer und Salz gewürzt und den Anwesenden zum Verspeisen angeboten. Das hatte ich gelernt, als ich ein Jahr zuvor in einem Ferienlager der Kinderfreunde im Waldviertel gewesen war. Carl hatte mich mit einem neuen Blick angesehen, und während wir mit den Fingern kleine Brocken von den Gräten zupften, war er mir ziemlich kleinlaut erschienen.
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