Sie fanden sofort einen Parkplatz. Seltsam, dachte Hans, waren nicht Scharen von Leuten eingeladen? Es war still. Waren sie zu früh? Tatsächlich, etwas zu früh. Sie warteten schweigend fünf Minuten im Auto. Sie stiegen aus und klingelten. Nichts rührte sich. Die Rolläden waren heruntergelassen. Sie öffneten das Gartentörchen und gingen um das Haus herum in den Garten. Dort lag eine kahle Wiese, die großen Fenster waren mit Scherengittern verrammelt. Ina lauschte.
«Ich höre Stimmen. «Auch Hans legte sein Ohr auf die Scheibe. Tatsächlich, das waren Stimmen, dazu gedämpfte Musik.
«Das ist ein Fernseher«, sagte er nach einer Weile. Wasser plätscherte im Nachbargarten. Hans sah durch die Zweige der Douglasfichte einen älteren Mann im Unterhemd mit einem Wasserschlauch. Das Fest habe gestern abend stattgefunden, sagte der Mann, es sei schrecklich laut gewesen, am liebsten hätte er die Polizei geholt. Er war immer noch zornig.
«Wenn Ihnen niemand öffnet, ist das wohl ein Zeichen, daß niemand zu Hause ist«, sagte er mit zänkischer Logik.
Solche Dinge kommen vor und sind eigentlich der Rede nicht wert, aber an diesem Abend hätte dieser Fehlschlag dann doch nicht passieren dürfen. Ina hatte sich Mühe gegeben und sah so elegant aus, wie es zu ihrer Mädchenhaftigkeit eigentlich gar nicht paßte, sie wirkte älter. Die beiden hatten in ihrem Feststaat wirklich etwas von Kindern, die Besuchen spielen und sich verkleidet haben. Verrammelt und zugeschlossen stand das Haus vor dem allmählich grau werdenden Himmel. Als Ina verstanden hatte, daß das Fest seit vierundzwanzig Stunden vorbei und nichts daran zu ändern war, verlor sie die Fassung. Sie drehte Hans schroff den Rücken zu und ging langsam allein die Straße hinunter, um ihre Entgeisterung zu überwinden. Sie fühlte, daß sie ihn jetzt am liebsten angeschrien hätte. Was war das? Welch ein Zorn brach sich hier die Bahn? Ein Zorn, der stärker war als sie, das fühlte sie genau. Es gelang ihr sogar, sich in diesem Zustand zu beobachten.
«Das ist unangemessen«, hörte sie Frau von Klein sagen,»du übertreibst. «In ihrer Kindheit war das der strengstmögliche Tadel gewesen. Er fuhr ihr noch heute in die Glieder. Das Auto rollte an sie heran, Hans öffnete von innen ihre Tür, sie stieg ein. Schweigend fuhren sie zum Baseler Platz. Und nun mußte es auch noch geschehen, daß man den Wittekinds auf der Treppe begegnete. Ina hatte sich jedoch wieder in der Gewalt und garnierte Hans’ launigen Bericht vom Fest am falschen Tag mit einem verbindlichen Lächeln. Britta Lilien lud das Paar ein, auf diesen Schreck noch ein Glas zusammen zu trinken, aber Ina erklärte, im Grunde glücklich zu sein, daß der Abend ausfalle, sie habe sich ohnehin nicht gutgefühlt. Daß Hans die Einladung hingegen ohne weiteres annahm, war ihm nicht zu verdenken, denn an einer Fortsetzung der Zweisamkeit war ihm jetzt nicht gelegen.
Hätte Hans die Einladung zu den Wittekinds auf ein letztes Glas angenommen, wenn klar gewesen wäre, wie dieser Abend sich entwickeln würde? Oder nahm er sie an, weil er längst ahnte, was hier in der Büchse der Zukunft für ihn verborgen war, und weil er darauf wartete, daß es herauskomme? Oder bewegte er sich auf einer Schiene und mußte einfach in die Richtung gleiten, die sie nahm, nachdem er sich einmal daraufgesetzt hatte?
Seidig glänzte Inas Haar in der funzeligen Treppenhausbeleuchtung, als sie die Stufen hinaufstieg, ohne sich umzudrehen. Sie war auch von hinten schön, vor allem waren dann die Kniekehlen sichtbar, die einen so frischen und zarten Einschnitt im kindlichen Fleisch bildeten, daß man bei ihrem bloßen Anblick glaubte, man könne ihren milchigen Duft riechen. Dann hörte Hans die Wohnungstür ins Schloß fallen.
Britta wollte keinen Wein, sie wollte sich etwas Stärkeres mit Eiswürfeln mischen und brachte eine große Flasche Gin aus dem Eisschrank herbei.
«Das ist ein Wundereisschrank«, sagte Wittekind,»wann immer man ihn öffnet, liegt dort eine große Flasche Gin. «Sie habe gegenwärtig ihre Gin-Phase, erklärte Britta, sie übertreibe das eine Weile, und dann sage Elmar, wenn es zu toll komme,»Schluß«, und bis jetzt habe sie sich daran auch gehalten. War es der quälende Tag? War es, daß die Last, die Ina während der letzten Stunden auf ihn gehäuft hatte, jetzt von Hans abfiel und die Erleichterung ihm die Stimmung in diesem Bücherzimmer mit den vielen Kerzen und diesen gelassenen, freundlich-spöttischen Menschen derart dankbar einatmen und genießen ließ? Es fiel ihm schwer zu entscheiden, wer von den beiden der amüsantere Mensch war. Elmar Wittekind ließ sich jedenfalls, wie es schien, zu seinem eigenen Vergnügen, vom Sockel seiner fünfzehnjährigen Überlegenheit auf das Niveau von Hans und Britta herab und brachte für seine Zuhörer unablässig» verrückte Bemerkungen «hervor — so nannte Hans sie bei sich, indem er unwillkürlich in die Sprache seiner Eltern verfiel, die alles, was sie nicht zu beurteilen wagten, als» verrückt «bezeichneten. Ihm fiel jetzt ein, daß Ina es unterlassen hatte, ihm die Schuld an dem verpatzten Abend zuzuweisen, obwohl sie das mit einem gewissen Recht hätte tun können: Er war es schließlich, der mit seinem ökonomischen Sportsfreund zuletzt gesprochen hatte, während Frau von Klein, die, wie man weiß, über das Fest in ihrer nordischen Ferne unterrichtet war, am Telephon mehrfach ausdrücklich auf den Samstagabend zurückkam, ohne daß Ina aufgehorcht hätte. Sie vertraute ihm eben. War es ein Zeichen ihres guten Charakters, bei solchen Unfällen nicht gleich einen Schuldigen auszurufen, der natürlich niemals man selber war, oder war dieser Verzicht auf eine Anklage womöglich Zeichen für Schlimmeres? Sollte das Schweigen gar heißen, daß sie dieses Versagen als Beweis dafür nahm, ihnen werde zusammen womöglich gar nichts mehr gelingen? Unheilvoll genug war dies Schweigen, und gerecht wurde es dem ärgerlichen Anlaß nicht. Hans sagte sich mit Blick auf Elmar Wittekind, daß sein sportlicher Kamerad aus dem Büro hier wohl keine gute Figur abgeben würde, wenn er auch mehr Muskeln als der Hausherr haben mochte. Es sprach plötzlich auch gegen ihn, daß er sich mit einer Frau aus der Sphäre der Frau von Klein verbandelt hatte. Bei ihm selbst war das etwas anderes. Als Schwiegersohn mochte man ihn gleichfalls Frau von Klein zurechnen, aber er hatte Ina aus dem Haus ihrer Mutter heraus geraubt und gerettet. Hatte er sie denn wirklich gerettet?
«Wir müssen in unseren überregulierten Biographien für jeden Einbruch in die geplanten Abläufe dankbar sein«, sagte Wittekind, der den Gin Britta und Hans überließ und Wein trank.»Erwartungsvoll zu einem Fest gehen und das Haus dann verlassen vorfinden — das gehört zu den letzten poetischen Geschenken, die das Leben uns macht. Das nenne ich ein Erlebnis. «Zu Britta habe er gesagt, als das Gepäck in Rom verlorengegangen war:»Es gibt keine Abenteuer mehr; es gibt nur noch den Fahrplan — aber der Fahrplan ist das Abenteuer. «Das Abenteuer habe dann vor allem darin bestanden, ihm einen Anzug zu kaufen, der ihm nicht paßte, der in der kurzen Zeit aber auch nicht passend gemacht werden konnte, sagte Britta, Elmar habe plötzlich viel kleiner und langarmiger ausgesehen.
«Das Groteske gehört zum Schaden immer dazu«, antwortete Wittekind ungerührt. So sah ein Lebenskünstler aus, dachte Hans, diesem Mann konnte auf Erden wohl nichts zustoßen. Sie hörten Musik. Wittekind und Britta hatten beide ihre Plattensammlungen mit italienischen Opern, von Berühmtheiten aus den dreißiger Jahren gesungen, Tangos aus Argentinien, deren Verse Wittekind ihm übersetzte, arabischer Musik und dem wilden Gefiedel rumänischer und irischer Zigeuner, und sie befragten ihn nach jedem Stück, als sei er ein Fachmann, und nahmen seine zaghaften, dann vom Gin befeuerten dreisten Kommentare überaus ernst und spannen sie weiter, so daß er bald gar nicht mehr verstand, was er soeben selber ausgesprochen hatte.
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