Rosa , das war der Titel ihrer ersten Single gewesen, die nicht zuletzt auch, weil allgemein verbreitet wurde, es handele sich um Huberts — also Heiners — erste unglückliche Liebe, Hubert sei seitdem psychisch labil, einen Dezember lang das Lieblingslied all derer gewesen war, die etwas Ähnliches wie Hubert erlebt hatten, sprich gerade eine Trennung durchmachten, so auch Andreas, Costins Arbeitskollege in der Sparkasse in Regensburg, der das Lied, immer wenn er vor seinem Computer saß, mit aufgerissenen Augen und ins Leere gehendem Blick, vor sich hin summte, als sei er auf Repeat gestellt worden. Diese Rosa hatte allerdings, wie Costin, Jahre später, auf einer Party erfuhr, wo er Hubert alias Heiner traf, nie existiert, vielmehr hatte Hubert alias Heiner von Anfang an, schon zu Realschulzeiten jede Frau genagelt, die ihm über den Weg gelaufen war. Inzwischen, nachdem Hubert und Hubert von der Plattenfirma gedroppt worden sind, schreiben sie ihre Songs tatsächlich selbst, wobei ihre Musik und Texte weiterhin sehr stark nach Gustav „the Word“ M. klingen. Allerdings hat es seitdem keiner ihrer Songs in die Charts geschafft.
Blick geradeaus: Auf dem schwarzen Ledersofa gegenüber von Costin sitzen Olaf und das B von A, B, C , die Popstar -Band, die unmittelbar nach den PingPongs gecastet worden war. Olaf ist sehr nah an das B herangerückt, er hat, während er auf das B einredet, den Kopf in den Nacken gelegt, eine Falte des dicken Nackens hängt über den Kragen seines schwarzen Hemds. Seine Augen sind geschlossen, manchmal hebt er die Hand, wohl um etwas zu betonen; seine schulterlangen und nach hinten gekämmten grauen Haare sind etwas fettig.
Jetzt lachen Olaf und das B.
Jetzt legt Olaf die Hand auf den Arm des Bs und spricht weiter in sein Ohr.
Obwohl er laut gegen die Geräuschkulisse aus exaltierten Schreien, Baß und Flipperpiepen anreden muß, die vom Stockwerk drunter, aus dem Entertainment-HQ hochdringt, wo der andere Teil der Party mit den restlichen Popstar -Bands stattfindet, ist nicht zu verstehen, was Olaf sagt. Costin hat wieder auf Ronja von den Schwestern geschaut, die noch immer mit ihrem Kopf auf seinem Schoß liegt. An ihrem gleichmäßigen Atem und ihren entspannten Zügen sieht er, daß sie eingenickt ist.
24
Die Gruppe fährt zusammen mit den anderen Gruppen in einem der drei Popstar-Generations-Tour -Busse von Auftritt zu Auftritt. Die Popstar-Generations-Tour -Busse sind mit dem Schriftzug Popstar-Generations-Tour gebrandet. Die Gruppen haben ein Fotoshooting. Die Gruppe lacht mit den anderen Gruppen. Die Gruppe gibt Autogramme auf ihr Foto. In Kassel schläft X mit Uschi, X mit X, X mit X und Costin mit Seema. Die Gruppe nimmt einen Termin wahr. In Braunschweig schläft X mit X, X mit X und Costin mit X. Olaf sagt den Gruppen, daß der Kartenverkauf nicht laufe. Die Gruppe macht sich Sorgen. Die Gruppe redet über ihre Zukunft. Was wenn. Die Gruppe gibt ein Interview. X braucht ihre circa 30 cm große Stoffmaus aus der Sendung mit der Maus , um einschlafen zu können. Die Gruppe ißt. In Bielefeld schläft X mit X, X mit X, Seema mit X und Costin mit Uschi. Die Gruppe hat interne Probleme. Die Gruppe nimmt einen Termin wahr. Die Gruppe sagt: „Wir verstehen uns.“ Die Gruppe hat einen Auftritt im Kinderkanal . Uschi hat sich im Klo eingesperrt und kotzt. Die Gruppe hat einen freien Tag. Die Gruppe geht in den Zoo. Ein Kamerateam des lokalen Fernsehsenders begleitet sie. Die Gruppe streichelt Ziegen. Olaf sagt der Gruppe, daß die Plattenfirma kein neues Album mit ihr machen wolle. Die Gruppe gibt ihr letztes Konzert. Uschi hat sich im Klo eingesperrt und kotzt. Wylie sitzt in der Garderobe und bewegt seinen Kopf im Kreis, um die Nackenmuskeln zu entspannen. Seema steht auf dem Gang und knutscht mit X. Costin steht in der Toilette vor dem Spiegel und trägt Lidschatten auf.
25
Die Stimmung ist gut. Die Party ist ein Erfolg.
Costin macht jetzt mal kurz auf Matrix . Der 360-Grad-Schwenk:
Gegenüber des schwarzen Ledersofas, auf dem er sitzt, vor dem offenen Fenster, unterhält sich Wylie gerade mit dem Jungen und den beiden Mädchen, mit denen er seit einem Monat in einer Band ist. Das eine Mädchen ist Inderin. Wylie hat sich mit der Hand auf die Schulter des Jungen gestützt. Vom Fenster ist ein frischer Luftzug gekommen. Auf dem schwarzen Ledersofa vor dem Fenster sitzt Lasse, der sich jetzt, soviel Costin weiß, nicht nur Claudio nennt und im letzten Jahr endlich in Stimmbruch gekommen ist, sondern auch einen 180-Grad-Imagewechsel vom Kinderstar mit Ach-wie-süß-Faktor zum Romeo mit Sex-Appeal — siehe den weißen Anzug, die Elvis-Koteletten und die durch Kettenrauchen um mindestens eine Terz gesenkte Stimme — durchgemacht hat, oder kurz, wie der Titel des Popcorn -Interviews lautete: „Lasse: Bin jetzt erwachsen.“ Lasses beziehungsweise Claudios Körperhaltung — Oberkörper vorgebeugt, Arm auf der Rückenlehne, Beine übereinandergeschlagen — verrät, daß er wohl gleich die Frau neben ihm umarmen und/oder küssen wird, bei der es sich, kann ja wohl nicht sein, ist aber so, trust your eyes, Costin, um die Ex-Mega-Perle MiezMiez handelt.
MiezMiez, die vor fünf Jahren oder so diesen Hit hatte, wo alles sonst auf deutsch, der Refrain aber chinesisch war, weil doch da gerade dieser China-Hype war — China war da ja auf angeblich einstimmigen Beschluß der Regierung zum Wohl des Volkes offiziell zur Demokratie geworden, alle sahen diese chinesische Soap, Wenzuoh , alle lasen chinesische Bücher, in den Clubs spielte man die aktuellen chinesischen Top Ten rauf und runter; MiezMiez, die, nachdem ihre Plattenfirma sie gedroppt hatte, komplett von der Bildfläche verschwunden war; MiezMiez, die, so Olaf, jetzt noch ein Jahr warten müsse, bis der China-Hype inklusive MiezMiez endgültig vergessen ist, damit sie etwas Neues starten könne, weil sie sonst auf ewig mit dem China-Ding assoziiert werden würde. MiezMiez, die bis dahin, bis der China-Hype inklusive ihrer endgültig vergessen ist, also noch so ein Jahr, sagt Olaf, in Olafs Gästezimmer wohnen und warten wird. MiezMiez sieht in ihrem Kleid, das vielleicht auch nur ein Negligé ist, wer weiß, sie wohnt ja schließlich hier, verdammt scharf aus. Claudio alias Lasse oder Heintje, wie er neuerdings in Popstar -Kreisen genannt wird, muß ja ganz verwirrt sein; MiezMiez, die zwar diesen asiatischen Touch hat, weil ihr Vater aus Japan oder Thailand kommt, die aber in Berlin aufgewachsen ist, könnte ja vom Alter her zumindest Claudios alias Lasses große Schwester, wenn nicht sogar seine junggebliebene Mutter sein.
Schwenk zur Seite: In der Ecke neben dem schwarzen Sofa sitzen sich zwei Jungs im Schneidersitz gegenüber. Sie spielen Gitarre, was aber wegen des Lärms, der von unten aus dem Entertainment-HQ kommt — Baß, dumpf, Lachen, exaltierte Schreie, Flippergeräusche —, nicht zu hören ist. Costin meint, die beiden schon einmal gesehen zu haben, kann sich aber nicht erinnern, wo. Nein, er kennt sie nicht. An der Wand über ihnen hängen zwei Kupferstiche. Costin weiß, was es mit ihnen auf sich hat. Die Umstände, wie es dazu kam, hatten dazu geführt, daß Costin jetzt mehr über Olaf weiß als das, was irgendwie jeder weiß, die offizielle Bio, die auch auf der Homepage steht, Olaf Erdrich gründet Anfang der 90er in Berlin seine Firma, ist innerhalb weniger Jahre ganz oben, keine Frau blabla, daneben die üblichen Gerüchte, Olaf Erdrich sei a) schwul, b) pädophil, c) polygam, d) impotent.
Es war vor ein paar Wochen gewesen, da hatte Olaf Costin in der Nacht angerufen, schluchzend, das war die erste Überraschung gewesen, denn bis dahin hatte Costin Olaf so noch nie erlebt, so total bloß, emotional nackt sozusagen. Die zweite Überraschung war, daß Olafs Vater gestorben war. Also nicht unbedingt die Nachricht vom Todesfall machte Costin für ein paar Sekunden sprachlos, bevor ihm die für die Situation angemessenen Sätze einfielen — Nein, das ist ja furchtbar, wie ist das passiert, wie geht’s dir jetzt, bist du in Ordnung —, sondern, so lächerlich ihm dann seine Verwunderung darüber erschien, daß Olaf, der ja schließlich gegenüber ihnen, seinen Künstlern, oder, wie Olaf sagte, seinen Kindern , immer auf die Big-Daddy-Tour machte, überhaupt selbst einen Vater besessen hatte. Olafs Vater hatte in Toronto gelebt und war gebürtiger Kanadier, wie Olaf dann am Telefon erzählte, weinend, und Costin überlegte, was zum Geier Olaf dazu bewog, gerade ihm, Costin, einem unter doch wahrscheinlich vielen Bekannten, und nicht einmal ein Freund, das alles zu erzählen.
Читать дальше