Anruf von Melanie, geplante Tour, Pennen im Penthouse: Ja.
Genauer Termin für Probenbeginn: Nö. Is nich.
Aber Costin mußte weg. So schnell wie möglich diese Bilder von zu Hause aus dem Kopf kriegen: Ana, wie sie weint, wie ihr alles eine Qual ist zur Zeit, dieses Haus, die Stille, dieser Hund und die Details, die da so über Tata ans Licht kommen, das braucht er, Costin, momentan nicht. Vielleicht kann er es später ab, wenn es ihm selbst besser geht. Außerdem kann er ja Ana sowieso nicht helfen, mit dem Verkauf der Firma, der Villa, mit dem Umzug und Pipapo. Diese Rolle übernimmt ein Herr Kauderer.
Olaf Erdrich, der, wenn Costin nicht alles täuscht, selber Tränen in den Augen hat, sagt, Costin könne jetzt entweder was essen oder duschen oder gleich schlafen gehen, ganz wie er wolle, sein Zimmer warte schon auf ihn; natürlich könne er auch noch runter, bißchen ausspannen, wenn ihm danach sei.
Damit alle Künstler, die bei ihm unter Vertrag sind, das Gefühl haben, daß Olaf Erdrich immer ein offenes Ohr für sie hat und daß ihm tatsächlich an ihrem Wohlbefinden gelegen ist, stehen nicht nur die restlichen Zimmer in seinem Penthouse potentiell einsamen, depressiven oder erholungsbedürftigen Bandmitgliedern zur Verfügung. Olaf Erdrich hat die gesamte Etage ein Stockwerk tiefer zu einem Entertainment-Headquarter herrichten lassen, mit allem, was das Herz eines 8- bis 35jährigen Popstars begehrt: Whirlpool, Spielautomaten, Fitneßgeräte, Heimkino mit den neuesten DVDs sowie, für den Introvertierten: eine kleine Bibliothek mit Klassikern in schweinsledergebundenen Jubiläumsausgaben.
Costin möchte vielleicht noch eine Runde am Automaten Autorennen fahren und dann ins Bett. Bevor er sein Gepäck aufs Zimmer bringt, fragt er Olaf Erdrich, ob außer ihm zur Zeit noch jemand in den Gästezimmern sei. Als Olaf Erdrich sagt, daß Paolo von der Popstar -First-Generation gerade ein bißchen Urlaub von seiner Familie mache und sich außerdem auf die Generations-Tour vorbereite, er wohne im Zimmer ganz hinten links, da hat Costin für einen Moment aufgeatmet.
Nicht daß er wirklich an die Gerüchte glaubt, über die die MA -Popstars, spärlich bekleidet, fröstelnd auf ihren Auftritt wartend, in Backstage-Räumen von Kuhdorf-Locations so sprechen, wobei sie nervös an Kippen ziehen: Daß Olaf Erdrich in jedem Zimmer seines MA -Paradieses inklusive am Boden des Whirlpools Kameras installiert hat, durch die er, von einem geheimen und für Unbefugte nicht zugänglichen Kontrollraum im Penthouse aus, diejenigen seiner Schützlinge, die gerade auf Besuch sind, vorzugsweise Jungs bis 25, beobachten kann.
Mit Paolo, den Costin jetzt allerdings so richtig nur aus der ersten Popstar -Staffel kennt, die er damals, noch zu Schulzeiten, angesehen hat — Paolo muß schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten sein —, mit Paolo wird er aber erst mal morgen früh das Entertainment-HQ voll ausnützen. Autorennen allein am Automaten sind suboptimal. Autorennen zu zweit sind optimal.
19
Im Aufladegerät am anderen Ende des dunklen Zimmers blinkt das Handy verführerisch grün. Costin starrt schon eine ganze Weile vom Bett aus zu ihm rüber.
„Na los, Costin, hol’s dir, jetzt ein Foto, dann geht’s dir besser, dann kannst du endlich einschlafen.“
Das ist die innere Stimme, die Costin manchmal tatsächlich hört, der innere Costin sozusagen, obwohl er, Costin im Bett, nicht der innere Costin, so diese Sachen mit inneren Stimmen eigentlich ziemlich peinlich findet.
Innerer Costin alias PISC (Persönliche Innere Stimme Costins): „Jetzt steh schon auf, du fauler Sack.“
Costin kratzt sich an der Brust. Die Schlafanzüge, die sich im Schrank der Gästezimmer in allen Größen befinden — von S für die Mädels und, nicht zu vergessen, Lasse, den Kinderstar aus der achten Staffel, über den in Popstar -Kreisen der Spruch kursiert „Ich hasse Lasse“, bis zu XXL für die dicken Drei von den Die dicken Drei — fühlen sich rauh auf der Haut an, insbesondere an der Stelle, wo, wie auch auf den Handtüchern im Badezimmer, den Badeschlappen, das Logo der Produktionsfirma, MA , aufgenäht ist.
Innerer Costin alias PISC (beleidigt): „OK. Dann bleib halt so liegen. Aber du weißt ja sicher, was das heißt. Jetzt muß Baby-Costin sein Hirn selber anstrengen, damit Baby-Costin nicht wieder seine Attacke bekommt.“
Schnauze, PISC. Costin hat sich diese Bilder von seiner Ankunft in Cham ins Gedächtnis gerufen. Und vielleicht liegt es daran, daß er am letzten Abend in seinem Zimmer einen Stapel Akira -Hefte durchblätterte, daß der Garten zu Hause, den er jetzt sieht, nur aus ein paar flüchtigen Schwarzweiß-Strichen besteht, und ihm selbst, das spürt er in diesem Augenblick, auf dem Weg zur Haustür, eine Megaträne aus den Kulleraugen tropft, Mangastyle.
20
Zurück vom Fitneßstudio, sperrt er die Tür zu Olafs Penthouse auf, geht, die Sporttasche geschultert, durch den Flur, hört Stimmen, die ihm doch, also die kommen ihm doch bekannt vor, er öffnet die Tür zum Wohnzimmer, da stehen sie plötzlich, Wylie, Seema, Uschi und Melanie, ja, Melanie ist auch dabei, alle vier haben Sektgläser in der Hand. Während Costin die Tasche absetzt, ist sein Blick kurz über Wylie — der einen dieser jetzt modischen, aber trotzdem schwulen Herrenröcke trägt und eindeutig zugelegt hat, kein Rock kann das verbergen, mein lieber Scholli — sowie Uschi und Seema geschweift, die beide in diesem Moment nur entfernte Ähnlichkeit mit der Uschi und der Seema von der letzten Tour der PingPongs vor einem Jahr besitzen. Costin weiß, daß Wylie, Seema und Uschi, die jetzt „Hallo“ (Wylie), „Hey“ (Seema) und „Na?“ (Uschi) sagen, gerade die 14 Pfund über seinem Idealgewicht bemerken. Uschi hat noch mehr abgenommen, Seema hat zugenommen.
Er hatte ja echt die besten Vorsätze, hatte schon genau diese Szene vor sich gesehen, die letzten Tage, und geplant, alle beim ersten Treffen nacheinander zu umarmen (1. Uschi, 2. Seema, 3. Wylie), um eine relaxte Atmo zu schaffen. Der einzige Unterschied war, daß er gedacht hatte, die Situation würde umgekehrt sein; also daß er sich eben schon im Wohnzimmer befinden würde und die anderen PingPongs erst so nach und nach, nicht im Dreierpack, eintrudeln würden. Mit Melanie hatte er sich ja eigentlich extra treffen wollen.
Damit der Erfolg des PingPongs -Parts in der Popstar-Generations-Tour wenigstens nicht bereits von Anfang an gefährdet ist, ist es die beste Strategie, erst einmal ein Smile aufzusetzen — Costin setzt ein Smile auf — und so zu tun, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben: nicht daß Wylie — der ihn jetzt für den Bruchteil einer Sekunde ernst angesehen hat, bevor auch er ein Smile aufsetzt — nach dem zweiten Album und während der Tour nur das Nötigste mit ihm gesprochen hat, weil Costins Leadanteil bei den Songs größer war als seiner und er, Wylie, behauptete, Costin stelle sich auf der Bühne immer in den Vordergrund (stimmt null); nicht daß er und Seema während der Tour, bei der eigentlich striktes Groupie-Verbot galt, geschnackselt hatten und er ihr, sobald er in Berlin Jessica kennengelernt hatte, den Laufpaß gegeben hatte; auch nicht Uschis Finger-in-den-Mund-steck- und Ich-red-mit-euch-nicht-mehr-Geschichte und nicht Seemas Ich-vermisse-meine-Family-so-Geschichte; und schließlich nicht, daß sie sich alle das letzte Dreivierteljahr nicht mehr gesprochen hatten — und daß das auch gut so war.
Costin sagt „Holla“, obwohl er eigentlich „Hallo“ hatte sagen wollen, umarmt zuerst Uschi, beinahe hätte er Melanie als erstes drangenommen, er wird später mit ihr irgendwo abseits von den anderen das alles noch mal durchsprechen, wie es ihm jetzt geht nach Tatas Tod, wie es so war in Cham, wie das weitergeht mit den PingPongs , oder, wenn sie gerade keine Zeit hat, kann man sich ja auch mal nur so auf einen Cappuccino treffen, er merkt jetzt erst eigentlich so richtig, wie er sie — also bloß als Ansprechpartnerin (Betonung auf — in ), natürlich, hey, remember? Melanie = große Schwester — vermißt hat.
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