Birgit sagt: „Burma.“
Wallner schaltet um.
Das Polizeiauto fährt mit Blaulicht über eine Kreuzung.
Die Reifen quietschen. Wachtmeister Willems fährt. Auf dem Beifahrersitz hält sich Polizeikommissarin Brigitte Weichinger am Armaturenbrett fest.
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Könnt ihr noch mal die Straße und die Hausnummer wiederholen?“
Stimme aus dem Funkgerät: „Die Straße ist die Barerstraße. Die Hausnummer ist (Störgeräusch). .“
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Hallo? Hallo? Hörts ihr mich? Was war die Hausnummer?“
Das Polizeiauto überholt eine Tram. Ein entgegenkommendes Auto weicht auf den Gehsteig aus. Ein Fußgänger springt zur Seite.
50
Wallner geht in Costins Zimmer, weil der Computer in seinem Arbeitszimmer zum dritten Mal in Folge abgestürzt ist. Wallner ist seit dem Umzug in die Villa vielleicht nur drei-, viermal hier im Keller in Costins Zimmer gewesen; nachdem Costin nach Regensburg zur Ausbildung bei der Sparkasse gegangen ist, kein einziges Mal.
Wallner hat das Zimmer für einen Moment nicht wiedererkannt. Ana stellte hier, wohl nach Costins Auszug, mehrere Möbelstücke ein, den alten Schrank aus dem Eßzimmer, den alten Tisch aus ihrem eigenen Arbeitszimmer, einige Kartons aus dem Hobbyraum, ohne Wallners Wissen. Costins altes Bett steht noch da, mit hellblauem Anstrich und dünnen roten Streifen.
Dünne rote Streifen auf hellblauem Hintergrund sind die Farben von Christopher gewesen in dem gleichnamigen Buch, das Ana auf der Schreibmaschine für Costin geschrieben und illustriert hat, als er in die erste Klasse kam. Christopher, der Held des Buches, ist ein Junge, der bei seinen Eltern wohnt — die Mutter ist Rumänin — und gerade in die erste Klasse kommt. Christopher sieht aus wie Costin. Sobald Christopher einschläft, befindet er sich in einer Traumwelt. Statt eines Schlafanzugs trägt er ein einteiliges Kostüm mit Mantel in den Christopher-Farben. Sein Lieblingsstofftier, ein Maikäfer, erwacht in der Traumwelt zum Leben. Ana hat den Maikäfer Dinu genannt. Wallner erfuhr davon erst, als ihm Ana das fertig gebundene Buch einen Tag vor Costins erstem Schultag zeigte. Wallner war gegen den Namen Dinu gewesen, aber Ana hatte gesagt, es sei zu spät, noch irgend etwas zu ändern, die Arbeit, das alles zu tippen, die Zeichnungen mit Holzfarbstift, das mache sie nicht noch einmal.
Jedes Kapitel begann ähnlich. Christopher schlief ein und erwachte, däumlingsgroß, auf dem Rücken Dinus wieder, der gerade zu neuen Abenteuern flog. Oft geschah das auf Hilferufe hin, die atemlose Heuschrecken oder Mücken mit auf ihren Stacheln befestigten schriftlichen Ersuchen aus fernen Ländern überbrachten.
Wallner konnte sich noch dunkel an ein Kapitel erinnern, in dem ein Dorf in Indien von einer Dürreperiode heimgesucht wurde. Auf einer Illustration hatten Traktoren verlassen auf den ausgetrockneten Feldern gestanden. Dinu Mai hatte sämtliche einheimische Käferarten zu einer Generalversammlung einberufen, und unter Christophers Anleitung war mit Käferschaufeln und Käferbeinen ein Schacht, ein Brunnen gegraben worden.
Ana las fast jeden Abend von Winter bis Sommer, das ganze erste Schuljahr hindurch, Costin ein Kapitel aus Christopher vor. Zu seinem Geburtstag im März hatte Costin einen Stoffmaikäfer sowie einen Mantel in den Christopher-Farben geschenkt bekommen, den er den ganzen Sommer über trug, wobei er darauf bestand, mit Christopher angeredet zu werden. Wallner hatte auf Costins Wunsch hin dessen Bett und Bücherschrank in den Christopher-Farben angemalt.
Vor Beginn der zweiten Klasse hatte dann Ana Costin, der inzwischen das Christopher -Buch stellenweise auswendig konnte, ein zweites Christopher -Buch geschenkt. Im zweiten Christopher -Buch hatte Christopher ein neues Stofftier bekommen, Marie Käfer, die Dinu Mai anfangs nicht ausstehen konnte. Dann war Dinu Mai krank geworden, er hatte eine Art Arthrose in den Fühlern bekommen, und Marie Käfer war zusammen mit Christopher in ein Land geflogen, das „Frühlingsland“ oder „Land des Frühlings“ hieß, jedenfalls hatte es einen kitschigen Namen gehabt. Nur dort hatte es so etwas wie das „Wasser des Lebens“ für Maikäfer, einen Sirup aus irgendwelchen magischen Früchten, gegeben.
So oder so ähnlich ging die Geschichte, das wußte Wallner noch. Als ihm Ana diesmal, noch bevor sie das Buch zum Binden gab, das Manuskript vorlegte, damit sie, sollte er etwas dagegen haben, noch Änderungen vornehmen konnte, hatte er wegen Marie Käfer Verdacht geschöpft, daß Ana vielleicht etwas über sein ehemaliges Verhältnis mit Lotte Müller herausgefunden haben könnte und darauf anspielen wollte. Als er aber auf die Illustration des kranken Dinu Mais mit geknickten Fühlern zeigte und fragte, ob das er, Wallner, sein solle, hatte Ana gesagt, daß er und sie ja bereits im Buch vorkämen, als Christophers Eltern nämlich, die immer nur in Aktion traten, wenn sie ihren Sohn ins Bett brachten oder ihn am Morgen aufweckten. Sie habe bei Dinu an niemand Bestimmten gedacht.
„Maikäfer werden halt auch mal krank“, hatte sie gesagt.
Ungefähr als Costin ins Gymnasium eintrat, nein, zuvor, Wallners Großmutter war bereits tot, hatte eines Tages Ana zusammen mit Costin neue Möbel für das Zimmer gekauft. Costin hatte es seitdem abgelehnt, Christopher genannt zu werden. Nur das Christopher-Bett war in Costins Zimmer stehengeblieben. Costin hatte bald angefangen, Comics zu sammeln. Wallner hatte zusammen mit Costin ein, zwei Folgen von Alf gesehen, so daß er erraten konnte, wenn Costin so tat, als wäre er, Costin, dieser Alf.
Wallner geht zwischen den Stapeln der bunten Hefte, die über den Boden verstreut liegen, zum Computer. Über dem Schreibtisch hängt das Poster einer Sängerin, blondes Haar, schief aufgesetztes weißes Cap, vermutlich aus Lack, unter dem T-Shirt sind ihre Brustwarzen erkennbar. Sie schaut Wallner ins Gesicht, er kann ihrem ernsten Blick nicht ausweichen. Wallner schaltet den Computer ein, geht online und klickt auf das Icon mit dem Briefumschlag, um zu seinem E-Mailkonto zu gelangen.
51
„Bitte verlaß mich nicht.“
„Aber warum soll ich dich denn verlassen?“
Es entsteht eine Pause.
„Ich habe so eine Angst. Ana. Ich habe so eine Scheiß-Angst.“
„Aber du mußt doch keine Angst haben.“
Es entsteht eine Pause.
„Du mußt keine Angst haben.“
52
Die Einkaufstüten in seinen Händen sind in den letzten Minuten immer schwerer geworden. Und dann das Gedränge überall und besonders auf der Rolltreppe, seine Nase berührt beinahe den Pelzmantel der Frau vor ihm, der stark süßlich riecht. Ana ist schon vorausgeeilt. Sie steht oben und studiert den Wegweiser der Etagen. Woher nimmt sie diese Energie? Wallner läßt den Blick schweifen. Die Musik — irgendein Walzer von Schostakowitsch, den er aus einem Film kennt — hat etwas Einschläferndes. Ein Mann, spitze Nase, Ende 50, leicht untersetzt, vielleicht 1,85 groß, mit rotweiß kariertem Hemd, hat ihn von gegenüber, der Rolltreppe, die nach unten fährt, angeschaut und sich sofort umgewendet, mit einem Schlag ist Wallner hellwach. Kein Zweifel, der Mann hat gemerkt, daß Wallner ihn erkannt hat. Wallner greift nach dem Fotoapparat in seiner Manteltasche, blickt dem Fremden nach, möchte „He“ rufen, bringt aber keinen Ton heraus, macht ein Foto und versucht dabei gegen die Fahrtrichtung der Rolltreppe und zwischen den Leuten hindurch, die ihm den Weg versperren, nach unten zu laufen, dem Fremden hinterher. Schon ist der Mann am Ende der Rolltreppe angekommen, eilt weg. An einem Stand für Armbanduhren ist er mit dem Rücken zu Wallner stehengeblieben, beugt sich über eine der Glasvitrinen. Er schreibt etwas auf einen Notizzettel. Wallner klopft das Herz bis zum Hals, er zögert, dann tippt er dem Mann auf den Rücken.
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