„Meistens haben das der Witte und du gemacht.“
Wallner hat sich auf den Schreibtischstuhl gesetzt und die Hände auf der Tischplatte gefaltet.
„Und wie bist du überhaupt auf Zentrope gekommen? Von denen hat man ja noch nie etwas gehört.“
„Wie bin ich auf Zentrope gekommen. Über Henning.“
„Über van Riet?“
„Über Henning. Das ist die Firma, die Straßburg benutzt. Henning hat da mal wegen Marckelsheim nachgesehen.“
Es entsteht eine Pause.
Wallner sagt, daß das nichts mache. Es sei ja schon gut. Er verabschiedet sich.
Wiget fragt, ob es bei Samstag abend bleibe.
Wallner sagt: „Ja“.
Wiget sagt, er freue sich und verabschiedet sich.
Wallner erwidert: „Ich auch“ und verabschiedet sich.
Er sitzt auf dem Schreibtischstuhl und hat die Hände auf der Tischplatte gefaltet.
59
26. März
16:15 Uhr. Friseur.
60
Der hellrote Peugeot in seinem Rückspiegel folgt ihm bereits eine ganze Weile. Gleich nachdem Wallner, nur um zu sehen, was passiert, den Blinker setzte, blinkte auch der hellrote Peugeot hinter ihm. Als Wallner doch nicht abbog, fuhr auch der hellrote Peugeot geradeaus. Der Fremde aus dem Kaufhaus in Nürnberg und eine Frau, seine Frau? haben darin gesessen. Aha, denkt Wallner, einer reicht nicht mehr aus.
„Wenn möglich, bitte wenden“, wiederholt die Frauenstimme des Navigationssystems.
Wallner ist es egal, ob er zu dem Termin um vier in der Leopoldstraße zu spät kommt. Er biegt in ein Wohngebiet ein, beschleunigt und behält dabei die rosa Spur, die er auf der Straßenkarte des Bildschirms zieht, sowie den Rückspiegel im Auge. Unabsichtlich ist er jetzt in eine Sackgasse gefahren, die Straße endet vor einer Hecke. Wallner hält den Wagen an.
Dann wird er nun also sehen, wer in dem roten Peugeot sitzt.
Es ist still geblieben. Wallner wartet, holt den Fotoapparat aus dem Sakko. Diesmal muß das mit dem Fotoapparat funktionieren, das letzte Mal, im Kaufhaus in Nürnberg, waren die drei Fotos, die er gemacht hatte, völlig schwarz. Er spürt wieder diesen stechenden Schmerz in seinem Kopf, in letzter Zeit hat er das Gefühl, daß dieser Kieselstein, oder was auch immer es ist, in seinem Kopf größer geworden ist, handtellergroß.
Der hellrote Peugeot ist nicht gekommen. Wallner setzt sich in den Wagen, startet und schaltet das Navigationssystem ein, um die Zielführung fortzusetzen. Auf dem Gewirr aus gelben Rechtecken und grauen Linien ist nach ein paar Momenten eine rote Linie erschienen, ein Faden.
61
Bereits von weitem kann er die kleine Gruppe von Gerademal- beziehungsweise Gerade-noch-nicht-Teenagern sehen, am Gatter hängen Luftballons, davor liegen Teddys. Eigentlich müßten die Kinder schon längst die Alarmanlage ausgelöst haben. Ana wird sie wie immer ausgeschaltet haben. Sie ertrage das ständige Piepen nicht, sagt sie.
Als er mehrmals hupt und sich das Gatter automatisch öffnet, sind die Mädchen — es sind nur Mädchen, vielleicht sechs, sieben — zu den Seiten ausgewichen und haben, jetzt aber anders als eben, wütend oder traurig, wie es scheint, nicht mehr dem Haus, sondern dem Auto zugewandt, obwohl sie sehen können, daß nur er und niemand sonst darin sitzt, ihre Sprechchöre mit „C-O, C-O, C-O“ fortgesetzt. Für einen Augenblick befürchtet er, daß eines der Kinder sich an seinem Auto vorbei aufs Grundstück zwängen und bis zur Haustür laufen könnte. Zudem stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Mädchen die zwei Tage, an denen Costin hier auf Besuch ist, weiter ihre Show abziehen und dabei womöglich noch Verstärkung bekommen sollten. Eines von ihnen könnte nachts ins Haus einbrechen, die Alarmanlage würde natürlich ausgelöst werden, jetzt lohnen sich endlich die eigentlich viel zu hohen Ausgaben für das satellitenüberwachte System. Aber allein die Vorstellung, 48 Stunden unter Belagerung zu sein, ist Wallner in diesem Moment unerträglich. Man könnte im Büro schlafen.
Er geht, die Stimmen der Mädchen im Hintergrund wie Anfeuerungsschreie, von der Garage zum Haus. Die Mädchen starren ihn mit diesen Augen an, sie glotzen regelrecht.
Als er die Tür öffnet, kommt ihm gerade im Eilschritt Costin entgegen, er trägt einen dieser ockerfarbenen Nadelstreifenanzüge mit T-Shirt darunter, das Outfit, in dem die männlichen Models auf den Werbeeinlagen in der Zeitung abgebildet sind, Costin sieht tatsächlich genauso aus wie das männliche Model aus der Werbeeinlage, er ist braungebrannt.
Wallner sagt: „Hey.“ Er kann für einen Moment nicht sprechen, er bringt kein Wort heraus. „Hast du eigentlich auch normale Fans? Die stürmen mir ja bald mein Haus. Wann bist du denn angekommen?“
Costin, der im Begriff ist, die Treppe in den Keller herunterzulaufen, sagt: „Hallo, Tata. Ich hab’s gerade super-eilig, sorry, ich habe was mit Quirin und Britney ausgemacht. Muß noch duschen und das alles. Streß, Streß, Streß. Wollen wir mal reden?“
Costin ist im Keller verschwunden.
Er hat Wallner nicht zur Begrüßung umarmt oder auf die Wangen geküßt. Wallner möchte, daß ihn Costin zur Begrüßung umarmt und auf die Wangen küßt.
Vor der Küchentür, die einen Spalt weit geöffnet ist, bleibt Wallner wie angewurzelt stehen. Am Herd kocht jemand, eine fremde Frau, vielleicht 30, klein, dürr, schulterlanges blondes Haar.
Nein.
Es ist Dolora, die Köchin. Schön öfter ist es Wallner jetzt passiert, daß er sich vor Dolora oder der Putzfrau, Eva, erschrocken hat; er hat sich noch immer nicht ganz an die neue Situation gewöhnt. Anas Bedingungen für den Umzug in die Villa nach Chammünster waren gewesen, daß sie im Haushalt entlastet werden würde und sie sich voll auf die Boutique konzentrieren könne. Wallners Einwand, daß man ja mit dem Börsengang ein hohes Risiko auf sich genommen habe und vielleicht später einmal finanzielle Polster benötige, lehnte sie ab. Sie sehe es nicht ein, auf Sachen zu verzichten, die sie sich all die Jahrzehnte — Jahrzehnte! — in Cham gewünscht habe und die sie sich nun endlich leisten könne. Wallner hatte gedacht, er könne die Diskussion um die Putzfrau und die Köchin aufschieben, indem er einfach, immer wenn ihn Ana abends fragte, was denn nun sei, welche Bewerberin in die engere Wahl komme, erwiderte, er sei sehr müde, könne heute einfach nicht mehr, ob sie das nicht später einmal besprechen könnten, am Wochenende zum Beispiel — was sie dann natürlich nicht taten.
Eines Tages aber hatte, als er nach Hause kam, Ana mit einer dicklichen Blondine, ungefähr 30, im Wohnzimmer gesessen. Sie waren lachend ins Gespräch vertieft gewesen, schienen ihn zuerst überhaupt nicht wahrzunehmen, bis Ana ihm die Blondine als die neue Putzfrau vorstellte. Ana hatte ihr einfach so, ohne Wallner noch einmal zu konsultieren, den Job gegeben, ebenso wie Dolora. Beide waren ursprünglich aus Tschechien, hatten einen leichten Akzent, möglich, daß ihnen ihre Herkunft bei Ana einen Bonuspunkt eingetragen hatte, die in ihnen Verbündete sehen mochte, die Ostblock-Connection sozusagen. Die wenigen Male, die Wallner Eva und Dolora zu Gesicht bekommt, verwechselt er sie oder geht ihnen tunlichst aus dem Weg. So sind oft das einzige, was ihm anzeigt, daß die beiden tatsächlich für Ana und ihn werktags arbeiten, der Teppich, die Fenster und Möbel, die plötzlich anders riechen, künstlich, nach Melonen oder Zitronen — Eva mußte ein anderes Reinigungsmittel als Ana verwenden —, die Speisen, die zwar aussehen wie früher — Ana und er hatten einen Speiseplan erstellt —, aber nicht so schmecken; Dolora muß bestimmte Gewürze verwenden, die ihm bis dahin unbekannt gewesen sind. Zuerst hatte Wallner Evas und Doloras regelmäßige Anwesenheit in der Villa beunruhigt. Er hatte nicht schlafen können. Seit er die Schlüssel für die Schreibtischschubladen immer bei sich trägt und seinen Laptop in den Safe sperrt, geht es etwas besser. Man kann nie wissen.
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