Eine Weile lag Wilbur reglos da und starrte an die Decke, auf der sich, dünn wie draußen der Schnee, eine Schicht Helligkeit ausbreitete. Dann holte er den Koffer unter dem Bett hervor, legte ein Hemd und eine Hose, Unterwäsche und Socken hinein und Colms Nashorn. In der Küche nahm er alles Geld, fast zweihundert Dollar, aus der Notfallbüchse, schrieb ES TUT MIR LEID auf einen Zettel und verließ die Wohnung.
Das Hotel fand er zufällig. Er war stundenlang durch die von einer seifigen Schneeschicht bedeckten Straßen gegangen und spielte mit dem Gedanken, sich in einer Bar aufzuwärmen, als er das Schild sah. Der Nachtportier, ein südländisch aussehender Bursche mit einem schwer einzuordnenden Akzent, nannte den Übernachtungspreis und verlangte das Geld im Voraus. Er versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen, gab aber angesichts der Einsilbigkeit seines Gastes schnell auf. Wilbur ging in sein Zimmer im ersten Stock und legte sich hin.
Eine Stunde später stand er erneut in der Lobby und fragte den Portier nach einer Bar in der Nähe. Er ließ sich den Weg beschreiben, verzichtete auf ein Taxi und ging die fünf Blocks und zwei Querstraßen zu Fuß. Er betrank sich mit drei Eigenkreationen des Barkeepers, süßen Cocktails, die Midnight Mango hießen und das Hirn mit Rum, Cointreau, Gin und Mangosaft verklebten. Musik berieselte ihn und die Stimme eines Mannes, der die Geschichte seiner vier Ehen rezitierte.
Im ersten Licht des Tages stand Wilbur auf der Straße und konnte sich weder an den Namen des Hotels erinnern noch an die Richtung, in der es lag. Einem Taxifahrer sagte er in einer plötzlichen Eingebung, das Hotel sei nur für Männer, und Minuten später hielten sie vor dem trostlosen Gebäude. Vom Alkohol redselig geworden, war Wilbur in der Stimmung für einen einfältigen Schwatz, eine jämmerliche Herz ausschüttung, eine nach Erlösung winselnde Beichte, aber jetzt hatte der Mann hinter der Empfangstheke kein Interesse mehr. So ließ Wilbur sich ein zweites Mal auf sein neues Bett fallen und glitt durch das lärmende Erwachen Brooklyns in einen zerfransten, nach Zucker schmeckenden Schlaf.
Am nächsten Tag holte er in einem Schnapsladen Rum und Wodka und verschiedene Obstsäfte und schloss sich damit in seinem Zimmer ein. Wilbur Sandberg, tagelang betäubt von Cocktails, für die er Namen wie Sweet Amnesia, Baccardi Brainwash und Pineapple Paranoia erfand, war einer der wenigen Menschen in New York, die die Silvesternacht, den von düsteren Warnungen begleiteten Wechsel ins nächste Jahrtausend, den Sturz ins prophezeite Chaos verschliefen.
Dobbs besucht mich fast jeden Tag und bewundert den Holzboden, den ich alle zwei Wochen mit Leinöl poliere. Ich schlage vor, dass wir in seinem Zimmer den Teppich ebenfalls herausreißen und die Dielen schleifen und ölen, und Dobbs strahlt. In Winstons Laden habe ich eine Schleifmaschine gefunden, mit der die Arbeit ein wenig leichter zu schaffen ist. Ich frage Randolph um Erlaubnis, und er hat nichts dagegen, solange es nichts kostet.
Wir schleppen die Möbel auf den Flur, was wegen Dobbs’ steifem Bein ewig dauert. Dann entfernen wir die Sockelleisten und zerren den Teppich von den Dielen, schwitzend und fluchend unter den Masken, die uns vor dem Staub und dem pulverisierten Leim schützen. Der Teppich lässt sich nur in mürben, faserigen Placken vom Untergrund lösen, und wir schneiden ihn in taschenbuchgroße Stücke, die wir in Müllsäcke stopfen. Nach einer Stunde keucht Dobbs dermaßen, dass ich das Herausreißen alleine erledige und ihm das Schneiden überlasse. Drei Stunden später sind wir fertig. Wir schleppen die Müllsäcke hinunter und ignorieren dabei Alfred und Enrique, die wissen wollen, wessen Leiche wir entsorgen.
An manchen Stellen ist der alte Leim knochentrocken und wie kristallisiert und lässt sich mit dem Spachtel leicht abschaben, an anderen ist er hart und zäh und mit dem Holz eine Verbindung für die Ewigkeit eingegangen. Dobbs und ich knien beziehungsweise liegen bäuchlings auf Schaumstoffkissen wie Archäologen, die ihre eigene unrühmliche Vergangenheit freilegen. Wir arbeiten verbissen, hören Glenn Millers Orchester zu und vertreiben neugierige Gaffer mit flapsigen Antworten. Dobbs schläft in einem der freien Zimmer, das er für die kurze Zeit des Exils heimelig macht, indem er seine Bilder darin aufhängt und eine Büchse mit intensiv riechendem Darjeeling offen auf die Kommode stellt.
Am Abend des nächsten Tages ist der Boden von den Leimresten befreit, am Nachmittag darauf fangen wir mit dem Schleifen an. Obwohl der Raum klein ist, zwölf Quadratmeter, sind wir drei Tage beschäftigt. Dann legen wir Zeitungen auf den Boden und streichen die Wände und die Decke mit der weißen Farbe, die vom Streichen der Lobby übriggeblieben ist. Drei Anstriche sind nötig, um die verdammte Tapete zu decken.
Am siebten Tag tragen wir das Leinöl auf, drei Schichten im Abstand von vier Stunden. Am Nachmittag des achten Tages polieren wir den Boden mit Baumwolltüchern, am Abend stellen wir die Möbel zurück in den Raum. Alle kommen hoch, um sich unser Werk anzusehen. Sogar Mazursky, der sich vor ein paar Tagen den Fuß verstaucht hat und keinen unnötigen Schritt geht, humpelt auf Krücken den Flur entlang und macht große Augen. Ich habe bei Winston ein paar alte Holzrahmen gekauft, in denen jetzt Dobbs’ Heimwehbilder stecken, Landschaftsaufnahmen aus Louisiana, die vorher nur mit Reißzwecken an die Wand geheftet waren und auf den arktisweißen Wänden richtig edel aussehen.
«Ich mag die Wände«, sagt Randolph. Er schießt mit einer Wegwerfkamera Bilder, die er dem Besitzer des Hotels schicken wird.»Besser als die Tapeten. Macht den Raum irgendwie größer. «Bestimmt erzählt er dem Kerl, die Idee für die ganzen Renovierungen sei auf seinem Mist gewachsen.
«Ich will auch so ein Zimmer«, sagt Elwood. Mazursky schließt sich ihm an,»Mein Teppich stinkt. «Plötzlich wollen alle ihre Bude verschönert haben und bestürmen Randolph.
«Quatscht nicht mich an«, sagt Randolph, macht ein letztes Bild und verlässt das Zimmer.»Wendet euch an die Firma Sandberg. «Er grinst mir zu und geht zum Fahrstuhl.
Elwood ist der erste, der mich mit Flehen und Betteln weichklopft. Er erzählt mir, dass er in dem Haus in New Jersey, wo er vor einem halben Jahrhundert mal gelebt hat, genau solche Holzböden hatte, wie ich sie freilege. Zuerst vertröste ich ihn auf unbestimmte Zeit, aber dann bietet Dobbs mir seine Hilfe an und wir machen aus Elwoods tristem Loch ein sauberes, helles Zimmer, an dessen Wänden gerahmte Bilder hängen wie in einem vornehmen Haus. Am Tag, an dem wir fertig sind, wird Elwood einundachtzig. Am Nachmittag feiern wir, essen Bananenkuchen nach Madame Robespierres Rezept und trinken Fruchtpunsch. Enrique spendiert eine Flasche Gin, und wer will, kriegt seinen Punsch mit Schuss. Ich habe seit Spencers Beerdigung keinen Alkohol getrunken und vor, noch eine Weile abstinent zu bleiben. Dabei mache ich mir keine Illusionen. Das Leben ist eine Achterbahn, und wenn es abwärts geht und die Räder aus den Schienen springen, federt ein Rausch den Aufprall ein wenig. Elwood braucht drei Anläufe, um die zehn oder zwölf symbolischen Kerzen auf dem Kuchen auszupusten. Er weint gerührt und beschwipst und erzählt von früher. Gegen Abend döst er auf seinem frisch bezogenen Bett ein, und wir lassen ihn schlafen.
Später in dieser Nacht sitze ich hinter dem Empfangstresen und vertreibe mir die Zeit damit, die Karteikarten mit den Personalien der Dauergäste neu auszufüllen. Randolphs Schrift ist kaum zu entziffern, winzig und kringelig, und Leonidas hat auf die Rückseite jeder Karte Bemerkungen gekritzelt. Bei Elwood, der mit Nachnamen Watts heißt, steht zum Beispiel: VORSICHT! RELIGIÖS, KEINE SCHERZE ÜBER GOTT! daneben: SCHWERHÖRIG. Anthony Howard Mazursky hat den Eintrag STUR UND EINFÄLTIG, KEINE DISKUSSIONEN ÜBER POLITIK, KULTUR, KRIMINALITÄT. Die letzten drei Wörter sind durchgestrichen und mit IRGENDWAS! ersetzt. Auf der Rückseite von Spencers Karte steht: REDET NICHT, BESCHWERT SICH NIE. DER PERFEKTE GAST. SCHWESTER IN KALIFORNIEN (ZELDA). Ich setze seinen Todestag dazu und stecke die Karte ein.
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