Die Bartspitze lag noch immer im Tintenfaß. Langsam färbten sich die Haare von der unsichtbaren Spitze aufwärts. Locke um Locke wuchsen blaue Äderchen zum Kinn.
— Sie glauben vielleicht, diese Vögel schwirren durch meinen Verstand.
Er lachte. Seine Zähne waren blau überzogen, ebenso seine Zunge.
— Denken Sie, was Sie wollen, aber seien Sie versichert, ich werde meiner Aufgabe gerecht, besser als jedes andere gottverlassene Gericht in diesem gottverlassenen Land. Ich muß mich auf den nächsten Fall vorbereiten.
Er hob eine Akte von einem niedrigen Stapel neben seinem Sitz auf, führte sie zum Mund und blies etwas unsichtbaren Staub weg.
— Staub, der ist überall. Dagegen hilft Gelbwurz, täglich einzunehmen. Am Abend, mit etwas Honig vermengt, dann kann Ihnen der Staub nichts anhaben. Verweilen Sie, wenn Sie möchten, aber ich fürchte, dieser Fall wird sich als langweilig herausstellen. Durch und durch langweilig.
Der Richter vertiefte sich in das Studium der Akten, bevor Burton Abschied nehmen konnte. Der Junge zog an seinem Ärmel und führte ihn zum hinteren Ausgang am anderen Ende des Saals. Bevor sie den erreichten, drängte sich Burton eine Frage auf. Seine laute Stimme wurde zu einem Echo gebogen.
— Herr Richter. Was war dieses Gebäude früher?
Während seine Worte die Vögel unter der Kuppel verschreckten, fixierte ihn der Richter mit einem freudlosen Blick.
— Ein moslemisches Grabmal. Verschwinden Sie!
11.
NAUKARAM
II Aum Pashinaaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II
— Gestern war kein ergiebiger Tag. Ich habe am Abend die Aufzeichnungen durchgesehen, es war kaum etwas Brauchbares darunter. Wir haben Geld verschwendet.
— Wir haben Geld verschwendet? Wie kann das sein? Ich habe etwas gezahlt, und Sie haben etwas erhalten.
— Wir müssen mehr über Baroda aufschreiben. Schließlich wirst du in Baroda eine neue Anstellung suchen. Sindh ist weit weg.
— Ich habe Ihnen schon alles erzählt über meine Zeit hier.
— Du hast Kundalini ausgelassen.
— Mit Absicht.
— Du legst eine unnötige Scham an den Tag, wirklich. Es weiß doch jeder in der Stadt, die Angrezi ohne Ehefrauen nehmen sich Konkubinen, jeder von ihnen hat eine Bubu. Du hast dem Firengi also eine Geliebte beschafft.
— Woher wissen Sie das?
— Selbst wo die Sonne nicht hingelangt, dort kommt der Dichter hin. Was also willst du mir verheimlichen?
— In meinem Fall war es anders.
— Gewiß. Deswegen möchte ich die Geschichte festhalten. Sie macht dich besonders. Sie zeichnet dich aus, dessen bin ich mir sicher, ohne sie näher zu kennen.
— Nein. Nicht unbedingt.
— Wie oft habe ich dir schon versichert: Was nicht für dich spricht, wird nicht aufgeschrieben.
— Besser ist es, wenn es nicht ausgesprochen wird.
— Du bist nicht nur ein Dickkopf …
— Ich muß nicht über alles reden.
— Du weißt deine Verbohrtheit auch noch zu rechtfertigen.
— Ich will heute nicht reden. Ich werde gehen.
— Ohne mein Einverständnis …
— Ao-jo. Wir sehen uns morgen.
— Du bist ein Narr. Ich bin der einzige, der dir helfen kann, deine Dummheit zu verkleiden. Hörst du, du Narr.
12.
MIT DER MONDSICHEL AUF DER STIRN
Auf einmal war sie da. Er war nicht auf sie vorbereitet. Das allererste, was er von ihr sah, war die Bucht ihres nackten Rückens. Die Mündung ihres Nackens. Über dem Saum des Saris eine Dupatta in Chamois. Der Sari war blau, wie tiefes Wasser. Sie saß im Garten, auf einem Hocker, der — wenn er sich nicht täuschte — aus der Küche stammte. Er sah ihren Hinterkopf, ihr Nacken wurde senkrecht geteilt von dem Seil ihrer geflochtenen Haare, versetzt mit roten Seidenfäden. Eine dünne Kette hing golden über einem ihrer Halswirbel wie ein angehängter Gedanke. Sie bewegte sich nicht, und er, am Fenster stehend, beobachtete sie still. Natürlich, Naukaram würde sie nicht ins Haus lassen — wer immer sie war, eine Schwester vielleicht, oder seine Geliebte, nein, das war äußerst unwahrscheinlich —, bevor er ihn nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Die Spitzen ihrer Haare berührten das Gras. Um dieses Haar, schwarz wie glänzende Kohle, wenn es so unbewegt hinabhing, beneidete er die Einheimischen. Blonde Haare waren eine Verirrung der Natur, Ausdruck eines unüberlegten Drangs zur Abwechslung. Ihre Bluse war heller im Blau, wie Meerwasser in Strandnähe. Wo der Ärmel der Bluse endete, zeichnete sich die leichte Andeutung eines Muskels ab. Vielleicht täuschte er sich, vielleicht waren ihr die Ärmel zu eng. An ihrem Handgelenk hingen einige Silberreife. Es klopfte an der Tür. Er löste sich vom Fenster und nahm an seinem Schreibtisch Platz, bevor er Naukaram hereinbat. Saheb, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, verzeihen Sie die Störung, einen Gast. In welcher Angelegenheit, Naukaram? Ein Kennenlernen, Saheb, keine Angelegenheit, Sie werden es nicht bereuen, glauben Sie mir.
An ihrem Gesicht fiel ihm zuerst das Bindi auf der Stirn auf, ein den Farbtönen ihrer Kleidung angepaßter Punkt, ein konzentriertes Blau. Ihr Gesicht war dunkel, und es war schmal. Naukaram stellte sie vor, auf Englisch, er pries sie an, als wollte er sie verkaufen. Die Situation war unangenehm und aufregend zugleich. Einmal rutschte ihre Unterlippe unter die Vorderzähne und sofort wieder heraus, so schnell, er war sich nicht sicher, ob er es wirklich gesehen hatte. Er stellte ihr einige höfliche Fragen, und erst einige Antworten später richtete sie ihren Kopf auf. Ihr Blick war weniger unterwürfig als ihre Körperhaltung, ihre Augen schwarz in weiß, wie Onyxstein, eingefaßt im Kajal. Nur einen Makel hatte ihr vollendetes Gesicht: Weit oben auf der Stirn, nahe dem Haaransatz, krümmte sich eine kleine Narbe wie ein Neumond. Er verstand nicht, was Naukaram sagte, er hörte nicht mehr zu, er nickte einmal mit dem Kopf, als sie sich abwandte und Naukaram nach draußen folgte. Sie ließ ein Lächeln zurück, so klein wie die umgeknickte Ecke einer Seite in einem Buch. Naukaram kehrte umgehend zurück.
— Naukaram, was sollte das?
— Ich war der Ansicht, Sie begehrten die Gesellschaft einer Frau.
— Und du hast angenommen, ich sei nicht in der Lage, mich selber darum zu kümmern?
— Sie sind vielbeschäftigt, wieso sollten Sie sich auch noch diese Aufgabe aufbürden.
— Soso.
— Gefällt Sie Ihnen nicht?
— Sie ist bezaubernd. Und außerdem hast du recht, wie sollte ich eine Frau finden.
— Vielleicht, wenn Sie ausprobieren wollen, für einige Tage, ob ihre Gesellschaft Ihnen Freude bereitet?
— Ich bin solche Arrangements nicht gewohnt.
— Sie müssen sich um nichts kümmern, Saheb. Ich werde alles übernehmen, was Ihnen peinlich vorkommen könnte. Sie müssen nur genießen.
Aber es war mehr an dieser Frau als nur das verläßliche Versprechen von Genuß.
13.
NAUKARAM
II Aum Bhaalchandraaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II
— Sie sollten über Kundalini Bescheid wissen, ich habe nachgedacht. Es ist nichts, was ich verstecken muß.
— Siehst du mich schreiben? Nein! Ich werde nur zuhören.
— Ich habe sie in einer Maikhanna gefunden. Ich habe sie dort gesehen, sie hat bedient. Sie hat mir meinen Becher gebracht, Milch mit Bhang, meine Vorliebe. Ich habe nie Daaru getrunken, ich hasse Alkohol. Sie wissen es vielleicht nicht, die Frauen dort sind sehr ansehnlich, und sie können tanzen. Wenn ein Gast ihnen gefällt und wenn der Gast etwas Geld auf den Tisch legt, tanzen sie vor ihm, für ihn. Ich habe sie beobachtet. Ich dachte, es wäre wunderbar, wenn sie für mich tanzen könnte. Ich konnte es mir leisten, also kehrte ich zurück, ich legte Geld auf den Tisch. Und sie tanzte. Nur für mich. Als sie mir in die Augen blickte, gab sie mir den Eindruck, ganz nahe bei mir zu sein, und gleichzeitig, sie nie berühren zu können. Sie war wie der Pipalbaum in der Dorfmitte …
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