Am nächsten Tag, nach dem Aufstieg in die Berge, erstreckten sich Mohnfelder zu beiden Seiten des Weges über mehrere Stunden leichten Trotts. Von dieser Hochebene aus verdarb die Ehrenwerte Gesellschaft das Reich der Mitte. Ein elegantes Austarieren des Außenhandelsdefizits, hatte ein Kommentator der Times im Vorjahr geschrieben, als die Kämpfe in China beigelegt wurden. Ein einziges Mal hatte der Opiumhändler das Wort an ihn gerichtet. Sie trabten auf einen Karren zu, als er fragte: Was da wohl drin ist? In einem Tonfall, als wüßte er mehr, viel mehr, als augenfällig war. Heu, schätze ich, antwortete Burton. Den Anschein hat’s, aber trügt der Anschein nicht? Der Opiumhändler verfügte eindeutig über Herrschaftswissen. Neulich wurde ein Kerl aufgegriffen, er hatte den ganzen Karren voller Konterbande, unter dem Heu. Konterbande, fragte Burton scheinheilig, was denn für Konterbande? Beste Qualität, ein kleines Vermögen, das wir da beschlagnahmt haben. Mehr hatte der Händler nicht zu sagen, bis zu dem vernuschelten Abschied in Mhow. Burton überreichte dem kommandierenden Major eine Botschaft von dem Brigadier in Baroda und täuschte einen leichten Schwächeanfall vor, um dem gemeinsamen Mittagessen zu entkommen, das zweifellos den restlichen Tag erdrücken würde. Statt dessen schlich er sich nach draußen, um das Städtchen zu erkunden.
Die Sonne hatte eine erbarmungslose Höhe erreicht. Einige Männer genossen den Schatten unter ihren Karren. Kühe mampften. Mehr geschah nicht in der Stunde des Zenits. Kommen Sie! Ein Junge hatte sich an seine Fersen geheftet. Kommen Sie mit! Sie müssen den Richter kennenlernen. Keiner darf diesen Ort verlassen, ohne Richter Ironside kennenzulernen. Am Ärmel wurde Burton durch die lehmigen Gassen gezogen. Der Junge, der neben ihm lief, zupfte immer wieder an seinem Ärmel und prahlte mit den Namen der hohen Herren, die er zum Richter geführt habe. Er zählte ihre Titel bereits zum dritten Mal auf, als sie das Gerichtsgebäude erreichten. Es war von einem Garten umgeben, mit dem sich die Gerechtigkeit vor dem Schmutz der Straße schützte. Der Tschoukidaar am Eingang riß sich am fleckigen Gurt, salutierte mit seiner Linken und gab nichts von sich, außer einem Rinnsal Spucke, das seinen Schnurrbart hinabkroch.
— Vielleicht ist der Herr Richter heute nicht im Dienst?
— Der Richter ist immer anwesend. Wo sollte der Richter sonst sein?
Sie folgten einem Kieselweg, einst elegant mit Sträuchern bepflanzt, die inzwischen jedoch völlig verwildert waren. Der Rasen vor dem Portikus war übersät mit niederkauernden Einheimischen. Zwischen den Säulen kratzten Schreiber geflüsterte Eingaben aufs Papier und stempelten sie mit prüfenden Blicken ab. Der Junge betrat das Gebäude selbstbewußt, ohne um Erlaubnis zu bitten; es war allerdings auch keiner zu sehen, den er hätte fragen können. Unbehelligt passierten sie einige streng dreinblickende Marmorschädel und gelangten in einen Saal, der Burton an eine Basilika erinnerte — die langgezogene Decke endete in einer gewaltigen Kuppel. Einige rotierende Propeller hingen an langen Stengeln herab. Und Vögel, die noch lauter flatterten als die Ventilatoren, unzählige grüne Vögel, die offensichtlich durch die Löcher in der Kuppel hereingeflogen waren. Mitten im Saal, umgeben von Aktenstapeln, Käfigen, Kerzenständern und einem übergroßen Tintenfaß, saß ein Mann mit Perücke, in Akten vertieft. Weitab von seinem Schreibtisch hockten Bittsteller auf ihren Fersen; zwischen ihnen und dem Richter — denn nur um diesen konnte es sich bei dem blassen, ziegenbärtigen Mann handeln — glänzte der Boden. Der Junge schien unsicher, zum ersten Mal. Burton beobachtete die Perücke des Richters, die oberhalb der Stirn von einem Luftzug gekräuselt wurde, über den Ohren hingegen wie ein nasser Lappen herabhing. Der Richter las weiterhin bedächtig. Er bewegte sich nicht; nicht einmal, als ein Kanarienvogel auf seiner rechten Schulter landete. Und auch die Bittsteller blieben reglos stumm, als würden sie diesem fremden Idol ihre Geduld darbieten. Ohne ein Räuspern oder eine Vorrede verkündete der Richter plötzlich sein Urteil. Danach blickte er weder auf, noch entließ er die Wartenden mit einem abschließenden Satz oder einer Geste. In dem aufgestauten Schweigen erhoben sie sich schwerfällig und zogen sich zurück.
— Jetzt!
— Richter-ji! Besuch. Ich bringe Ihnen Besuch, endlich wieder Besuch für Sie.
Während sich die beiden, auf eine einladende Handbewegung des Richters hin, seinem Schreibtisch näherten, wieselte ein kleiner Mann mit Eimer herein, wischte den Boden noch blanker, hielt aber inne, wo vorher die Einheimischen gehockt hatten. Als wäre dort eine unsichtbare Grenze gezogen worden.
— Sie besuchen uns umsonst. Ich fürchte, ich kann Ihnen heute nichts bieten. So unangemeldet. Ein höchst unglücklicher Umstand. Ich hätte durchaus etwas arrangieren können, aber so fällt Ihnen nur die unreine Frucht des Zufalls in den Schoß.
— Ich wußte nicht, was mich in Mhow erwartet. Immerhin haben wir auf dem Herweg die buddhistischen Höhlen besuchen können.
— Haben Sie den Eremiten getroffen?
— Heute war sein Schweigetag. Wir haben uns eine Weile beäugt.
— Meine Rede. Unglückselig. Höchst unglückselig. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Die oberste Maxime von Zivilisation, das habe ich hier begreifen müssen. Die Vögel scheißen auf meine Akten. Glauben Sie an einen Zweck dahinter? Es gelingt mir nicht, sie loszuwerden. Sie werden in diese Käfige gelockt und auf dem Basar verkauft; allerdings lassen sie sich inzwischen schwer absetzen. Übersättigung des Marktes, wissen Sie. Es gelangen zu viele Vögel durch die Löcher. Sie haben keine Ahnung, seit wann ich darauf warte, daß mir eine Renovierung genehmigt wird. Ein Wunder, daß es hier seit Jahren nicht mehr richtig geregnet hat. Gott steht auf der Seite der Gerechtigkeit.
— Justitia ist ihm seine liebste Tochter.
— Mein eigenes System habe ich entwickelt. Mich auf jene Bereiche konzentriert, die ich kontrollieren kann. Wollen Sie wissen, wie?
— Eigentlich wollte ich nur …
— Ich habe mich gefragt: Was stört uns am meisten? Der Schmutz? Ja. Die Aufdringlichkeit? Aber ja. Die Unpünktlichkeit? Und wie! Also habe ich mir vorgenommen, diese Geißeln auszumerzen. Ich habe eine Bannzone eingeführt, die keiner betreten darf. Sie müssen die Unhöflichkeit entschuldigen, aber Ausnahmen offenbaren Schwäche. Ich habe versucht, eine Uniform einzuführen. Das hat es noch nie gegeben, eine Uniform für die Ankläger, eine für die Beschuldigten, eine für die Zeugen. Aber das war zu ambitioniert. Ich habe lange nachgedacht. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß mich die Stimmen dieser Menschen in die Verzweiflung treiben. Dieses schrille Durcheinander, das so klingt, als würden die Wörter ausgewürfelt werden. In den Wahnsinn. Deswegen habe ich jegliches Gerede verboten.
— Die Schreiber vor der Tür …
— Jede Eingabe muß schriftlich erfolgen. Vor dem Gericht wird nicht geredet. Nur das Urteil spricht. Hier herrscht täglich Schweigen. Ich versuche diesen Menschen begreiflich zu machen, wie wichtig es ist, das Reden im Zaum zu halten.
— Eine alte …
— Aber das hat nicht ausgereicht! Es galt, die permanente Unzuverlässigkeit zu unterbinden. Was für eine kolossale Aufgabe. Wie viele sind daran schon gescheitert. Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe ein Zeitreglement eingeführt. Ich halte das für meine allergrößte Errungenschaft.
Mitten im Satz, als der Richter zur Betonung mit dem Kopf genickt hatte, war die Spitze seines Ziegenbartes in das Tintenfaß gerutscht.
— Unser Tag besteht aus halben Stunden. Jeder Angelegenheit widme ich dreiundzwanzig Minuten, so daß mir sieben Minuten Pause bleiben. Sie werden sehen, gleich werden die nächsten auftauchen. Pünktlich wie Big Ben! Wenn sie nämlich zu früh oder zu spät erscheinen, wird ihr Fall nicht behandelt. Kein Einspruch. Sie können sich am Ende der Schlange wieder einreihen!
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