Sie sehen gut aus, sage ich und weiß nicht, was das soll.
Jaja, sagt Magda und streicht sich eine Bleisträhne aus der Stirn. Du bist mir damals, das weißt du gar nicht mehr, sagt sie, und Oma und ich lehnen uns zurück, weil jetzt mit abgewetzter Stimme der Mythos gesungen wird, du bist mir damals in die Umarmung geschritten, zu mir getrippelt ohne fremden Halt, im Gesicht ein Lachen, dein Erobern begann, hallo, große Welt, ich bin jetzt bereit, entzückt warst du von deiner Kraft, das Gleichgewicht hat dich gefunden, hinein in meinen Arm.
Milomir aus dem ersten Stock macht einen starken Kaffee. Im Krieg, sagt er, war meine größte Sorge, ob mich eine Granate oder ein Sniper trifft, heute habe ich so viele Sorgen, dass ich gar nicht weiß, welche meine größte ist. Pockennarbig, arthritisch, eine qualmende Zigarette hinter dem Rücken haltend, verbeugt er sich und küsst zum Abschied die Hand meiner Großmutter. Katarina, sagt er zur Hand, besuch mich bald wieder.
Nach zwei Schlucken kam schon der Kaffeesatz.
Ich habe Listen gemacht. Kneipen, Restaurants, Hotels. Das Restaurant Mündung an der Mündung von Rzav und Drina mit Blick auf beide Flüsse. Ich erinnere mich an den Kuppelbau mit weitläufiger Terrasse, erinnere mich an die seltenen Abende mit Schnakenstichen und dem schläfrigen Quaken der Frösche, wenn wir nur zu dritt, Vater, Mutter und ich, in der Mündung zu Abend aßen und Musiker an unseren Tisch kamen. Vater faltete einen Geldschein und steckte ihn in das Akkordeon, und der Akkordeonspieler grinste und verneigte sich in Richtung meiner Mutter.
Schutt, Steine, Eisenstangen, verrußte Balken und gebrochene Bretter sind mit dem runden Fundament der Mündung zu einem Kranz verflochten, in dessen Mitte ich jetzt stehe, links auf die Drina sehe, rechts auf den Rzav. Unter der Sohle knirschen die Scherben eines Salzstreuers. Die Frösche quaken.
Oma Katarina und ich sitzen im Wohnzimmer und sehen uns» Isabella «an. Ich habe heute so viel Kaffee getrunken, ich zittere und kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder schlafen kann. Die Telenovela heißt eigentlich anders, Isabella ist die schöne, immer ein bisschen leidende, grundgute Protagonistin. Oma verfolgt täglich drei Telenovelas: die um sechzehn Uhr, die um neunzehn Uhr und Isabella um einundzwanzig Uhr. In der Werbepause spritzt sie sich Insulin, ich kann nicht hinsehen. Sie schiebt ihre Bluse hoch und erzählt von einer Bombe, die unter dem Tisch eines frisch vermählten Paares explodierte, als der Bräutigam die Torte anschnitt. Die Braut und der Hund, der unter dem Tisch an den Füßen des Bräutigams schlief, kamen dabei ums Leben. Dem Hund zimmerte man einen kleinen goldenen Sarg und warf ihn in die Drina. Die Braut beerdigte man in ihrem Hochzeitskleid, aber ohne die Schuhe, denn die waren nur ausgeliehen.
Oma spritzt sich Insulin und atmet laut durch den Mund. Ich kann nicht hinsehen. Ich kann nicht hinhören. Je mehr Geschichten ich kenne, sage ich und stelle den Fernseher lauter, desto weniger kenne ich mich aus.
Oma sieht geradeaus zum Fernseher. Isabella, sagt sie und presst Zeige- und Mittelfinger an den Einstich, darf ihrer Stiefmutter nicht so blind vertrauen.
Man müsste, schreibe ich später in das Als-alles-gut-war-Buch, das ich Oma vor meiner Abfahrt zurückschenken werde, man müsste einen ehrlichen Hobel erfinden, der von den Geschichten die Lüge abraspeln kann und von den Erinnerungen den Trug. Ich bin ein Spänesammler.
Ich habe Listen gemacht. Herr Musikprofessor Popović. Ich klingle an der Tür im vierten Stock, seine Ehefrau Lena macht auf, eine aufwändig gekleidete Dame, das Haar hochgesteckt, goldene Ohrringe und Moschusduft, sie ist ausgehfertig, sie geht nirgendwohin. Ich brauche ihr nichts zu erklären, Katarina, sagt sie und lächelt, hat mir erzählt, dass Sie in der Stadt sind. Kommen Sie!
Herr Popović schaltet den Fernseher aus und erhebt sich, als ich das Wohnzimmer betrete. Er sieht mich neugierig an und reicht mir die Hand. Erst als mich seine Frau vorstellt, erinnert er sich an mich: Aleksandar! Das ist ja eine Überraschung! Nimm Platz, mein Sohn, nimm Platz. Ehrlich gesagt, ich hätte dich fast nicht erkannt.
Wir setzen uns an einen niedrigen Glastisch. Frau Popović verschwindet in der Küche und serviert uns eine Minute später einen übervollen Käseteller, dazu für mich ein Bier, für ihren Mann Wasser und zwei rote Pillen auf einem Silbertablett.
Ja, sagt Herr Popović, ich erinnere mich. In der Studienzeit war ich ja mit deinem Großvater befreundet, später dann auch politisch. Slavko war ein begnadeter Redner, seine Ideen verstanden nur wenige in der Partei, und beinahe niemand hieß sie gut. Es waren also ganz ausgezeichnete Ideen.
Ich nicke und genieße die tiefe, bedächtige Stimme des alten Mannes, seine Unaufgeregtheit, ich sehe in seine hellen Augen, die groß werden, wenn er spricht. Seine Frau setzt sich uns gegenüber, faltet die Hände im Schoß und mustert ihn aufmerksam, als sei er der Gast.
Ohne Slavkos Einsatz, setzt Herr Popović seine kleine Rede fort, wäre zum Beispiel die Stadtbibliothek niemals erweitert worden, und bis heute profitieren die Schulen, ja die ganze Stadt profitiert davon. Wie lange ist das wohl schon her …
Ich spieße einen Käsewürfel auf den Zahnstocher, der Käse ist sehr kalt und schmeckt nach Paprika. In der Wohnung stehen blumenverzierte Schränke und Kommoden, eine große Jugendstil-Lampe, ein Schreibpult aus dunklem Holz, darüber Titos Porträt. Notenbücher und Schallplatten in Regalen, auf dem Boden, überall. In der Ecke das Klavier, daneben ein Grammofon. Ich sehe wieder zu Herrn Popović, er hat die Augen zusammengekniffen und streckt mir die Hand entgegen. Professor Petar Popović, und Sie sind?
Bitte?
Frau Popović räuspert sich. Petar, sagt sie, das ist Aleksandar, Slavkos Enkelsohn.
Slavko Krsmanović? ruft Herr Popović und seine Gesichtszüge erhellen sich, das ist ja eine schöne Überraschung! Sie haben sich ganz schön verändert, Aleksandar! Wissen Sie, Ihr Großvater kam häufig mit Ihnen bei uns vorbei. Wir verstanden uns sehr gut, der Višegrader Cicero und ich. Sie waren da gerade mal … also ich schätze Sie höchstens auf … Herr Popović wird erneut nachdenklich, legt die Hand unter das Kinn. Ich sehe zu seiner Frau, die immer noch lächelt. Es fällt dir ein, Petar, sagt sie leise, es fällt dir ein, nur langsam.
Herr Popović zieht die Augenbrauen zusammen. Lena, sagt er zu seiner Frau, wer ist der Herr?
Aleksandar Krsmanović, übernehme ich dieses Mal, stehe auf und gebe dem alten Mann im grauen Pullunder und mit den akkurat gescheitelten Haaren ein weiteres Mal die Hand. Ich besuche meine Großmutter. Sie haben mir einmal ein Musiklexikon zum Geburtstag geschenkt.
Herr Popović lacht, steht ebenfalls auf und nimmt meine Hand herzlich fest zwischen seine beiden. Natürlich, ruft er, das Lexikon der Weltmusik! Sie sind Slavkos Enkelsohn! Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich, Lena, holst du uns bitte Bier, Sie trinken doch Bier?
Gern, sage ich, und Herr Popović blickt mich freundlich an, ein lächelnder Herr zwischen Schallplatten und Notenbüchern. Opa Slavko hatte immer sein Klavierspiel gelobt und ihn als den einzig wahren Intellektuellen der Stadt bezeichnet. Nachdem seine Frau in der Küche verschwunden ist, drückt Herr Popović meine Hand fester und flüstert vertraulich: mein ganzes Leben lang gehe ich mit der Schönheit und der Liebenswürdigkeit meiner Frau so leichtsinnig um wie sonst nur mit der Geschichte und dem Tod.
Herr Popović trinkt einen Schluck Wasser und betrachtet sein Glas aus nächster Nähe, es beschlägt. Herr Popović knöpft die Hemdsärmel auf. Sind nicht echt, sagt er und zeigt auf die goldenen Manschettenknöpfe mit silbernem Violinschlüssel.
Seine schöne Liebenswürdige kommt mit den Bieren zurück ins Wohnzimmer und sieht gerade noch, wie mir ihr Mann die Hand entgegenstreckt und sagt: Petar Popović, mit wem habe ich die Ehre?
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