Dann brach der Krieg aus, und Hanifa floh nach Österreich und studierte Design.
Dann brach der Krieg aus und der Torwart, gegen den Kiko gewettet hatte, saß in der türkischen zweiten Liga auf der Bank. Er wurde einmal eingewechselt, als sich die Nummer Eins verletzte, und hielt in der Nachspielzeit einen Elfmeter.
Dann brach der Krieg aus und ein sehr populärer Volkssänger gab ein Konzert für die Soldaten, die Verwundeten und die Politiker. Man verlangte Eintritt, und die Verwundeten sagten später, das sei ein Scheißkonzert gewesen: nachdem sie den Eintritt bezahlt hätten, sei vom Geld nichts für das Bier übrig geblieben, und von den Politikern ließen sie sich bestimmt nicht einladen.
Kikos Sohn Milan setzt sich zu mir und zeigt mir einen sehr großen Popel. Hastdu Schokolade? fragt er.
Gehst du in den Kindergarten? frage ich ihn.
Hanifa war die Erste, die ich in Sarajevo angesprochen habe, und die Erste überhaupt, die ich geküsst habe, sagt Kiko und geht nach nebenan, Fotos von dem Kuss holen.
Ich werde auch die Letzte sein, verstanden? ruft sie ihm hinterher.
Nicht, wenn uns das nächste eine Tochter wird! antwortet Kiko und bringt die Fotoalben. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Dachte, ich könnte es so hinbiegen, dass ich in der Stadt bleibe. Zwei Jahre gings gut. Dann wurde ich auf den Igman geschickt. Man hat uns gesagt: vom Igman hängt das Schicksal Sarajevos ab. Den Ball hatte ich immer dabei. Immer.
Hastdu Bombons?
Kiko legt das Album vor mir auf den Tisch und geht neben Hanifa in eine Art Hocke, was mit einem Bein grotesk aussieht — ich denke wirklich: grotesk, obwohl ich gleichzeitig denke, so einen Gedanken nicht zulassen zu dürfen.
Dann brach der Krieg aus und niemand nannte ihn Krieg. Das, sagte man. Oder Scheiße. Oder Gleichvorbei, als würde man einem Kind den Anblick einer Spritze erleichtern wollen. Zu Hanifa sagte Kiko: geh du, und sie sagte: ich komme zurück, wenn das vorbei ist. Hoffentlich ist die Scheiße gleich vorbei, dachte sich Kiko und wurde auf den Igman beordert.
Da oben war ich also, in der schlimmsten Vukojebina, die man sich vorstellen kann. Kiko zeigt mir im Fotoalbum die schöne Hanifa auf dem Rücksitz eines Mofas. Vorne sitzt er selbst, ohne Helm. Das war im Herbst einundneunzig, sagt er. Mein Mofa! Mein Glück!
Er blättert um. Milan quengelt, reibt sich die Augen.
Hanifa sagt: ich habe ein bisschen Deutsch gelernt, in den drei Jahren Graz. Aber Vukojebina könnte ich nicht übersetzen. Kennst du Vukojebina?
Wo Wölfe … miteinander …, sage ich vorsichtig mit dem Blick auf Milan.
Hinter Gottes Füßen, ruft Kiko dazwischen, ich habe gesehen, wie sich da ein Pferd in eine Schlucht gestürzt hat, weil es keine Kraft mehr hatte, unsere Artillerie den Berg hinab-, hinaufzuschleppen, über Wege, die keine Wege sind. Umgebracht hat es sich … Kiko blättert gedankenverloren um. Man sieht ihn neben einem Riesen von einem Mann stehen. Der Riese trägt eine Latzhose und eine Mütze, die auf seinem massigen Kopf verloren wirkt. Sie sind beide bewaffnet. Kiko trägt eine Lilie der bosniakischen Armee an der Brusttasche, der große Mann die Kokarde mit dem serbischen Doppeladler an der Mütze. Sie haben einander den Arm über die Schulter gelegt und sehen verbissen geradeaus. Verbissen türmen sich auch die kargen Felsen hinter ihnen auf.
Wer ist das? fragt Kiko seinen Sohn und zeigt auf die Latzhose. Der Kleine steckt sich die halbe Faust in den Mund. Milan, wer ist das? wiederholt Kiko.
Čika Mikimaus! jauchzt Milan wie über jemanden, der immer, wenn er vorbeikommt, Schokolade und Bonbons mitbringt, und Hanifa sagt: Vukojebina, das kann man eigentlich nicht übersetzen.
Soll man auch nicht. Kiko nimmt Milan auf den Schoß. Einen solchen Ort darf keine andere Sprache als unsere beschreiben können, sagt er.
Der Soldat neben Kiko hat den Mund geöffnet, als schnappe er nach Luft. Wie kam es zu dem Foto? frage ich.
Eine Waffenruhe. Das neben mir, das ist Milan Jevrić, sagt Kiko, und sein Sohn ruft: Mikimaus! Kiko küsst ihn auf den Hinterkopf. Mein Milan trägt wegen ihm einen serbischen Namen. Kiko blättert weiter. Ein Foto von ihm in einem Schützengraben, knöcheltief im trüben Wasser. Igman, hinter Gottes Füßen, sagt er und blättert um. Der mit dem grünen Barett, das ist Meho. Ein Wahnsinniger. Wahnsinnig, weil er ein zu großes Herz hatte. Und hier teile ich Zigaretten an die Gefangenen aus. Das sind Hanifa und ich in Mostar. Mein Milan nach der Geburt, dreieinhalb Kilo. Wir müssen mal die Fotos sortieren, sagt Kiko und blättert, und auf dem letzten ist ein Ball zu sehen, ein zerschlissener Fußball im hohen Gras.
Ich steige in den 13-Uhr-Bus nach Višegrad. Drei andere Männer haben bereits Platz genommen, einer liest Zeitung, einer schläft, einer sieht mich an. Ich setze mich in die letzte Reihe, die Sitze sind braun und gelb gemustert, die Kopflehnen glänzen fettig. Es wird 13.00 Uhr. Es wird 13.05 Uhr. Vor der Tür raucht ein Mann mit lichtem Haar und Falten unter den Augen eine Zigarette, dann noch eine, nach der dritten steigt er ein und setzt sich ans Steuer. Kurz bevor der Motor anspringt, seufzt der Bus. Ich kann ihn verstehen, er hat es in seinem Alter nicht leicht auf diesen Straßen, ich schlafe, den Kopf am vibrierenden Fenster, ein.
Die Drina weckt mich. Ich schlage die Augen auf, als der Bus in einer kleinen Ortschaft, deren Name mir nicht einfallen will, auf die Straße biegt, die parallel zum Fluss bis nach Višegrad führt. Zahlreiche Tunnels kappen immer wieder das Tageslicht, nur wenige sind beleuchtet. Ich ziehe auf die rechte Fensterseite um, links schichten sich klotzige Felsen auf, dünn bemoost und spärlich von abgezehrten Pflanzen bewachsen. Rechts: mein Fluss. Ich bestätige mir den Gedanken — mein Fluss, die warmgrüne Drina, gefasst und makellos sauber. Die Angler, die Klippen, die Abstufungen von Grün.
Wir nähern uns der Stadt auf der kurvigen Straße, vorbei am Staudamm, in dessen Nähe Nester aus Treibholz und Plastik treiben. Das Tal weitet sich, gleich wird man die Brücke sehen können. Meister, kannst du hier mal halten, ruft ein junger Mann, der unterwegs zugestiegen sein muss, und der Bus ächzt.
Als hinter einer engen Kurve der Blick auf die Brücke frei wird, bin ich überrascht, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, alles so vorzufinden, wie es immer war. Dem Reflex, die Bögen zu zählen, widerstehe ich, sie ist komplett. Der Fahrer schiebt eine Kassette ein, und ich muss an Walross denken, und an mein Versprechen, niemals eine Kassette zu erschießen. Es läuft Madonna.
Eh, Boris, alle Ehre, aber muss das jedes Mal sein? fragt der Mann mit der Zeitung. Der Fahrer dreht lauter, like a virgin, singt er und tippt mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad.
Der Busbahnhof kommt mir viel kleiner vor als früher, aber genauso schäbig. Boris steuert eine der fünf Parkinseln an, abseits parken vier heruntergekommene Busse, darunter — ich erkenne ihn sofort — der Centrotrans-Bus, mit dem Walross halb Jugoslawien befahren hat. Die Karosserie verwahrlost, der Rost fletscht die Zähne, graues Unkraut wuchert von innen durch die Fenster, belegt die Felgen. Ich steige als Letzter aus, wohin, junger Mann? ruft Boris, aber ich tue, als sei ich nicht gemeint und betrete den kleinen Warteraum im Bahnhofsgebäude. Die Tür existiert nicht mehr, Uringeruch steigt mir in die Nase, der Ticketschalter ist verlassen, die Wandfarbe, etwas zwischen Beige und Gelb, blättert ab. Hallo? rufe ich hinein, es hallt. Ich möchte Armin begrüßen, den Stationsvorsteher mit dem unbeherrschten Bein, er steht auf einer meiner Listen. Ist er überhaupt in der Stadt? War Armin Muslim?
Wen suchst du? Boris steht hinter mir, raucht, eine Hand spielt mit dem Schlüssel in seiner Hosentasche.
Armin, den Stationsvorsteher, sage ich und wende mich zum Gehen, aber Boris versperrt mir den Weg, nimmt einen Zug von seiner Zigarette und sagt: einen Armin hat es hier nie gegeben.
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