Weißt du, Asija, ich habe mir keine Mühe gegeben. Ich habe mir all die Zeit keine Mühe gegeben, nachzufragen oder überhaupt zu fragen, was meine Eltern denken oder was sie wollen oder wie ich helfen kann, damit es uns hier besser geht. Es war mir peinlich, zu ihren Vorstellungsgesprächen mitzugehen, es war mir peinlich, die an sie gestellte Frage zu übersetzen: wie gut ist Ihr Deutsch? Für meine taubstumme Nena Fatima habe ich mich nie geschämt, obwohl sie bei Witzen lachte und im Schlaf redete. Sie hatte hier mehr Freundinnen, als ich jemals Freunde haben werde. Sie hörte ihnen zu, wenn sie sich unterhielten, wurde um Meinung gefragt, nickte oder schüttelte den Kopf. Dann saß sie aber auf dem Bürgersteig vor dem Haus und hat sich die Zehennägel geschnitten. Über Florida hat sie sich am allermeisten gefreut. Sie steht früh auf und schwimmt im Swimming-Pool der Nachbarn jeden Tag eine Bahn mehr.
Ich wünschte mir manchmal, dass man mich» Alexander «schreibt und oft, dass man mich einfach in Ruhe lässt. Lange Zeit dachte ich, dass ich meine Pubertät nur spiele, damit sich meine Eltern keine Sorgen machen. Irgendwann wollte ich aber wirklich keinen Krieg mehr sehen und von keinem Leiden mehr etwas wissen, von keiner Flucht.
Heute ist 1. Mai, und Oma Katarina möchte mir ein Paket aus Višegrad schicken. Oma Katarina möchte mir immer am 1. Mai ein Paket schicken. Fotos von Tito, Opas Reden und Orden, meine Pionieruniform. Oma erzählt mir jedes Jahr um diese Zeit, dass ich die Uniform besonders gern an kirchlichen Feiertagen getragen habe, ganze Passagen aus dem» Kapital «auswendig konnte und ihre Bedeutung verstanden habe.
Und mein Vater kauft sich jetzt Kautabak und sagt: Kokosnüsse! sagt: ich bin der erste Bosnier, der weiß, wie Kautabak funktioniert, und Mutter sagt: die Jacksonville Jaguars haben diese Saison ein gutes Team. Abends werden andere Bosnier eingeladen. Mothermade Ćevapčići und Supermarkt-Hamburger werden auf der Veranda gegrillt, und die Grillen zirpen, der Asphalt kühlt ab und riecht nach Zimt. Ein gewisser Dino Safirović erzählt, wie er mit seiner Truppe gegen die Serben Fußball zwischen den Schützengräben gespielt hat, wie er den entscheidenden Schuss mit dem Gesicht gehalten hat, seitdem aber keine Verschlusslaute mehr bilden kann. Er erzählt, wie er in einem hohlen Baumstamm Feuer machen wollte, in dem eine Handgranate lag, und meine Mutter sagt, dass sie mich vermisst. Sie kauft slowenischen Wein, und Vater ist der Meinung, unsere Grillen würden den amerikanischen den Arsch versohlen.
Asija, ich wollte deinen Namen im Internet suchen und dabei ist mir aufgefallen, dass ich deinen Nachnamen gar nicht sicher weiß, obwohl ich ihn immer so selbstverständlich auf die Umschläge schrieb. Ich las seitenweise Vermisstenlisten, Asija kam zweimal vor, das hat nichts zu heißen. Ich fand immerhin heraus, was dein Name bedeutet.
Wenn ich nach meinem eigenen Namen suche, bekomme ich einen Treffer.»Sommernachtstraum «im Schultheater. Ich habe Puck gespielt. Puck ist ein Elf, dem sein König den Auftrag erteilt, ihm eine Blume zu bringen, deren Nektar auf den Augen eines Schlafenden dafür sorgt, dass der sich in die erste lebende Kreatur verliebt, die er sieht. Keine so tolle Geschichte, aber Puck kann zaubern. Zwischendrin wird jeder mal geliebt, sogar einer mit einem Eselskopf, und alles darf ein Traum sein, wenn das Publikum es am Ende so beschließt. Asija, ich kann Nazis weismachen, dass ich aus Bayern bin, ich sage: stamme. Ich kann mich auf Kosten der Friesen amüsieren, die sind so ein bisschen wie die Montenegriner bei uns — wenn ihr Reißverschluss heute nicht offen ist, pinkeln sie halt morgen. Ich freue mich für fünf Nationalmannschaften. Wenn jemand sagt, ich sei ein gelungenes Beispiel für Integration, könnte ich ausflippen.
Asiya (Asija) w.
Als arab. Name: heilend, pflegend; Friedensstifterin.
Nach der Überlieferung der Name der gläubigen Frau des Pharaos, die Moses aus dem Nil rettete.
Mein Vater fragt, ob ich wüsste, dass jährlich mehr Menschen von Kokosnüssen getötet werden als von Haien. Coconuts are murderers, sagt er.
Ich beschließe, alles geträumt zu haben.
Herzliche Grüße,
Aleksandar.
Aleksandar, ich möchte das Paket unbedingt — dir — schicken
Habe es allein — für dich — gepackt. Karl und Friedrich und Clara und Tito. Die ganze Bande ist drin. Erinnerst du dich? Du mochtest Karl. Slavkos Parteibuch möchte ich unbedingt dir schicken. Seine Festreden. Seine Aufsätze. Was für eine malerische Handschrift dein Opa hatte! Großbuchstaben wie Ranken! Niemand schreibt ja mehr mit der Hand. Bestimmt tippst auch du alles mit einer Schreibmaschine. Unanständig ist das! Wie soll man durch eine Maschine erfahren, mit wem man es zu tun hat? Oder willst du etwa nur den Lippenstift deines Mädchens küssen? Zeitungsartikel über Opa möchte ich unbedingt — dir — schicken! Du hast auf seinem Schoß gesessen und mit ihm Kreuzworträtsel gelöst! Ach, Slavko und seine Kreuzworträtsel! Was noch? Fotos von Vladimir Iljitsch, Fotos von Tito bekommst unbedingt du. Was ist das hier?» Die Aufgaben der revolutionären Jugend«? Ja, wunderbar! Du bist die Jugend! Ach, die Handschrift deines Opas in den Kreuzworträtseln! Ach, Titos Uniform und wie gut wir es damals hatten, wir Schafe! Ich mochte das ganze Theater drum herum nicht leiden. Meinen Slavko habe ich doch nicht wegen seiner Tagungsprotokolle und seiner Referate geheiratet. Politik umarmt miserabel! Was soll ich noch mit Arbeiterliedern und Clara-Zetkin-Briefmarken und mit Flugzetteln, die erklären, wie man sich zu verhalten hat, wenn Tito in die Stadt kommt? Punkt eins: Schmücken wir unsere Terrassen und stellen wir so viele Grünpflanzen wie möglich aus! Nehmen wir alles andere außer den Grünpflanzen, zum Beispiel Unterhosen, Bettwäsche etc., von den Terrassen! Ja wo gibt es denn so was! Der ist auch gut, Punkt vier: Jeder soll mindestens eine Blume mitbringen, die auf die Straße zu werfen ist, und zwar hundert Meter vor dem ersten Wagen in Titos Kolonne. Auf den Wagen vom Genossen Tito darf auf keinen Fall etwas geworfen werden. Aleksandar, ich habe das alles nie gebraucht und du hast doch bestimmt immer noch Ambitionen dieser Art. Slavko und du seid zwar niemals über das Warenkapitel im» Kapital «hinausgekommen, ohne beide einzunicken, aber du hast daraus ganze Passagen auswendig zitiert. Und deine blaue Mütze und das rote Halstuch hast du sogar dann freiwillig getragen, wenn kein Feiertag war. Auch dann noch, als die Pionieruniform gar nicht mehr Pflicht war, Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie es dein Opa immer getan hat. Beim Abschlussfest in der vierten Klasse warst du der Fahnenträger. Die halbe Schule ist hinter dir und der Roten Fahne marschiert. Deine Ohren haben vor Glück und Aufregung geglüht. Die Fahne war riesig. In einer Marschpause wurde ein Gedicht über die Stirn von irgendeinem Kommandanten aufgesagt, da hast du dich hingesetzt und die Fahne auf dem Boden abgelegt. Es gibt ein Foto, wie du dich vor der Fahne ausruhst. Das Foto möchte ich unbedingt — dir — schicken. Sag mal, öffnen die Deutschen immer noch alle Pakete aus Jugoslawien? Überwachen sie uns immer noch? Ich möchte dich nicht in die unangenehme Lage bringen, erklären zu müssen, wozu du das Material brauchst. Slavko sollte eine Rede beim neunten Kongress des BdKJ halten. Neunzehnsiebzig war das und keine kleine Sache. Es ist dann aber leider kein Referent krank geworden. Diese Rede möchte ich unbedingt — dir — schicken. Die Rolle und die Perspektiven von Ehe und Familie im Proletariat! Ach, Slavko und seine Perspektiven! Die Mutterfrage! Die Erziehungsfrage! Die sexuelle Frage! Hochaktuell! Slavko war empört über die Tugendheuchelei der Bourgeoisie! Und ich … ich war seine stolze Genossin! Ach, mein Slavko … Aleksandar, wann heiratest du endlich?
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