Mein Hass ist endlos, Aleksandar. Auch wenn ich die Augen schließe, ist alles da.
Liebe Asija, Onkel Miki lebt! Er ist endlich wieder zu Hause in Višegrad, er wohnt sogar in unserem Haus. Drei Jahre wusste niemand, was mit ihm war, dann schickte er einen Brief an Oma. Ihm gehe es gut, er wolle bald zurück, las uns Oma den Brief am Telefon vor. Zurück von wo, stand nicht darin. Oma erzählte, Leute hätten Miki schon ’92 in Višegrad gesehen.
Im Hotel Bikavac? hob Vater die Stimme, auf keinen Fall!
Über Oma Katarina und die Telefonate mit ihr schüttelt niemand mehr den Kopf. Vater sagte einmal in den Hörer: ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht. Er presste seine Lippen zusammen und griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Oma kennt keine Gegenwart mehr und hat für jeden von uns eine eigene Vergangenheit. Ich zahle den Kredit zurück, erklärt sie, den mir die Zeit gewährt hat. Jeden ereilt seine Vergangenheit in der Omaversion. Vor einem halben Jahr stellte man bei ihr astronomische Zuckerwerte fest, und die Insulin-Behandlung verwandelte ihr Leben in eine Achterbahnfahrt. Den Tagen, an denen sie am Telefon bekümmert und nachdenklich klingt, folgen aufgedrehte Anrufe bei der ganzen Verwandtschaft. Tante Taifun meint, wir würden übertreiben und alles viel zu ernst nehmen, es sei doch nett, zu erfahren, wie man früher gewesen sei. Seit Tante Taifun auch einen Anruf von Oma bekommen hat, sagt sie zu dem Thema nichts mehr.
Gestern gab es ein Fest. Onkel Bora nannte es» Die Dayton-Flaschensitzung «und schrieb eine Rede voller Witze über Krieg, Frieden, Vegetarier und mein langes Haar. Ich kann mir schon einen Zopf machen. Mein Vater sagte: Witze über Dayton braucht man nicht zu machen, Dayton ist der größte Witz. Ein Friedensabkommen, das die ethnische Säuberung politisch akkreditiert! Vater wird sein Leben lang fast alles sagen und fast nie etwas tun. Da sind wir uns sehr ähnlich, er und ich, bloß sage ich etwas mehr als er und tue noch etwas weniger.
Ich stelle mir vor, dass die Freude über den Frieden bei euch noch viel größer ist. Wenn ich ehrlich bin: ich freue mich zwar auch sehr, aber jetzt habe ich Angst, was mit uns passiert. Es sieht so aus, als müssten wir zurück nach Bosnien. Ich möchte aber nicht in die Stadt zurück, aus der man alle vertrieben hat. Nicht zurückzuwollen, ist die einzige Sache, in der meine Eltern und ich einer Meinung sind. Als sie sich mit Onkel und Tante darüber unterhielten und Mutter sagte, eher krepiere ich, als den Mördern in die Augen zu sehen, stand Nena Fatima auf, schrieb» danke und auf wiedersehen «auf das Dekolletee der» TV Spielfilm«-Frau, riss das Blatt ab und klebte es sich auf die Stirn.
Nena Fatima trägt ihr Kopftuch nur noch, wenn es draußen nieselt, und in Essen nieselt es immer. Sie hat einen Riesengarten mitten im Innenhof angelegt. Tomaten und Gurken und Paprika. Der Hausmeister war da und mit ihm die Polizei, sie sahen sich Nenas Garten an, und wir sind alle auf die Anzeige gespannt. Nena Fatima ist der einzige Mensch in der Familie, mit dem ich zurechtkomme. In den Garten kacken die ganzen Terrier von unseren Nachbarn rein, und ich esse jetzt gar keinen Salat mehr.
Ich saß mit Nena im Garten, als sie mir ihr Geheimnis gab. Sie griff unter ihr Kopftuch und legte einen lapprigen, eingerissenen Zettel zwischen uns. Sie reichte mir einen Kamm und drehte sich um. Nenas langes Haar. Ich kämmte es. Als ich fertig war, stand sie auf und ließ den Zettel da.
Viele liebe Grüße,
Aleksandar.
Ich will reden wieder reden ich will reden wieder reden aber einen grund brauch ich soll ein guter grund sein das ist so
ich will alles sehen
auch im grab will ich weitersehen am liebsten auch im schlaf ich will einen guten grund nichts zu sehen tod ist kein guter grund ich will sehen was ich koche
ich will in die welt will ich
der mistkrieg kommt mir grad recht
mit meinem mann mit dem rafik das war ja nix
der hat seinen gekrümmten rücken im kopf getragen sein ganzes leben war gekrümmt und geduckt das war ja nix ich will jetzt noch ein bisschen jung sein so alt bin ich nicht mit dem rafik konnt ich nur alt sein musst zuhause bleiben der hat gearbeitet und ich war daheim und er wollt nicht dass männer sehen wie schön ich mein haar hab
ich will immer schönes haar das braucht pflege
ich will in die welt raus und deswegen bin ich raus von rafik weil er prinzipien hatte von drina bis china
ich will freundlich sein
ich will eine unmaskierte sonne aber wer kann schon wolken aufhalten
wär ich zauberer wie du wär das anders mit dem regen und dem fortschritt und den vulkanen und megdan würde feuer spucken ganz andere sorgen hätten wir als jetzt
ich will euch noch ein bisschen nützlich sein aber mir mehr
ich will nicht immer zu jedem gut sein lieber warte ich
ich will wissen wie du mit zwanzig bist und was du weißt so alt war dein opa als ich ihn heiraten musste
in meinem dorf stand ein walnussbaum unter dem hat es im sommer so oft geschneit wie es unverheiratete mädchen gab ich will einen anderen mann finden oder auch nicht
ich will nie wieder vieh hüten und keine höflichen vögel
ich will einmal auf etwas stolz sein das ich zerbrochen hab
ich will nicht an einsamkeit sterben oder an schuld oder an einer fischgräte oder an einem fluss ich will beim sterben das gefühl haben ganz viel schmuck zu tragen das ist so
ich will einmal fliegen und einmal auf einen vulkan steigen und da einen stein reinwerfen.
nena fatima
Liebe Asija, entschuldige, dass ich dir so lange nicht geschrieben habe. Bekommst du überhaupt meine Briefe? Gibt es dich? Ich schreibe weiter, ich bin in letzter Zeit ohnehin viel allein, mache mir aber nichts aus.
Meine Eltern leben seit einem Jahr in den USA. In Florida. Für immer, erst mal. Vater hat eine Kokosnuss gepflückt und seit sieben Jahren wieder das erste Bild gemalt. Er nennt es» Selbstporträt mit Coconut «und die gewählten Farben ein Duett von Ocker und Braun auf sattgrüner Sommerwiese. Mutter fing in einer Anwaltskanzlei an, sie meint, das sei nicht schwer, die Gesetze seien viel übersichtlicher als bei uns. Sie hat sich Schlittschuhe gekauft, fährt jeden Sonntag zur Eishalle und möchte ein Footballspiel im Stadion sehen, ohne meinen Vater. Sie findet, die Spielerhosen sitzen so gut.
Wenn sie nicht ausgewandert wären, hätte man sie nach Bosnien zurückgeschickt. Freiwillige Rückkehr nennt sich das. Ich finde, etwas Verordnetes kann nicht freiwillig sein und eine Rückkehr keine Rückkehr, wenn es sich um einen Ort handelt, dem die Hälfte der ehemaligen Bewohner fehlt. Das ist ein neuer Ort, dahin kehrt man nicht zurück, da fährt man zum ersten Mal hin. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, in Bosnien zur Schule zu gehen. Ich sehe nur mein altes Klassenzimmer und Edin in der Bank hinter mir. Titos Bild hängt noch an der Wand. Wegen der Schule durfte ich hier bleiben, meine Eltern fanden es sinnvoll, dass ich das Abitur in Deutschland mache. Mutter schrieb mir elf Rezepte auf, zehn einfache und das Pflaumenhackfleischschnitzel. Sie erklärte mir, was Kochwäsche ist.
Das letzte Jahr in Essen ging es uns etwas besser. Mutter kündigte eines Morgens einfach in der Wäscherei. Sie meldete sich für einen Deutschkurs an, lernte drei Monate lang jeden Tag. Danach schrieb sie siebzig Bewerbungen. Bei der einundsiebzigsten erwähnte sie nicht, dass sie Bosnierin ist und bekam einen Job als Kassiererin.
Mit Vater sprach ich hier so selten, dass ich manchmal überrascht war, wenn ich meinen Namen in seiner Stimme hörte. Mutter war krank, dann gesund geworden, Vater still, dann älter geworden und jetzt sitzt er in der Sonne, malt wieder Stillleben und verkauft sie sogar.
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