Nina scheint aber wild entschlossen, den Lärm zu ignorieren. Sie geht zum Fernseher und stellt ihn noch ein bisschen lauter. Für Herrn Beck und mich ist das allerdings keine Alternative, denn nun sind wir wie eingeklemmt zwischen dem Lärm des Fernsehers und dem von oben. Ein kurzer Blickkontakt, und wir sind uns einig: Das geht so nicht!
Wir verziehen uns also in den Flur. Hier ist es aber leider auch nicht wesentlich ruhiger, denn offenbar bekommt der Herr Obermieter heute sehr viel Besuch. Auf der Treppe herrscht jedenfalls reger Verkehr, Menschen traben zu seiner Wohnung, und viele von ihnen müssen sehr seltsames Schuhwerk anhaben, denn die Schritte klingen gar nicht wie Schritte, sondern wie ein schnelles Klackern.
Da! Schon wieder! Klack klack, klack klack! Die Klingel schrillt, dann lautes Hallo an der Tür, Musik schwappt in den Hausflur. Nervig. Ob es in Ninas Schlafzimmer ruhiger ist? Und ob Beck und ich da ausnahmsweise reindürfen? Beck schaut mich leidend an.
»Warum sind Menschen bloß so furchtbar laut? Jedes vernünftige Tier kann auch im Stillen seinen Spaß haben. Aber nein, wenn die Zweibeiner eine Party feiern, dann geht das nicht ohne Höllenlärm.«
Aha. Eine Party. Interessant. Ich habe zwar schon davon gehört. Luisa wollte doch eine Pyjamaparty machen, und Marc und Carolin reden in letzter Zeit häufiger davon, dass nun mal eine Einweihungsparty anstünde. Was genau das ist, weiß ich allerdings nicht.
»Was machen Menschen denn bei einer Party?«, will ich von Beck wissen.
»Du hörst es doch selbst. Sie machen Krach.«
»Aber sie werden sicherlich noch irgendetwas anderes machen, oder? Die treffen sich doch nicht nur, um gemeinsam laut zu sein.«
»Na ja, sie hören laute Musik, sie tanzen, sie reden, natürlich trinken sie Alkohol. Manchmal küssen sie sich, auch wenn sie sich vor der Party noch gar nicht kannten. Also, mit Zunge meine ich. Nicht nur das Begrüßungsküsschen. So Zeug eben.«
Hm. So Zeug eben . Mit Zunge küssen, obwohl man sich nicht kennt. Als mir Beck vor langer Zeit erklärte, dass die Menschen ihre Zunge ab und zu auch für etwas anderes brauchen, als Worte zu formen, war ich sehr überrascht. Ich meine, mir als Hund muss man nicht sagen, wie schön es ist, jemanden abzuschlecken. Das weiß ich. Aber dass Menschen im Grunde ihres Herzens genauso denken, hätte ich nicht gedacht. Bis eben Beck mir das erläuterte.
Allerdings war ich bisher davon ausgegangen, dass Menschen nur solche anderen Menschen abschlecken, die sie wirklich gut kennen. Stattdessen auch Fremde? Das ist nach meiner Kenntnis vom menschlichen Paarungsverhalten nun in der Tat ungewöhnlich. Aus diesem ganzen Kennenlernzeug vor der Paarung wird doch sonst eine Riesensache gemacht. Wie lange das allein gedauert hat, bis Marc endlich Carolin das erste Mal geküsst hat – also, mit einer einzigen Party war es da nicht getan. Nein, der Arme musste sich wochenlang Mühe geben. Alles in allem klingt das so, als sollte man sich die Party oben mal ansehen.
Meine Chance dazu ergibt sich schneller als erwartet. Denn noch bevor ich meinen letzten Gedanken zum Thema Lärm, Küssen und Party richtig zu Ende gedacht habe, kommt Nina aus dem Wohnzimmer. Sehr entschlossen stapft sie zur Wohnungstür – mir ist sofort klar, wo sie hin will: nach oben, sich beschweren. Ich hefte mich also an ihre Fersen, Beck tut es mir gleich. Und Nina ist offenbar so wütend, dass sie gar nicht bemerkt, dass ihr eine kleine Eskorte die Treppe hoch folgt.
Oben angekommen, klingelt sie kurz. Als nicht sofort geöffnet wird, klopft sie sehr entschlossen mit der Faust gegen die Tür. Das gleiche Spiel wie neulich: Die Tür öffnet sich, dahinter der junge Mann mit den hellen Haaren. Die sind heute allerdings nicht so verwuschelt wie beim letzten Mal, sondern ordentlich gekämmt, und auch sonst sieht der Nachbar heute irgendwie gepflegter aus. Sauberes Hemd, keine farbverschmierte Hose. Nicht schlecht!
»Frau Nachbarin! Welche Freude! Sie folgen meiner Einladung und bringen noch zwei weitere kleine Gäste mit?«
Nina, die offensichtlich gerade zum Angriff übergehen wollte, schaut verwirrt. »Kleine Gäste?«
»Na, der Hund und die Katze. Oder gehören die nicht zu Ihnen? Dann hat sich wohl schon auf der Straße rumgesprochen, dass hier gerade das Fest des Jahres steigt.« Er lächelt. Nein. Er grinst.
»Herr … Herr …«
»Alexander«, ergänzt der Hellhaarige.
»Ja. Alexander. Ihre Einladung habe ich tatsächlich aus dem Briefkasten gefischt, aber ich bin keinesfalls hier, um ihr zu folgen. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine anstrengende Arbeitswoche hinter mir und muss mich dringend erholen.«
Alexander grinst noch breiter. »Ja, Sie haben Recht. Ich als Student habe natürlich die ganze Woche im Bett gelegen – wenn ich Sie nicht gerade mit meiner Renovierung terrorisiert habe – und Kräfte für meine Party gesammelt. Aber da sehen Sie mal, was für ein ekstatisches Fest Sie verpassen würden, wenn Sie jetzt nicht reinkommen. Bitte!«
Falls das eine erneute Einladung war, geht Nina nicht darauf ein.
»Ich bin wirklich kein Kind von Traurigkeit, aber Ihre Musik ist so laut, dass ich unten nicht einmal meinen eigenen Fernseher verstehe. Bitte drehen Sie den Ton runter.«
»Damit eine schöne Frau wie Sie den Samstagabend vor dem Fernseher verbringt? Nein, das werde ich auf keinen Fall tun. Eher drehe ich den Ton noch lauter.«
»Wenn Sie das machen, rufe ich die Polizei. Mir reicht’s!«
Nina will sich umdrehen, da packt Alexander sie mit beiden Händen an den Schultern und zieht sie zu sich über die Schwelle in die Wohnung. Beck und ich hüpfen schleunigst hinterher, dann drückt Alexander die Tür wieder zu. Nina ist so überrumpelt, dass sie sich nicht wehrt.
»Hey, Simon, bring mir bitte mal zwei Gläser Sekt! Und zwar flott!«
Ich kann nicht sehen, wem Alexander das zugerufen hat, aber das Kommando funktioniert. Zwei Sekunden später drückt Alexander Nina ein Glas in die Hand.
»Auf gute Nachbarschaft. Schön, dass du da bist.«
Ogottogott! So behandelt niemand unsere Nina ungestraft. Der soll sich mal besser warm anziehen. In Erwartung des sicheren Donnerwetters drücke ich mich an die Wand des Flurs und mache mich ganz klein.
Doch es geschieht das Unglaubliche: Kratzbürste Nina kippt diesem Alexander das Glas nicht etwa über den Kopf, sondern leert es in einem Zug. Dann macht sie einen Schritt nach vorne – und küsst ihn!
Ich bin fassungslos. Wir sind noch keine zwei Minuten auf der Party, und schon küsst Nina einen Mann, den sie kaum kennt. Mittlerweile küsst der auch Nina. Also, will sagen, sie küssen sich. Und zwar sehr innig. Meine Güte, die Menschenkenntnis von Herrn Beck ist einfach vollkommen. Teufelskerl!
Jetzt lässt Nina Alexander wieder los und mustert ihn gründlich. »Ich heiße übrigens Nina.«
Der Typ grinst. Nein, diesmal lächelt er. »Ich weiß.«
Du hast was? Du hast deinen Nachbarn aufgerissen? Den Lauten von neulich? Auf seiner Einweihungsparty?« Carolin guckt genau so, wie ich gestern auf der Party geguckt hätte, wenn ich ein Mensch wäre. Nina kichert. »Warst du betrunken, oder was?«
»Nein, sogar ziemlich nüchtern. Apropos – wollen wir nicht von Kaffee auf Prosecco umsteigen? Mir ist gerade so danach.«
Caro nickt ergeben, und Nina winkt der Kellnerin. Die beiden sitzen wieder an ihrem Lieblingstisch im Violetta. Eigentlich wollte Caro mich nur ganz schnell einsammeln, aber nachdem Nina sie mit einem verschwörerischen ich muss dir unbedingt noch etwas erzählen geködert hatte, war ihr Widerstand sofort gebrochen.
»Also, du bist hoch, um dich zu beschweren, und dann?«
»Dann fiel mir auf, dass der Bursche ziemlich gut aussieht und ungefähr fünftausend Jahre vergangen sind, seit ich das letzte Mal Sex hatte.«
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