Longwood erkundigte sich nach mehreren Fällen, und Rafe berichtete, während beide wußten, daß der Chefchirurg keine Möglichkeit mehr hatte, das Wohlergehen der betreffenden Patienten aktiv zu beeinflussen. An Rafes Ohr drangen Restaurantgeräusche aus dem Hintergrund, leises Murmeln von Stimmen, das Klirren von Metall gegen Glas.
»Kann ich Elizabeth guten Abend sagen?« fragte Longwood, als Rafe mit seinem Bericht fertig war.
»Ist sie nicht mit Ihnen zusammen?«
»Heiliger Himmel, sollte ich sie treffen?«
»Zum Abendessen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann bemühte sich der alte Knabe angestrengt um eine Ausrede. »Diese verdammte Sekretärin! Das Mädchen hat meinen Terminkalender völlig durcheinandergebracht. Ich weiß nicht, wie ich das Elizabeth je erklären soll. Wollen Sie ihr meine aufrichtigste Entschuldigung übermitteln?« Die Verlegenheit in seiner Stimme war echt, aber es war noch mehr, und Rafe erkannte mit plötzlichem Widerwillen, daß es Mitgefühl war.
»Ja«, sagte Rafe.
Er hängte ein, holte das Sandwich und das Ingwerbier, setzte sich an das Fußende des Bettes seines Sohns, kaute, trank und schluckte und dachte an viele Dinge und beobachtete das regelmäßige, ruhige Heben und Senken von Miguels Brust beim Atmen. Die Ähnlichkeit des Kindes mit der Senora war in dem Zwielicht besonders stark.
Etwas später überließ er die Wohnung den jungen Verliebten und kehrte ins Krankenhaus zurück.
Früh am nächsten Morgen machten Dr. Kender und Lewis Chin Mrs. Bergstrom auf und entfernten das Stückchen verdorbene Fleisch, das einst Peggy Welds Niere gewesen war. Sie brauchten keinen Pathologiebericht, um zu wissen, daß das verwüstete Organ von Mrs. Bergstroms Körper zur Gänze abgestoßen worden war.
Nachher saßen sie alle im Aufenthaltsraum der Chirurgen und tranken bitteren Kaffee.
»Was jetzt?« fragte Harry Lee.
Kender zuckte die Achseln. »Das einzige, das uns bleibt, ist, es wieder mit der Niere einer Leiche zu versuchen.« »Man wird es Mrs. Bergstroms Schwester sagen müssen«, sagte Rafe.
»Ich habe es ihr bereits gesagt«, sagte Kender.
Als Rafe den Aufenthaltsraum verließ und in Peggy Welds Zimmer kam, traf er sie beim Packen an.
»Sie verlassen das Krankenhaus?«
Sie nickte. Ihre Augen waren rot, aber ruhig. »Dr. Kender sagte, ich brauchte nicht länger zu bleiben.«
»Wohin gehen Sie?«
»Nur nach Lexington. Ich werde Boston erst verlassen, bis meine Schwester diese Sache hinter sich gebracht hat. So oder so.«
»Ich möchte Sie gern irgendwann einmal am Abend sehen«, sagte er.
»Sie sind verheiratet.«
»Wieso wissen Sie das?«
»Ich habe gefragt.«
Er schwieg.
Sie lächelte. »Sie versteht Sie vermutlich nicht.«
»Ich verstehe sie nicht.«
»Nun, das ist nicht mein Problem.«
»Nein.« Er sah sie an. »Tun Sie mir einen Gefallen?«
Sie wartete.
»Verwenden Sie weniger Make-up. Sie sind sehr anziehend. Es tut mir leid wegen der Niere. Es tut mir leid, wenn ich es war, der Sie dazu überredet hat, sie zu spenden.«
»Mir auch«, sagte sie. »Aber es täte mir nicht leid, wenn sie nicht abgestoßen worden wäre. Daher brauchen Sie sich nicht länger schuldig zu fühlen, weil ich meine Entscheidungen selbst treffe. Auch über mein Make-up.«
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Dinge ganz gut zurechtgelegt.« Sie tätschelte seine Hand und lächelte. »Doktor, eine Frau, die nur eine Niere hat, kann es sich nicht leisten, nach jedem Mann zu greifen, der mit ihr herumspielen will.«
»Ich will nicht herumspielen«, sagte er nicht überzeugend. »Ich möchte Sie kennenlernen.«
»Wir haben nichts gemeinsam.« Der Koffer schnappte mit einem harten, entscheidenden Knacken zu.
Er ging in sein Büro und rief Liz an.
»Wie schade, daß ich dich gestern abend verfehlt habe«, sagte sie.
»Hast du das Abendessen genossen?«
»Ja, aber es war zu dumm. Ich habe die Verabredungen verwechselt. Ich war gar nicht mit Onkel Harland zum Abendessen verabredet.«
»Ich weiß«, sagte er. »Was hast du unternommen?«
»Ich rief schließlich Edna Brewster an. Zum Glück mußte Bill bis spät abends arbeiten, daher aßen wir beide bei Charles und saßen dann in ihrer Wohnung herum und haben den neuesten Klatsch ausgetauscht. Kommst du nach Hause?«
»Ja«, sagte er.
»Ich sage es Miguel.«
Er räumte seinen Schreibtisch auf, schloß die Tür und zog sich um. Dann setzte er sich und suchte Edna Brew-sters Nummer im Telephonbuch.
Sie war Liz' Freundin, nicht seine, und sie war verblüfft, aber erfreut, von ihm zu hören.
»Ich habe versucht, mir zu Weihnachten für Liz etwas
Besonderes auszudenken«, sagte er. »Ihr Mädchen habt ja alles.«
Sie stöhnte. »Ich bin die Ungeeignetste, zu der man um Geschenkvorschläge kommen könnte.«
»Keine Vorschläge. Halten Sie nur Ihre Ohren offen, wenn Sie mit ihr beisammen sind. Versuchen Sie herauszufinden, ob es etwas gibt, das sie wirklich gern hätte.«
Sie versprach getreulich zu spionieren, und er dankte ihr. »Wann sehen wir Sie beide einmal? Liz sagte erst unlängst, sie hätte Sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
»Seit Monaten. Ist das nicht schrecklich?« sagte sie. »Anscheinend hat man nie Zeit, die Leute zu sehen, die man wirklich sehen möchte. Spielen wir doch einmal eine Partie Bridge! Sagen Sie Liz, daß ich sie anrufe.« Sie kicherte. »Wenn ich es mir genauer überlege, sagen Sie ihr lieber nicht, daß wir miteinander gesprochen haben. Es bleibt unser Geheimnis. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte er.
11
ADAM SILVERSTONE
Adam schrieb es seiner Wut auf Meomartino zu, ihn aus dem Bett getrieben zu haben, aber er kehrte aus dem Gleichgewicht gebracht und brütend in den Dienst zurück, dachte in den unwahrscheinlichsten Momenten an Gaby Pender, wie sie rein und unbefleckt, mit geschlossenen Augen, in der Sonne geruht hatte, an ihre vollkommene, eindringliche kleine Gestalt, an ihr scheues, gebrochenes Lachen, als sei sie nicht sicher, ob sie ein Recht darauf habe.
Er versuchte sie aus seinen Gedanken zu verdrängen, indem er an alles mögliche dachte.
Dr. Longwood unterrichtete ihn von der bevorstehenden Postenbesetzung an der Chirurgischen Fakultät, und er verstand plötzlich, was in Meomartino vorgegangen war. Er erzählte Spurgeon davon, als sie in seinem Zimmer saßen und Bier tranken, das sie im Schnee auf dem Fensterbrett kühlten.
»Ich werde diesen Job festnageln«, sagte Adam. »Meomartino wird ihn nicht bekommen.« Seine Finger umklammerten eine leere Bierdose so fest, daß er sie zusammendrückte.
»Nicht nur, weil du ihn nicht magst«, sagte Spurgeon. »So unsympathisch kann dir niemand sein.«
»Stimmt zum Teil. Ich will den Posten wirklich haben.«
»Weil er in das Plansoll Silverstones paßt?«
Adam lächelte und nickte.
»Die Prestigestellung, die geradewegs zu einer anderen führt, die dicke Gelder einbringt?«
»Jetzt hast du's erraten.«
»Du betrügst doch nur dich selbst, Freundchen. Weißt du, was das Plansoll Silverstones in Wirklichkeit ist?«
»Was denn?« fragte Adam.
»Scheißdreck und Kuhmist.«
Adam lächelte nur.
Spurgeon schüttelte den Kopf. »Mensch, du glaubst, du hättest dir alles fein ausgerechnet, nicht?«
»Alles, woran ich nur denken kann«, sagte Adam.
Unter anderem hatte er sich ausgerechnet, daß Spurge-ons Episode mit dem Zahnfortsatz ein Zeichen dafür war, daß der Spitalsarzt mehr über Anatomie wissen mußte. Als er ihm das Angebot machte, mit ihm zu arbeiten, nahm es Spurgeon voll Eifer an, und Dr. Sack erlaubte ihnen, im Pathologielabor der Medizinischen Schule zu sezieren. Sie arbeiteten dort mehrmals in der Woche, Spurgeon lernte schnell, und Adam machte die Lehrtätigkeit Spaß.
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