»Es gibt ein, zwei Leute.« Longwood holte ein Zigarrenetui aus einer Innentasche, öffnete es, bot Rafe eine an, der jedoch ablehnte. Dr. Longwood beschnitt die Zigarre und beugte sich vor, als Rafe das Feuerzeug aufschnappen ließ, dann nickte er dankend, während er an ihr sog. »Sie sind finanziell unabhängig. Sie brauchen kein großes Anfangsgehalt. Stimmt das?«
Rafe nickte.
»Haben Sie je an eine wissenschaftliche Laufbahn gedacht?«
»Nein.«
»Wir werden im September einen Dozenten für Chirurgie einstellen.«
»Bieten Sie mir die Ernennung an?«
»Nein«, sagte Dr. Longwood vorsichtig. »Wir werden noch mit einigen anderen Leuten sprechen. Ich glaube, Ihr einziger Konkurrent könnte Adam Silverstone sein.«
»Ein guter Mann«, sagte Meomartino zögernd.
»Man hält ihn für gut, aber das sind Sie auch. Wenn Sie auf die Stelle reflektieren, würde ich mich natürlich für Sie verwenden. Dennoch glaube ich, daß Sie dank Ihrer Verdienste eine vortreffliche Chance haben.«
Rafe merkte leicht amüsiert, daß ihm der Alte mit dem gleichen Mangel an Begeisterung Lob zollte, mit dem er von Adams Verdiensten gesprochen hatte.
»Eine Dozentur bedeutet Forschung«, sagte er. »Silver-stone hat mit Kenders Hunden gearbeitet. Ich weiß längst, daß ich kein Forscher bin.«
»Sie muß nicht unbedingt Forschung bedeuten. In der Jagd nach Zuschüssen und Laborgebäuden haben die Medizinischen Schulen den Grund für ihre Existenz aus den Augen verloren - die Studenten -, und wir beginnen das allmählich zu erkennen. Gute Lehrer werden immer wichtiger, denn der Unterricht wird immer schwieriger.«
»Jedenfalls ist da noch mein Militärdienst«, sagte Rafe.
»Wir suchen für Dozenten um Aufschub an«, sagte Dr. Longwood. »Man kann ihn jährlich erneuern.«
Seine Augen verrieten nichts, aber Rafe hatte das unbehagliche Gefühl, daß Longwood jetzt innerlich lächelte.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte er.
In den nächsten zwei Tagen versuchte er sich einzureden, es bestehe eine Möglichkeit, sich nicht um die Stellung zu bewerben.
Dann kam der Vormittag mit der Exituskonferenz, und er saß benommen und voll Scham da, während Longwood Spurgeon Robinson an die Wand der Bibliothek nagelte, obwohl er wußte, daß er die Wucht des Angriffs - die Kreuzigung - mit der Feststellung mildern konnte, daß ihn der Spitalsarzt angerufen hatte, bevor er die Frau aus dem Krankenhaus entließ.
Es hätte nur eines einfachen erklärenden Satzes bedurft.
Nachher versuchte er sich mit wenig Erfolg zu überzeugen, daß er ihn nicht ausgesprochen hatte, da er den kranken Dr. Longwood schonen und die Sitzung so schnell wie möglich beenden wollte.
Aber er war sich bewußt, daß sein Schweigen der erste Schritt zu seiner Kandidatur gewesen war.
Am Abend traf er auf seinem Weg zum Speisesaal Adam Silverstone, der eben aus dem Lift trat.
»Ich sehe, daß Sie das Krankenbett verlassen haben«, sagte er. »Fühlen Sie sich besser?«
»Ich habe es überlebt.«
»Vielleicht sollten Sie sich etwas länger ausruhen. Diese Viren können gemein sein.«
»Hören Sie. Sie haben heute morgen Spurgeon Robinson in Stich gelassen.«
Meomartino starrte ihn an, sagte jedoch nichts.
»Er leidet mehr als andere an dieser Quälerei«, sagte Silverstone.
»Von jetzt ab heißt es: was Sie ihm antun, tun Sie mir an.«
»Sehr heroisch von Ihnen«, sagte Meomartino ruhig.
»Ich bin für solche Situationen gewappnet, verstanden?«
»Ich werde es mir vormerken.«
»Aug um Aug, Zahn um Zahn«, sagte Adam. Er nickte und ging weiter zum Speisesaal.
Rafe folgte ihm nicht. Statt Hunger erfüllte ihn jene kalte, dunkle Angst, die er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Er brauchte die Aufmunterung seiner Familie, dachte er; vielleicht würde Liz' Reaktion auf die Neuigkeit, daß er sich um den Lehrauftrag bemühen würde, etwas davon verjagen.
Er rief Harry Lee an und bat ihn, für ihn einzuspringen, während er zum Essen nach Hause fuhr.
Es war eine noch nie dagewesene Bitte, und dem Facharztanwärter gelang es nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen, als er zustimmte. Ich sollte das öfter tun, dachte Rafe. Der Junge wird mit der Zeit seinen eigenen Vater nicht mehr erkennen.
Die Stoßzeit war lange vorbei, und der Verkehr auf der Schnellstraße floß ruhig dahin. Rafe umfuhr die Innenstadt, bog dann in die Seitengasse der Charles Street ein und parkte so, daß der Wagen fast den Verkehr in der engen Gasse blockierte. Seine Armbanduhr zeigte sieben Uhr zweiundvierzig, als er die Treppe hochstieg. Zeit genug, dachte er, um schnell ein belegtes Brot zu essen, den Jungen zu küssen, seine Frau zweimal an sich zu drücken und zum Krankenhaus zurückzufahren, ohne dort auch nur vermißt worden zu sein.
»Liz?« rief er, als er mit einem Schlüssel aufsperrte.
»Sie ist nicht zu Hause.« Es war das Babysittermädchen, an deren Namen er sich nie erinnern konnte, und ein Junge, der neben ihr auf der Couch saß. Beide waren leicht zerzaust und offenkundig beim Schmusen unterbrochen worden.
»Wo ist sie?«
»Sie sagte, falls Sie anriefen, solle ich Ihnen sagen, daß sie sich mit ihrem Onkel zum Abendessen trifft.«
»Dr. Longwood?«
»Ja.«
»Wann?«
»Das sagte sie nicht.« Das Mädchen stand auf. »Ah, Herr Doktor, darf ich Ihnen meinen Freund Paul vorstellen.«
Rafe nickte und fragte sich, ob es wohl im Interesse seines Sohnes lag, daß sie beim Kinderhüten Gesellschaft hatte. Vielleicht gedachte der Junge wegzugehen, bevor Liz und ihr Onkel heimkamen. »Wo ist Miguel?«
»Im Bett. Er ist gerade eingeschlafen.«
Rafe ging in die Küche, zog sein Jackett aus, hängte es über den Stuhl und fühlte sich in seiner eigenen Wohnung wie ein Eindringling, als das Gespräch im Wohnzimmer zu einer Reihe kurzer geflüsterter Sätze und einem gelegentlichen unterdrückten Kichern wurde.
Brot war da, etwas altbacken, und Reste von Schinken und Käse. Und eine Beefeater-Flasche, halbvoll, mit Martini, die sie, sicher vor seiner programmgemäßen Rückkehr aus dem Krankenhaus am nächsten Morgen aus dem Eisschrank genommen hätte.
Er machte sich das Sandwich, öffnete eine kleine Flasche Ingwerbier, trug alles durch das Wohnzimmer in das Schlafzimmer seines Sohns und schloß die Tür vor den neugierigen Augen der beiden jungen Leute auf der Couch.
Miguel schlief mit einer ausgestopften orangefarbenen Schlange namens Irving quer über dem Gesicht, das Kissen lag auf dem Fußboden. Rafe stellte Sandwich und Ge-tränk auf dem Schreibtisch ab, hob das Kissen auf und starrte seinen Sohn im Schein des trüben Nachtlichts an. Sollte er das ausgestopfte Tier wegnehmen? Er wußte sehr gut, daß keine Erstickungsgefahr bestand, rückte es aber doch weg, es gab ihm die Möglichkeit, das kleine Gesicht zu betrachten. Miguel bewegte sich, wurde jedoch nicht wach. Der Junge hatte dunkles, strähniges Haar, schon im Alter von zweieinhalb Jahren im Beatlestil geschnitten, hinten lang, über der Stirn in Fransen; Liz mochte es so, Rafe gefiel es überhaupt nicht. Liz' Onkel haßte den Haarschnitt sogar noch mehr, als er den »ausländisch« klingenden Namen des Jungen ablehnte, den er durch das annehmbarere »Mike« ersetzte. Miguel hatte männliche, sogar häßliche abstehende Ohren, die seine Mutter unglücklich machten. Sonst war er schön, zäh und drahtig, mit der hellen Haut seiner Mutter und den warmblütigen zarten Zügen seiner Großmutter väterlicherseits. Der Senora Mamacita.
Das Telephon klingelte.
Er erreichte es vor dem Mädchen und erkannte Longwoods kultivierte Aussprache, die eine Nennung des Namens überflüssig machte.
»Ich dachte, Sie haben heute abend Dienst in der Abteilung.«
»Ich bin zum Essen heimgefahren.«
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